Katholische Weite und reformierte Enge

Ab und zu steige ich ins vierte Untergeschoss hinab. Hier im «Bauch von Zürich» lagern die theologischen Zeitschriften aus aller Herren Länder. Was mir hier auffällt, wo alle Religionen vorhanden sind: wie weit es mir wird bei den katholischen Zeitschriften und wie eng bei den reformierten.

Die Katholische Theologie hat eine Tiefe und Weite, die v.a. davon herrührt, dass sie an Tradition interessiert ist, am Mittelalter, an der Antike. Das reformierte Interesse geht oft nur bis zur Reformation im 16. Jh., eine Patristik kennt ihre Theologie nicht. Die Reformatoren anerkannten zwar die altkirchlichen Bekenntnisse. Schon in der Alten Kirche begann nach ihrem Verständnis aber die Verfälschung.

Tradition
Um Papst und Kirchen-Leitung ausschliessen zu können, bezog sich die Reformation auf die Bibel als normative Grundlage für die Regelung der Kirchenangelegenheiten. Das Fehlen der Tradition ist gewollt, es ist Politik. Die Reformation schloss die Tradition aus, d.h. die Autorität der Kirche, durch Rückgang auf die «Urtexte» der Bibel. So fällt all die Erfahrung weg, was das christliche Leben in 2000 Jahren ausmacht in seiner historischen Tiefe und in der Breite seiner Fragestellungen.

Urtext?
Und der Rückgang auf einen Urtext der Bibel, der hinter die Kirche und ihre verfälschenden Eingriffe zurückführen soll, ist eine Illusion. Die Bibel ist ein Werk der Kirche. «Die» Bibel gibt es gar nicht. Wie eine historische Rückschau zeigt, gibt es viele Sammlungen (die nicht alle zu normativen Codices erklärt wurden) in vielen Kirchen der Welt.

Dieses Problem wiederholt sich später in der historischen Leben-Jesu-Forschung seit dem 18.JH. Diese erfolgt zwar nicht im Namen von «Bibel gegen Lehramt» (als normativer Grundlage). Jetzt wird auch die protestantische Kirche angegriffen, die Kirche überhaupt mit ihren dogmatischen Lehrsätzen wird infrage gestellt durch Rückgang auf etwas noch Grundsätzlicheres. Das ist nicht die Endgestalt der Bibel, wie sie die Kirchen in ihren Codices präsentieren, das ist eine (hypothetische) historische Urgestalt.

Echter Jesus?
Mag am Anfang noch die theologische Vorstellung dabei gewesen sein, auf diese Weise die «ipsissima vox» zu finden (es gibt bis heute Bücher, die die «wahre Lehre» Jesu zeigen wollen), bald wechselte der Wahrheitsbegriff: nicht mehr die Theologie definiert, was wahr sein soll, sondern die Geschichtswissenschaft. Im 19. Jh. gab es in der Theologie die Forderung eines «konsequent-geschichtlichen» Verständnisses der Überlieferung.

Versteckte Wertung
Es krankt methodisch am selben Problem wie die Behauptung eines Urtextes und wie man diesen feststellen will. Um die echten Jesus-Worte zu finden, definiert man erst einige Kriterien, die es erlauben sollen, echte von falschen Worten zu unterscheiden: Was ist plausibel für die Zeit? Was konnte Jesus wissen als Jude aus Galiläa? Wozu hatte er damals wohl keinen Zugang? Was stimmt mit anderem zusammen, was man so eruiert hat, was widerspricht ihm? Etc.

Methodisch ist das ein Zirkelschluss. Am Schluss kommt ein Jesusbild zustande, wie man es am Anfang mit den methodischen Festlegungen eingegeben hat. Der «Jesus», der uns da entgegenkommt, entspricht genau dem, was man als Kriterien eingegeben hat, aber jetzt mit dem Anschein «historischer Wahrheit» an sich.

Versteckte Theologie
Kommt die Frage dazu, was uns eine derart erarbeitete historische Figur zu sagen habe. Wenn all die theologischen Bestimmungen wegdefiniert werden, weil man ja nicht einen Jesus des Glaubens, sondern eine historische Figur haben will: was hat diese dem Glauben noch zu sagen? Denn der Glaube fragt nicht nach Geschichte, er fragt nach Gott. Er fragt nicht, was war, sondern was wirklich ist, damals und heute und in Zukunft. Der Glaube hat absolute Aussagekriterien, er lässt sich nicht in historische Sätze einschliessen.

Versteckte Politik
Das ganze Projekt, Glaubenssätze in historische Sätze übersetzen zu wollen, ist erkenntnistheoretisch nicht möglich. Es ist gar nicht getragen von einem ursprünglich wissenschaftlichen Interesse, es ist getragen von einer Ablehnung von Kirche, von einem Versuch, erst die Reformation gegen die mittelalterliche Kirche, dann die säkulare Moderne gegen die Kirche überhaupt zur Geltung zu bringen.

Es geht um den historischen Aufstieg des Bürgertums, der sich nach oben gegen «Krone und Altar» wendet, gegen unten bald darauf gegen die Forderungen der Unterständischen. Mit dem Adel diskutierte man noch im Sinn der Aufklärung (und als man die Geduld verliert, köpft man den König und macht Revolution). Als aber Arbeiter und Bauern die Revolution weitertragen wollen und ihren Anteil einfordern, erklärt man die Revolution für beendet. Man handelt sich damit ein Jahrhundert der Klassenkämpfe ein. (Ich bin froh, kann ich aus dem vierten Untergeschoss wieder an die Oberfläche aufsteigen. Es regnet, es ist Herbst geworden.)

 

Aus Notizen 2022
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