Blick auf die andere Seite

In der Karwoche ist alles dicht gedrängt. Ein ungeheuer dramatisches Geschehen rollt vor unseren Augen ab. In der Mitte steht der Satz: „Sieh da, der Mensch!“ So sagt Pilatus, als er Christus dem Volk präsentiert. „Sieh da, der Mensch!“ – Es ist tatsächlich nichts weniger als eine Auslegung dessen, was der Mensch ist, was sein Leben ausmacht, in seinen hellen und in seinen dunklen Seiten.

Ecce Homo
Hier werden die grossen Fragen des Lebens gestellt: Wer sind wir Menschen, die so viel Grosses erreichen können? Wir möchten so viel erreichen im persönlichen Leben. Was wird, wenn unsere Pläne durchkreuzt werden?

„Sieh da, der Mensch!“ sagt Pilatus. – Christus steht da, ein leidender Mensch. Ist bei ihm die Antwort?

«Ich bin der Mensch, der Elend sehen muss. Meine Haut ist alt geworden und mein Gebein zerschlagen. Umzingelt hat Er mich und mit Mühsal umstellt. Ich bin ein Hohn für die Leute und ihr Spott. Mit Bitterkeit hat Er mich gesättigt und mit Wermut getränkt. Er lässt mich auf Stein beissen, in den Staub drückt er mich nieder. Aus dem Frieden bin ich vertrieben; ich habe das Gute vergessen.» (Klagelied 3, 1f)

Warum versenken sich Menschen in die Betrachtung der Passion? Da ist von Dingen die Rede, denen man sonst eher aus dem Weg geht. Da ist für einmal ausgesprochen, was sonst nie zur Sprache kommen darf. Es ist eine stille Übereinkunft in der Gesellschaft, dass immer nur von Erfolgen gesprochen wird und wie das Leben Spass macht. Aber es hat auch eine Kostenseite. Es gibt Dinge, die nicht hineinpassen. Von ihnen spricht man nicht.

Diese Sorge um das Aussehen, diese Angst, wie es nach aussen wirkt – hier in der Passion ist das kein Thema. Hier wird radikal auf die andere Seite geschaut. Und so schlimm es auch ist – es ist auch ein gutes Gefühl dabei: Endlich darf die Wahrheit stattfinden. Endlich findet man als ganzer Mensch Platz in der Wirklichkeit, wie sie dargestellt wird. Und man darf sich strecken und aufrichten.

Was man sich immer einredet: dass man erfolgreich ist und sein Leben gut eingerichtet hat, das wird als Fassade sichtbar. Es ist nicht falsch, aber es ist nicht die ganze Wahrheit. Wir sind „unseres Glückes Schmid“ – ja, aber nicht immer und überall. Das macht etwas aus von der Befriedigung, die man beim Betrachten der Passion erlebt: Es ist das Gefühl von Wahrheit. Da wird nicht nur eine Seite gemalt, sondern die ganze Wahrheit.

Die ganze Wahrheit. – Es gibt auch vieles, was Angst macht. Manche Leute in Beruf und Stellung fürchten sich vor der Arbeitslosigkeit. Es geschieht manchmal schnell: Da verliert einer die Stelle, er kann die Wohnung nicht mehr zahlen. Er muss umziehen. Die Familie fällt auseinander. Auch bei Menschen, die scheinbar fest in die Gesellschaft eingebunden sind, finden sich solche Ängste.

Denn Misserfolge haben alle schon erlebt. Dass Beziehungen auseinander gehen, das ist den meisten schmerzhaft bekannt. Gerade Menschen, die alles haben, fürchten oft, alles zu verlieren. Es macht Angst, da hinzusehen. Darum ist auch eine Faszination dabei. Was uns schreckt, zieht uns immer auch an. Was Angst macht, hat auch die Macht, dass es Angst beruhigen kann.

Die Passion – das ist die Geschichte von einem, der gefallen ist. Und er hat nicht nur etwas verloren, nicht nur die Stelle, den Ruf, das Haus, die Ehre – er hat alles verloren. Er ist einer, der buchstäblich „unten durch“ musste. Da ist alles „aus und fertig“, was man selber vorschützen kann.

Unten durch
Und man kann hinsehen. Es ist nicht nur ein Angstgebilde, nicht nur das Undenkbare, das einen schreckt wie die letzte Möglichkeit des Lebens und dann ist alles aus. Hier hat es jemand wirklich erlebt, hier kann man hinsehen – und man kann seine Angst beruhigen: Es findet sich doch ein Weg.

Das ist eine weitere Befriedigung, die Menschen finden, wenn sie die Passion betrachten: Einer ist hindurchgegangen, durch all das, was die Angst des Lebens ausmacht, und er hat einen Weg gefunden. Es gibt einen Weg.

Es gibt einen anderen Weg, als man ihn bisher gegangen ist. Nicht nur den Slalom-Weg zwischen den Ängsten und Bedenken hindurch. Einen geraderen Weg. Man lernt über Angst und Scham hinaus zu denken, über das Undenkbare hinauszugehen, das einen im Leben immer wieder schreckt und gefangen hält.

Das Leben ist mehr als Erfolg und Dazugehören. Es ist mehr als Misserfolg und Untergehen. Das Leben ist ein Land, von dem man sehr wenig weiss, wenn man in den Begriff von Erfolg und Karriere denkt.

Wer die Passion betrachtet, wird gefangen genommen. Da ist ein anderes Bild vom Leben. Ein Leben, wie es auch sein kann. Da muss man sich nichts zurecht legen. Da darf man sich allem stellen, was es gibt.

Da darf man allem entgegen gehen, was einem begegnet im Leben. Er hat es vorgemacht, der, der durch die Passion hindurch gegangen ist. Und anstelle der Angst beginnt ein anders Gefühl Platz zu greifen: Vertrauen.

Das Leben ist gross, alles hat darin Platz. Auch das, was nicht sein darf. Und es ist umfangen und getragen. Es ist ein grosses «Ja» im Leben.

Seltsam, dass man es gerade in der Passion entdeckt. In der Passion scheint alles «Nein» zu sagen. Aber da ist ein Grund, der trägt, gerade auch dann, wenn alles nein sagt. Das Ja ist grösser als das Nein.

«Das Wasser ging mir über den Kopf; Ich sagte: Ich bin verloren.
Da rief ich Deinen Namen, Herr, tief unten aus der Grube.
Du hörst meine Stimme.

Du hast meine Sache geführt, hast mein Leben erlöst.
Deine Gnade ist nicht erschöpft, dein Erbarmen ist nicht zu Ende.
Neu ist es an jedem Morgen; gross ist deine Treue.»

 

Aus Notizen 2008
Bild Ecce Homo von Lovis Corinth, Kunstmuseum Basel