(K)ein Ort auf dieser Welt

„Was ist mir denn so wehe?“ so fragt der deutsch Dichter Joseph von Eichendorff in einem Gedicht. Seine Tochter Anna ist gestorben – kaum zwei Jahre nach ihrer Geburt. Dieser Verlust reisst ihn aus dem Leben. Er verliert die Heimat in dieser Welt, er kennt sich nicht mehr aus in seinem Alltag.

Später hat er seine Gefühle in eine Reihe von Gedichten gefasst. Es sind die ersten Kindertoten-Lieder der Deutschen Literatur. Sie haben die Menschen in vielen Generationen berührt.

Zu Hause
Ein Gedicht schildert, wie die Eltern abends beisammen sitzen:

Von fern die Uhren schlagen,
es ist schon tiefe Nacht,
die Lampe brennt so düster,
dein Bettlein ist gemacht.

Die Winde nur noch gehen
wehklagend um das Haus.
Wir sitzen einsam drinne
und lauschen oft hinaus

Es ist, als müsstest leise
du klopfen an die Tür.
Du hätt’st dich nur verirret
und käm’st nun müd’ zurück.

Wir armen, armen Toren!
Wir irren ja im Graus
des Dunkels noch verloren. –
Du fandest längst nach Haus.

Wir dürfen unsere Verstorbenen Gott übergeben und vertrauen, dass sie bei ihm geborgen und angenommen sind. Und wir dürfen auch unser eigenes Leben, das so verletzt wurde, zu Gott hintragen und sagen: Schau, was geworden ist! Wir haben es anders gewollt, es ist uns unter den Händen zerbrochen! – Und wir dürfen vertrauen, dass auch unser Leben bei ihm geborgen und angenommen ist.

Ausgeschüttet
Vertrauen ist nicht das erste, was wir empfinden in einer solchen Situation. Ein Verlust kann uns so treffen, dass er unser Zutrauen in die Welt erschüttert. Da fühlen wir uns nicht geborgen, sondern wie ausgeschüttet von der Welt.

Trauer ist ein Weg mit vielen Gefühlen. Auch Wut gehört dazu, manchmal sogar Hass. Dankbarkeit und Friede, das kommt am Ziel. Der Weg ist oft aufgewühlt. – Es gibt die Zeiten, wo wir zweifeln und manchmal fast verzweifeln. Dann sind es die Geschichten von Jesus Christus, die uns wieder Mut geben können: Wir hören, wie er auf die Traurigen zugegangen ist, auf die Kranken, ja sogar auf die Menschen, die sich verfehlt haben und auf jene, die von der Gemeinschaft ausgestossen waren.

Ein Ort in dieser Welt
Als Christus selber zum Sterben kam, so erzählt die Bibel, rief er seine Mutter zu sich und den Jünger Johannes. Und er sagte zu Maria: „Siehe, das ist dein Sohn! Danach sagte er zu Johannes: Siehe, das ist deine Mutter! Und von der Stunde an nahm sie der Jünger zu sich.“ (Joh 19,26)

Die Geschichte hilft uns, den Blick „aufzumachen“: Jemand ist uns verstorben, und manchmal ist es, als ob das ganze Leben damit vorbei wäre. Aber andere sind noch da. Das sind die Angehörigen, die unsere Liebe brauchen. Da sind die Menschen, die wir gernhaben dürfen. Da ist die Aufgabe, die unserem Leben einen Sinn gibt mitten in der Sinnlosigkeit.

Da sind Arme, die sich um uns legen in herzlicher Umarmung. Da sind Worte, die zu uns gesprochen werden, und sie sagen: dass sie uns liebhaben und dass sie uns brauchen! Und all das gibt uns einen Ort an auf dieser Welt, wo wir stehen und leben können und sollen.

„Siehe, das ist dein Sohn! Siehe, das ist deine Mutter!“ Maria und Johannes waren nicht verwandt. Aber „von der Stunde an nahm sie der Jünger zu sich.“

Die Geschichte will uns die Augen öffnen: Wir sind nicht allein. Andere sind noch da: Verwandte, Nicht-Verwandte, die Nachbarn mit den Kindern vom untern Stock, die Leute vom Haus nebenan. Da ist die Gemeinde, die ganze Welt… Es ist dasselbe Leben in allen, es will blühen, wo immer es ist. Wir sind alle aufeinander angewiesen. Wir können uns gegenseitig in einander erkennen.

Ursprung und Ziel des Lebens sind nicht in der Hand des Menschen. Es ist unverfügbar und heilig. Es ist in allen gleich. – Wer sehr allein und traurig ist, kennt auch den Trost, den ein Haustier schenken kann. Ein Hund, eine Katze – es ist nicht nur, dass sie unser Alleinsein teilen. Sie vertreiben nicht nur die Einsamkeit. Wer ein solches Tier hat, spürt etwas von der Solidarität, die in allem Lebendigen wohnt.

