Homo Giganticus und die Fragilität der Welt

Wir sind aus Italien zurück, einen Tag später als geplant wegen des Streiks der Eisenbahner. Ich bin froh, dass wenigstens die Reise geklappt hat und die Kontrolleure uns mit dem alten Billet durchgewinkt haben. Dennoch standen wir zwei Stunden auf der Strecke und wussten nicht, wann es weitergeht. Auf der Fahrt nach Norden wurde das Wetter unfreundlich. Der Wetterdienst warnte vor «extremer Kälte». Wir hörten von einem Busunglück auf einer Strecke, die auch von unseren Kindern befahren wird.

Die Welt ist fragiler geworden
Zuhause erwartete uns die Nachricht, dass der invasive Japankäfer sich um den Flughafen weiter ausbreitet und dass die Vogelgrippe auf Kühe übergegriffen hat, von wo sie auf einen Menschen übersprang. Die Welt ist fragiler geworden, so scheint es. Alles hängt mit allem zusammen, alles hängt von allem ab. Eine kleine Störung pflanzt sich über weite Strecken fort. Beim Klima sind wir uns die globalen Ströme gewohnt, die unser Wetter hier beeinflussen (gestern gab es bei uns wieder Saharastaub). Jetzt ist auch das politische Klima «volatil» geworden, wie die Börse. Man liest und hört in den Nachrichten von Israel und Palästina – es ist ein ganzes Subsystem von interdependenten Akteuren, die höchst nervös aufeinander reagieren. Und Russland und die Ukraine rufen sich auch immer wieder in Erinnerung, mit Bomben und Zerstörungen. Hier begegnen sich geopolitische Player, da wird das ganz grosse Schach gespielt.

Geopolitik
Eben noch hörte ich eine Sendung über die Teilung Polens. Ende des 18. Jh. kamen die Ukraine und Weissrussland vom alten polnisch-litauischen Reich an Russland. In den beiden Weltkriegen wurden die Grenzen zwischen West und Ost weiter verschoben, Länder wurden kreiert und ausradiert und neue Staaten aus der Taufe gehoben. Jetzt stehen sich West und Ost in der Ukraine gegenüber, die alten Pufferstaaten, die die Einflussgebiete trennten, gibt es nicht mehr. Der «Cordon Sanitaire» kleiner Mittelstaaten ist verschwunden, wenn der Ukraine nicht diese Rolle zugedacht ist (es wird von einer Neutralisierung gesprochen). Wenn sie der EU und der Nato beitritt, stehen sich die Blöcke nahtlos gegenüber, die Grenze ist zu einer Idee geschrumpft.

Wie lässt sich das verteidigen? Da ist nichts mehr, was die Gegner trennt. Man könnte die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) aus der Zeit des Kalten Kriegs wiederbeleben und die Regeln gegen eine unbeabsichtigte Eskalation. Vielleicht kann man die Pufferleistung geographischer Trennung auch durch elektronische Systeme ersetzen? Diese sind vielleicht auch eher in der Lage, eine Antwort in der geforderten Geschwindigkeit zu geben. Die Entscheidung über Krieg und Frieden würde dann eine Maschine übernehmen.

Kontrollverlust
Die Beispiele zeigen die Kehrseite des zunehmenden Kontrollverlusts und was wir aufbieten müssen, um diesen aufzufangen. Da ist ein Staat, der aufgebläht wird wie ein Popanz, eine Ordnung, die in alles eingreift und die Spielräume immer mehr ausradiert, eine Maschine, die eingreift, bevor Menschen auch nur etwas mitbekommen haben.

Eine global gewordene Dynamik lässt sich nicht steuern, jedenfalls, wenn sie die heutige Breite und Geschwindigkeit erreicht hat. Es gibt niemanden, der das kontrollieren könnte und kein Verfahren, mit dem es sich lenken liesse. Die Aufgaben wachsen exponentiell, so wird der Mensch, das System, die Menschheit, das ideale Subjekt, das hier noch die Oberhand behalten könnte, immer grösser, bis uns ein gigantisches Wesen aus dem Spiegel anblickt, von dem wir nur noch mythologisch reden können.

Homo Giganticus
Eine mythologische Rede kennt die Religion. Sie hat eine alte Tradition, damit umzugehen, sie spricht von Schöpfung und Vollendung, sie kennt eine Enderzählung, die den Schrecken aufnimmt und die Hoffnung. Aber das wird als Mythos abgetan, dem keine empirische Realität zukommt. Diese Ablehnung mythologischen Redens kontrastiert seltsam zu den neuen Mythen, die jetzt entstehen, wenn die Stelle besetzt werden soll, die all dem noch gewachsen ist, was an Infragestellungen auf uns zukommt und uns immer häufiger über den Kopf wächst.

Das Beispiel des Klimas zeigt, dass die Menschheit sich mit ihren Eingriffen in die vorgegebene Ordnung eine Aufgabe eingehandelt hat, der sie nicht gewachsen ist. Wenn die Zusammensetzung der Atmosphäre jetzt durch Geo-Engineering kontrolliert werden soll, so ist ein Übermensch nötig, der das handhaben kann, eine Art Homo Faber Giganticus. (Es gab in Vorzeiten der Gattungsgeschichte zwar schon riesenhafte Vormenschen, aber der neue Übermensch müsste wesentlich grösser sein als der fossile Vormensch «Gigantopithecus», den es wirklich mal gab. Nietzsches «Übermensch» kommt ihm vielleicht näher, als Projektion eines Wesens, das die heutige Menschheit fortführt und all dem gewachsen wäre, was auf es zukommt. Hier schliessen sich die populären «Superman»-Gestalten an, die jetzt wieder die Welt retten.)

Von Ostern her
Das kontrastiert zur Ostererfahrung, die wie ein kulturelles Gegenmodell nicht die Sicherheit sucht, sondern Vertrauen. Sie will nicht alles unter Kontrolle halten, um die Daseinsangst zu bewältigen. An Ostern wird erfahren, dass man sich hingeben darf, weil begriffen wird, dass die Vorleistungen der Gnade unendlich grösser sind als alles, was wir tun und leisten können. Unser Leben stammt nicht aus uns und unserem Tun, es ist nicht gedeckt von unserem Wissen und Können, es ist bedroht, wenn wir es allein aus unserer Machtvollkommenheit gestalten wollen.

Eine Kultur des Vertrauens
Es braucht eine Kultur des Sich-Einpassens in die Gnade, in den Geschenk-Charakter des Lebens, und das ist Dankbarkeit, das ist Hingabe, das ist Vertrauen. Das wirkt auf die Menschen zurück, die vertrauen und sich hingeben, und es wirkt hinaus auf andere Menschen, es erzeugt eine andere Dynamik als die Dynamik des Tuns und Machens, der Kontrolle und des sich nur sich selbst verdanken Wollens. Der drohende Kontrollverlust lässt sich nicht durch immer grössere Anhäufung von Macht aufheben. Die Antwort ist eine Kultur des Vertrauens. Die haben wir noch nicht, aber sie kann mit jedem Schritt ein Stück entstehen.

(Was eine Eskalation der Ost-West-Spannungen im Kalten Krieg verhinderte, waren u.a. vertrauensbildende Massnahmen. Vertrauen, ob es verletzt oder aufgebaut wird, kann auch in der Sicherheitspolitik eine grosse Rolle spielen.)

Illustration: Gigantopithecus und Homo sapiens, aus Wikipedia
Beachten Sie den Beitrag «Ostern ohne weil» und „Quasimodo