In einem anderen Leben

Ich lese von jemandem, der seinen Grossvater sucht. In seiner Familie ist auf Vaterseite alles klar, auf Mutterseite nicht. Ich lese es atemlos, obwohl es kunstlos aufgezählt wird. Diese Frage hat eine Notwendigkeit bei sich, da ist es egal, wie es literarisch daherkommt.

Past Lives
Am Sonntag war ich in der Stadt, ich sah den Film «Past Lives». Ich schaute atemlos. Während des ganzen Films hatte ich dieses Gefühl von Notwendigkeit, dass die Beteiligten auf einem Suchweg wären, dem man mit Notwendigkeit folgen müsse.

Es ist kein Zwang, der die Freiheit aufhöbe und die Geschichte einfach abschnurren liesse. In ihren Gesprächen, durch die sie verstehen wollen, was mit ihnen geschieht, spielen sie mit diesem Gefühl, und erinnern sich an die buddhistischen Lehren von den mehrfachen Leben, die man durchläuft. Liebende erleben eine grosse Kraft und Gewalt in ihren Empfindungen, sodass sich das Gefühl aufdrängen kann: das stamme aus einer anderen Welt, als ob sie früher schon mal zusammen waren oder füreinander bestimmt wären.

Zu gross für ein Leben
Es ist ein Spiel mit Bildern und dem Eingeständnis, dass man es nicht weiss, dass man sich aber dieser Gewalt bewusst ist, die zu gross scheint für ein normales Leben, wo solche Dinge doch nicht vorkommen. Da kauft man etwas oder verkauft es, man unterschreibt einen Vertrag, bringt ein Kind zur Schule – aber diese Gewalt, die zwei Leben über Jahrzehnte bewegt und ihnen alle Ruhe raubt, wenn sie ihm nicht folgen, das scheint aus einer anderen Welt zu stammen.

Die Suche nach dem Partner
Das Überzeugende an diesem Film ist nicht, dass die Personen dieser Notwendigkeit folgen und so, wie von unsichtbarerer Hand gelenkt, zu einem Schicksal finden, das ihnen bestimmt ist. Sie empfinden den Drang wie eine Notwendigkeit, aber sie widersprechen dieser. Sie richten sich auf, ergreifen die Zügel in ihrem Leben. Auch die Ereignisse der vergangenen 12 Jahre, die die Protagonisten mit anderen Partnern erlebten, sind wertvoll, es ist nicht nur Beziehungsschutt, ohne Verankerung im Schicksal, weshalb es jetzt zurücktreten muss.

Die beiden finden sich endlich, nach etwa 20 Jahren, wieder. Sie spüren die Gewalt, die sie zusammenführt, aber sie widerstehen. Sie kehren zu ihren Beziehungen zurück, die sie inzwischen eingegangen sind. Das ist keine Absage an die empfundene Gewalt und an Reinkarnation. Es hat überhaupt mit Reinkarnation im strengen Sinn nichts zu tun.

Die Suche nach dem Vater
Die Notwendigkeit ist also keine Notwendigkeit, die man philosophisch rekonstruieren könnte. Es ist etwas, was sich der Empfindung mit Notwendigkeit aufprägt, was das Handeln anleitet, aber nicht determiniert. Das läuft über Intuitionenen, die uns eher in Ahnungen bewusst werden als in Gedanken. Es zwingt uns Suchwege auf wie einem Kind, das den Vater vermisst und keine Ruhe im Leben findet, bis es weiss, woher es stammt und wer sein Vater ist.

Die Vatersuche ist nicht nur die Suche nach einem fehlenden Verwandten, sondern etwas Existentielles, was zum eigenen Ich gehört, nicht nur äusserlich, sondern im Innersten, und ganz am Anfang, dort, wo es darum geht, überhaupt ein Ich zu werden. Darum ist die Vatersuche in den überlieferten grossen Erzählungen immer verbunden mit der Frage nach der eigenen Identität.

Nötig, nicht genötigt
Es ist eigenartig, im Leben an einen solchen Punkt zu kommen, wo eine solche Notwendigkeit zu spüren ist. Es kann aus dem eigenen Inneren auftauchen, an einem Wendepunkt des Lebens, und man beginnt einen Suchprozess. Man folgt den Ahnungen, die aufsteigen und vertraut, dass sich so der Weg finden wird, den man bewusst nicht zu sagen weiss.

Was der Film zeigt: Dem Notwendigen zu gehorchen genügt nicht. Was gesucht ist, spielt auf der Grenze von Notwendigkeit und Freiheit. Die Verantwortung ist nicht aufgehoben und die Liebenden im Film nehmen diese wahr. Sie widersprechen der Notwendigkeit und nehmen gerade dadurch ihre Verantwortung wahr. Das zeigt eine Lösung auch für eine Lebensfrage, die weit davon entfernt scheint. Was geschieht bei einer Scheidung? Wie soll man verantwortlich umgehen mit einer Situation, wo Vertrauen verletzt, Hoffnungen enttäuscht und scheinbar unlösbare Versprechen aufgehoben wurden?

Nichtig?
Die katholische Kirche hält an der Unauflöslichkeit der Ehe fest, sie hat aber doch eine Lösung für das Scheidungs-Problem, indem sie eine Ehe nachträglich für nichtig erklären kann: Sie ist nicht in richtiger Form geschlossen oder vollzogen worden, ist also von Anfang an «nichtig». Damit wird nicht nur der Rechtsakt für ungültig erklärt, wie die Juristen sich das vorstellen. Für das Empfinden der Beteiligten, wird alles, was gewesen ist, für nichtig erklärt. Es war keine richtige Ehe, es fällt mit einen Federstich dahin, und damit all die Jahre des gelebten Lebens.

Hier wird ein Ideal festgehalten, die innerlich empfunden Notwendigkeit wird äusserlich gestützt. Die Liebenden im Film entscheiden anders. Sie übernehmen damit Verantwortung nicht nur für das Leben, das kommt, sondern auch für das Leben, das war. Das macht diesen Film so anrührend und überzeugend.

 

Foto von João Jesus, Pexel

Wikipedia: Past Lives (engl. für „Frühere Leben“) ist ein US-amerikanisches Filmdrama von Celine Song. Das autobiografisch geprägte Werk handelt von einer aus Südkorea stammenden Frau, die über mehrere Jahrzehnte und Kontinente hinweg zwischen ihrer platonischen Jugendliebe und sich selbst hin- und hergerissen ist. Der Titel nimmt Bezug auf eine koreanische Vorstellung von vergangenen Leben („In-Yun“). Erzählerisch in drei Zeitebenen unterteilt, folgt der Film den koreanischen Hauptfiguren im Alter von ungefähr 12, 24 und 36 Jahren. Der Kinostart in Deutschland fand Mitte August 2023 statt.