Religion und Gewalt

Das gesellschaftlich-kulturelle Klima gegenüber Kirche und Religion hat sich in den letzten Jahren völlig verändert. Schon früher gab es Vorwürfe gegen die Religion, damals konnte man es aber abwehren. Man brauchte sich nicht darum zu kümmern in der Gewissheit, im Glauben ginge es um den Weg zum richtigen Leben. Religion bei uns war apolitisch.

Kritik an Religion und Kirche
Dem Vorwurf, Religionen führten zu Krieg, alle Kriege seien Religionskriege, konnte man mit dem Hinweis begegnen, Religionen seien friedensstiftend, sie würden aber immer wieder instrumentalisiert. In einem Konflikt werde alles beigezogen, was Einfluss habe. Vorwürfe zum historischen Versagen der Kirche in Mission und Kolonialismus; bei Hexen- und Ketzerverbrennung; in der Kooperation mit Nazis oder im Stillschweigen zur Shoa waren diskutiert, der Papst und andere Kirchenführer hatten ein Schuldbekenntnis abgelegt. Auch die „Kriminalgeschichte des Christentums“ von Karlheinz Deschner beschäftigte nur wenige.

Das Klima ändert sich
Dann änderte das Klima: Ein religiös legitimierter Terror bestimmte mehr und mehr die Nachrichten – und das schon vor dem Islamismus und den Anschlägen von „9/11“. Durch die „Monotheismus-These“ wurde der Vorwurf auf alle Religionen ausgedehnt: Der Monotheismus sei in sich gewalttätig und intolerant und müsse alles Abweichende bekämpfen. Auch die Kirchen-Angehörigen im eigenen Land waren nicht so friedfertig, wie es schien. Das zeigten die Missbrauchs-Vorfälle, die im Jahr 2010 bekannt wurden, in vielen pädagogischen, aber auch kirchlichen Institutionen. Das erzeugte ein Klima gegen die Kirche mit Massenaustritten, und gegen die Religion überhaupt.

Dazu kam die Integrations- und Zuwanderer-Debatte, wobei die Anti-Minarett-Initiative, die Burka-Debatte, die Beschneidungs-Debatte etc. sich gegen Muslime richteten. Sie thematisierten aber auch die „Rückständigkeit“, Verachtung der Frauen, Ablehnung der Menschenrechte von religiösen Fundamentalisten oder traditionellen muslimischen Kulturen.

Fundamentalisten gab es auch in den USA und an anderen Orten. In liberalen Kreisen war der Einfluss der Evangelikalen auf die US-Aussenpolitik ein Thema. Mit Schaudern registrierte man die apokalyptische Nomenklatur in der Aussen- und Sicherheitspolitik („Achse des Bösen“, «Schurkenstaaten»). In der Nahostpolitik wurde die Haltung der Evangelikalen bemerkbar, die die Gründung Israels als Zeichen des heranbrechenden messianischen Zeitalters und der Heraufkunft der Endzeit sehen.

Kulturkampf
Im Zusammenhang mit der islamischen Abwehr der Moderne erinnerte man sich wieder an den Kulturkampf der katholischen Kirche im 19. Jh. und die Total-Abwehr der liberalen Moderne. Auch die neuen konservativen Strömungen erinnerten an solche Positionen. Konservativ-katholische Bewegungen bekämpfen die staats-kirchenrechtliche Strukturen in der Schweiz und wecken Fragen bez. der Verfassungstreue der Kirche.

Durch die Säkularisierung schien die Moderne mit dem „mittelalterlichen Aberglauben“ der Kirchen und Religionen aufgeräumt zu haben. Die Tabu-Verletzungen im Namen der liberalen Politik z.B. für die Abtreibung, für die Gleichstellung der Homosexuellen, für Gentechnologie, für Suizid-Beihilfe etc. führten seit den 70er Jahren aber zu einer Werte-Politik und zu einer Politisierung von konservativen Kirchenkreisen, die vorher apolitisch gewesen waren. Das veränderte das Klima und führte auch im „Westen“ zu vermehrten Gewalttaten im Namen der Religion (z.B. Attentate auf Abtreibungskliniken).

Das religiöse Interesse abgeblockt
Obwohl die Soziologen in den vergangenen Jahren eine neue religiöse Welle aufkommen sahen (Paul M. Zulehner sprach 2003 von einem „Megatrend zur Respiritualisierung“), konnten die Kirchen nicht davon profitieren. Das neue religiöse Interesse ging an der institutionellen Kirche vorbei, auch weil solche Vorfälle das „Image“ der Kirche beschädigt hatten. Es kam im Gegenteil zu einer neuen Atheismus-Debatte.

Religions-Kritik schien der einzige Weg, um sich die im religiösen Umfeld ungeheuer gesteigerte Gewaltbereitschaft (mit Selbstmord-Attentaten und Selbstverbrennungen) vom Leibe zu halten. So wurde gar nicht mehr zur Kenntnis genommen, dass es auch eine innerreligiöse, innertheologische, innerbiblische Gewaltkritik gibt. Nicht nur Religions- und Kirchenführer haben sich von Gewaltanwendung losgesagt, schon die „heiligen Bücher“ pflegen einen reflektierten Umgang mit ihrer eigenen Geschichte.

Innerreligiöse Kritik
Es ist wichtig, diese eigenen kritischen Stimmen hörbar zu machen. Kirchen-Angehörige werden verunsichert. (In einzelnen Ländern führten die Missbrauchsfälle zu eigentlichen Austrittswellen.) Auch Menschen, die zur Kirche halten wollen, werden verunsichert und leiden unter den Pauschal-Titulierungen. Man muss sich klar abgrenzen und die eigene Haltung positiv darstellen können, um dem kollektiven Schamgefühl ausweichen zu können. Man möchte stolz sein können auf seinen Glauben und seine Geschichte, nicht sich verstecken müssen. Auch Kirchenangehörige möchten einen Beitrag leisten für eine friedvolle Welt.

 

Aus Notizen 2011

Literatur: Hans G. Kippenberg, Gewalt als Gottesdienst, Religionskriege im Zeitalter der Globalisierung, C. H. Beck, München 2008

Foto von Daria Shevtsova von Pexels