Du bist schön!

„Du bist schön, spricht der Herr, du bist schön!“ Eine alte Frau geht vor mir auf dem Weg. Viele ihrer alten Nachbarn und Bekannten von früher sind gestorben. Es sind wenige geworden, mit denen sie noch Kontakt hat.

„Du bist schön, spricht der Herr, du bist schön!“ Er ist 70 Jahre alt geworden, „mongoloid“ wie man früher sagte. Er hat nie was zur „Wertschöpfung“ beigetragen. Er lebte in der Familie seiner Tante, und als diese starb, bei seinem Bruder. Als dieser starb sorgte die Schwägerin für ihn. Es war nie leicht, immer für ihn da zu sein. Aber alle vermissen ihn, seitdem er gestorben ist.

„Du bist schön, spricht der Herr, du bist schön!“ Der alte Mann musste aus der Wohnung raus, als das Haus umgebaut wurde. Er lebt in einer Pflegeinstitution. Er ist etwas wunderlich, nicht immer leicht zu haben. Er hat Stil im Auftreten, er ist immer noch der „Meister“. Früher hat er einen Hof gehabt.

„Du bist schön, spricht der Herr, du bist schön!“ Das kleine Mädchen entwickelt sich nur langsam. Mit zwei kann es noch nicht laufen, es redet nicht. Die Ärzte wissen nicht, was es ist. Die Eltern haben nachher noch ein Kind bekommen, es ist gesund. Aber das kleine Mädchen gehört zur Familie. Niemand gäbe sie her.

„Du bist schön, spricht der Herr, du bist schön!“ Der Mann war noch nicht 60, als er MS bekam. Er wurde frühpensioniert. Seine Frau trennte sich von ihm. Er hat viel geflucht in dieser Zeit. Dass er gestorben ist – man kann es medizinisch erklären, aber es ist unbegreiflich. Er fehlt.

„Du bist schön.“ Unsere Zeit hat wenig Sinn für solche Schönheit. Da zählt, was sich verkaufen kann. Einmal, auf einer Reise, musste ich an einem Bahnhof warten. Um mir die Zeit zu vertreiben, sass ich in ein Strassencafé und schaute dem Treiben zu. Wie alle, hatte ich erst ein Ideal im Kopf. Und die Menschen, die vorbeikamen, entsprachen nicht dem Ideal. Sie sahen verbittert aus oder hatten eine schlechte Haltung.
„Was mache ich da?“ fragte ich mich. Ich suchte einen Zugang zu den Menschen. Und ich stellte mir zu jedem Passanten eine Geschichte vor: „Das ist sicher ein guter Nachbar, er holt für die alte Frau im oberen Stock die Zeitung.“ Es war gezwungen. Es war noch nicht die richtige Art, Menschen anzusehen, wenn sie vorbeigehen.

Als eine Zeit vergangen war und ich nicht weiter daran dachte, geschah es, dass ich die Leute ansah wie beim Abendmahl, bei der Eucharistie in der Kirche. Da ziehen sie auch so vorbei. Jetzt musste ich sie nicht mehr beurteilen. Ich durfte alle sein lassen. Alle gehen ihren Weg, alle sind „Volk Gottes“.

Es ist nicht die Wirtschaft, die über unsern Wert urteilt, nicht das Ideal, das entscheidet. Da ist einer, der sagt: „Du bist schön! Und du bist teuer in meinen Augen und wertgeachtet, ich habe dich lieb!“