Wir haben es nicht gewollt

Der Krieg eskaliert, aber noch bin ich so privilegiert, dass er bei mir nur am Morgen in der Zeitung auf dem Frühstückstisch stattfindet. (Und beim Einkaufen im Supermarkt, wenn die Preise wieder angezogen haben.) Erst ist es ein Schock, wenn wieder eine neue Stufe erreicht wurde, dann ist es bald zur «Lage» geworden, wie sie halt ist.

Heute
Erst waren Flugzeuge im Spiel, dann Panzer. Der Stellungskrieg aus dem ersten Weltkrieg mit Schützengräben schien wieder aufgetaucht. Dann wurden die Städte eingedeckt mit Raketen und Drohnen. Hyperschallraketen tauchten auf. Dann gab es eine Explosion am Meeresboden – auch das ist eine mögliche Sphäre für Aggression und Zerstörung. Jetzt ist ein Staudamm geborsten, Dörfer werden überschwemmt, Böden vergiftet. War das gewollt oder nur eine Nebenfolge? Die Katastrophe ist da. Eine nächste Stufe könnte das KKW in Saporischschja sein. Der Krieg eskaliert, er zeigt immer wieder ein neues Gesicht. Wenn es angerichtet ist, werden wir sagen: wir haben es nicht gewollt.

Gestern
Die alte Schweiz ist vorbei. Schon früher war alles, was einen Preis hatte, privat. Aber es gab gute Luft und nachts einen Sternenhimmel. Es gab sauberes Wasser und eine wunderschöne Landschaft. Als Kind fühlte ich mich reich, auch wenn unsere Familie nichts davon besass. Aber wir hatten Anteil. Es schien unerschöpflich. Wie gross war der Sternenhimmel! Das Wasser kam vom Himmel und von den Bergen. Und die Luft überstrich mit dem Westwind unsere Städte und Häuser. Wenn der Wind von Süden kam war es der «Föhn». Es gab Wind aus allen Richtungen, und er roch gut.

Nicht so in diesen Tagen. Wenn ich die Fenster aufmachte, um zu lüften, drang Gestank in die Wohnung – Abgase, die der Wind zu uns hertrug. Das Wasser, das wir viele Jahr vom Hahnen getrunken haben – das dachten wir, hätten wir noch: sauberes Wasser – schmeckt chemisch. Man möchte es nicht zum Essen trinken.

Ich weiss es
Wie privilegiert bin ich immer noch, dachte ich. Der Krieg eskaliert, aber wenn ich die Zeitung nicht lese, ist es fast, als ob es ihn nicht gäbe. Er trifft mich nicht persönlich. Wenn er mich einmal persönlich trifft, ist es zu spät. Dann stehe ich im Wasser wie die Menschen unter dem Staudamm, die Wohnung ist dahin, das Wasser aus dem Hahnen bleibt aus, nicht mal die Toilette lässt sich noch bedienen. Wir werden uns auf den Weg machen wie viele andere Flüchtlinge auch. Und der Sternenhimmel meiner Kindheit? – Er ist nachts nicht mehr zu sehen. Aber er ist noch da. Ich weiss es, auch wenn ich ihn nicht mehr sehe.

 

Foto von eberhard grossgasteiger, pexels