Eine grosse Solidarität
Das ist keine Einsicht, es ist ein Gefühl voller Trost, weil es uns verbindet mit allem, weil es uns ahnen lässt, dass das Leben mehr ist, als was wir mit dem Kopf begreifen.

Und wenn andere schnell über das Leben weg-reden, werden wir stumm und ahnen etwas von einem grossen Geheimnis. – Das meint Jesus Christus als er auf dem Kreuz Maria und Johannes zusammengibt: „Siehe, dein Sohn! Siehe, deine Mutter!“

Es sind seine letzten Worte in diesem Leben, und sie stiften eine Gemeinschaft, die über den Tod hinaus besteht.

Er fügt sie zusammen auf dem Kreuz, wo die menschliche Kraft zu Ende geht. Sie lebt aus dem Vertrauen auf die Kraft Gottes.

Die Kirche entsteht aus dem Vertrauen auf Gott, wie er in Jesus Christus gehandelt hat. In seinem Tun entdecken wir: einen Geist der Liebe, der Hilfe, des Heilens, der Gerechtigkeit. Er zeigt uns, wie Gott sich selbst Sündern zuwendet und Ausgestossenen.

Er zeigt es in seinem Schicksal: Dieser wird verstossen, ungerecht behandelt, blossgestellt… Und Gott sieht ihn an, und Gott kommt zu ihm, und Gott stellt ihn in Mitte, und Gott spricht: Steh auf! Und Gott verschafft ihm Recht und erhöht ihn zu seiner Seite.

So entsteht Kirche, das kann kein Mensch, das kann Gott allein. Kirche heisst auch: auf Gott vertrauen, wo für Menschen kein Weg mehr sichtbar ist. Denn für Gott ist nichts unmöglich.

Neues Leben
So entsteht neues Leben: Dort, wo Menschen wieder Vertrauen lernen, wo Verzweifelte wieder Boden unter die Füsse kriegen, wo aus dem Vertrauen zu Gott – auch im unmöglichsten Moment – wieder ein „Ja zum Leben“ erwacht, wo Menschen befreit werden aus dem Eingeschlossen-Sein in sich selbst, wo ihnen die Welt neu geschenkt wird, dass sie wieder auf andere zugehen dürfen.

Da geschieht es: Es öffnet sich der Blick für den Verwandten im Fremden, für die Familie bei den Nicht-Verwandten. Da erkennt sich einer im andern, und die trennenden Wände fallen ein, und eine Gemeinschaft entsteht, die nicht auf natürlicher Verwandtschaft beruht, sondern auf der Verwandtschaft des Sich-im-andern-Erkennens. So entsteht die Kirche, wie Jesus Christus sie auf dem Kreuz gestiftet hat.

Und wir begreifen: Unsere Verstorbenen sind nicht verloren. Wir hängen an ihnen und können nicht verstehen, dass sie nicht mehr da sein sollen. Jetzt öffnet sich unser Blick für die Wirklichkeit. Und wir beginnen zu sehen, was für Augen unsichtbar ist und doch wirklich.

Über den Tod hinaus
So machen wir uns auf für Gott, für den, der alles umfasst und in Händen hält. Und Liebe lenkt unsern Blick, dass wir ihm vertrauen und ihm etwas Gutes zutrauen, gerade auch dann, wenn das Dunkel uns einholen will.

Und wenn wir zweifeln und fast verzweifeln, dann sind es die Geschichten von Jesus Christus, die uns wieder Mut geben: wie er auf die Traurigen zugegangen ist, auf die Kranken, ja sogar auf die, die sich verfehlt haben und jene, die von der Gemeinschaft ausgestossen waren. – Das zeigt uns, wie Gott ist und handelt, was er für Gedanken für uns hat. So lernen wir bei Jesus Christus, auf Gott zu vertrauen.

Jesus Christus sagt von sich: „Ich bin der Weg.“ Er führt und begleitet uns. In der alten Kirche galt er deshalb auch als Seelenführer: Er steht bereit, wenn ein Mensch stirbt, er ist da, begleitet, hilft und führt.

„Habt keine Angst!“ sagt er. „Glaubt an Gott und vertraut auf mich, ich gehe hin, euch eine Stätte zu bereiten, dann komme ich wieder und werde euch zu mir nehmen, damit auch ihr seid, wo ich bin.“ (Joh 14,2)

Seine Gemeinschaft geht über den Tod hinaus, so wie sie schon vor unserer Geburt begonnen hat. Sein Geist ist der Geist Gottes, der schon am Anfang über dem Chaos schwebte und sprach: Es werde! – Er ist auch mit uns. Er ist mit uns in unserem Leben. Darum stiftet Christus eine Gemeinschaft. Auf dem Kreuz sagt er: „Siehe, dein Sohn! Siehe, deine Mutter!“ Und wir sind einander anvertraut – in einer Gemeinschaft des Lebens.

 

Zu Allerseelen / zum Totensonntag
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