Ist Gott sprachlos, wenn das Unrecht nur gross genug ist?

Gott sagt auch den Mächtigen das Gericht an, so in einzelnen Übersetzungen der Bibel. In anderen Übersetzungen wird das geglättet und ins Gegenteil verkehrt: Gott wird die Mächtigen behüten. Begreiflich, wenn die Kirche aufrührerische Stellen glättet. Es gibt aber Zeiten, wo man froh ist um starke Worte, ganz ohne Aufruhr. Wenn das Unrecht von Staaten ausgeht, der Terror von Staatslenkern – soll die Bibel da ohne Antwort sein?

Weh den Hirten!
Wer die Bibel liest, dem ist das Kapitel 34 im Ezechiel-Buch teuer. Da werden unerschrocken die Mächtigen angesprochen und es wird ihnen Gericht angesagt:

«Weh den Hirten Israels, die sich selbst geweidet haben! Müssen die Hirten nicht die Schafe weiden? Das Fett verzehrt ihr und mit der Wolle kleidet ihr euch. Das Mastvieh schlachtet ihr, die Schafe aber weidet ihr nicht. Die Schwachen habt ihr nicht gestärkt. (…) Das Verlorene habt ihr nicht gesucht; mit Härte habt ihr sie niedergetreten und mit Gewalt. (…)

So spricht Gott, der Herr: Siehe, ich selbst bin es, ich will nach meinen Schafen fragen und mich um sie kümmern. (…) Das Verlorene werde ich suchen, das Vertriebene werde ich zurückbringen, das Verletzte werde ich verbinden, das Kranke werde ich kräftigen. Doch das Fette und Starke werde ich vertilgen.» (Ez 34, 1-16)

Endereignisse
Es sind «Endereignisse», die die Geschichte zum Ganzen runden. Gott greift ein, er versöhnt alles durch Recht und Barmherzigkeit. Ein Pfarrer wird immer wieder auf diese Verse zurückgreifen: «Das Verlorene werde ich suchen, das Vertriebene werde ich zurückbringen, das Verletzte werde ich verbinden, das Kranke werde ich kräftigen.» Das genügt meist für die Zwecke der Seelsorge.

Dass hier auch den Mächtigen das Gericht angesagt wird, muss nicht immer zitiert werden. Ab und zu wird aber auch das wichtig, wenn nach Gerechtigkeit gefragt wird und nach den Leiden der Geschichte. Hier ist es tröstlich, auch dazu klare Worte in der Bibel zu finden. Die Propheten schrecken auch vor den Mächtigen nicht zurück. Das stärkt das Vertrauen in die Bibel ungeheuer.

Doppelte Überlieferung
Nicht immer haben die Übersetzer aber diesen Text unangetastet gelassen. Das zeigt der Vergleich zwischen der alten und der neuen Luther-Übersetzung.

Lutherbibel 1912
«Ich will das Verlorene wieder suchen und das Verirrte wiederbringen und das Verwundete verbinden und des Schwachen warten; aber was fett und stark ist, will ich vertilgen und will es weiden mit Gericht.»

Lutherbibel 1984 (und 2017)
«Ich will das Verlorene wieder suchen und das Verirrte zurückbringen und das Verwundete verbinden und das Schwache stärken und, was fett und stark ist, behüten; ich will sie weiden, wie es recht ist.»

«Damit der Mensch nicht weiter Schrecken verbreite»
In der einen Übersetzung sagt Gott auch den Mächtigen das Gericht an, in der anderen wird das geglättet und ins Gegenteil verkehrt: er wird sie behüten. Begreiflich, wenn die Kirche solch aufrührerische Stellen glättet. Es gibt aber Zeiten, wo man froh ist um starke Worte, ganz ohne Aufruhr. Wenn das Unrecht von Staaten ausgeht, der Terror von Staatslenkern – soll die Bibel da ohne Antwort sein? Das Mittelalter kannte einen Kaiser, der über den Königen stand. Er konnte Fürsten ein- und absetzen. Da las man die Bibel auch mit diesen herrschaftskritischen Teilen.

König der Gerechtigkeit
Diese Zusage ist auch mit der Geburt Christi verbunden. So singt Maria in ihrem Lobgesang (über Weihnachten ist dieses «Magnificat» überall wieder gesungen worden): «Er stösst die Mächtigen von ihren Thronen und erhöht die Niedrigen.» Schon das erste Testament feiert die Herrschaft Gottes: «Der Herr ist König immer und ewig. Das Verlangen der Elenden hast du, o Herr, gehört; du machst ihr Herz fest, leihst ihnen dein Ohr, um der Waise Recht zu schaffen und dem Unterdrückten, damit der Mensch von der Erde nicht weiter Schrecken verbreite.» (Ps 10)

 

Auf den Dreikönigstag
Aus Notizen 2013
Bild der Heiligen Könige im Deckengewölbe der Kirche Saint-Gonery in Plougrescant in der Bretagne

Zum Text Ez 34,16: Unter https://biblehub.com/text/ezekiel/34-16.htm finden sich verschiedene Ausgaben des hebräischen Urtextes und mehrere Übersetzungen.

Z.B. New American Standard Bible: „I will seek the lost, bring back the scattered, bind up the broken and strengthen the sick; but the fat and the strong I will destroy. I will feed them with judgment.»

Die Lutherübersetzung 2017 übernimmt die Glättung von 1984, weist aber in einer Anmerkung auf die andere Lesart hin.