Hartnäckige Liebe

Unser Töchterchen ist jetzt bald ein Jahr alt. Sie hat sechs Zähne, geht an einer Hand und sagt „Papa“. Sie ist von einer fast unerschütterlichen Lebensfreude und Kontaktoffenheit.

Wenn wir im Zug fahren, will sie nicht lang stillsitzen, sie lernt gehen. Und da sind viele Leute. Menschen kennen zu lernen, liebt sie über alles. Also dauert es nicht lang, so trippelt sie den Gang runter, von Abteil zu Abteil, und ich hintendrein. Dann strahlt sie die Leute an und freut sich, wenn sie zurücklachen. Andere, die in die Zeitung vertieft sind, werden vielleicht ein bisschen am Bein gestupft oder sie gibt einen Ton von sich, um auf sich aufmerksam zu machen.

Ich immer hintendrein. Ich freue mich, wenn die Leute zurücklachen. Ich versteh es, wenn jemand nicht gestört sein will, ich bin auch nicht immer kontaktoffen. Aber die kleine Anna ist es, sie ist darin unermüdlich und sie tut es mit so viel unschuldiger Erwartung, den Menschen willkommen zu sein, dass schliesslich auch etwas auf mich abfärbt.

Ist der Glaube etwas anderes als das Vertrauen, Gott und Menschen willkommen zu sein? Manche Menschen halten sich nicht für liebenswert. Etwas in ihnen glaubt hartnäckig, dass sie nicht geachtet seien. Der Glaube kann uns helfen, diesen Phantasien zu widerstehen. In ihm wissen wir, „wenn uns das Herz verurteilt, dass Gott grösser ist als unser Herz“ (1. Joh 3,20). Es stimmt zwar: Wer sich abgelehnt fühlt, verschliesst sich, und sein Verhalten kann dazu führen, dass er wirklich auf Ablehnung stösst. Aber darum gilt auch das Umgekehrte: Wer sich aufmacht, wer den ersten Schritt tun kann, der öffnet sich für die Menschen, und dann verhalten sich auch diese anders. Gerade die Erfahrung mit meiner Tochter zeigt mir: Werden die Menschen angelacht, so lachen die meisten zurück.

Natürlich besteht auch für die kleine Anna das Leben nicht immer nur aus Lachen. Manchmal ist sie krank und schläft nächtelang nicht richtig. Da geraten wir Eltern an unsere Grenzen. Da kann es mir geschehen, dass ich zornig werde. Es ist unsinnig, aber ich kann manchmal nicht anders. Und wenn der Zorn dann draussen ist, so bereue ich es und schäme mich, und ich denke: jetzt hätte ich ihr Vertrauen verspielt. Aber am nächsten Morgen, wenn ich sie aus dem Bett nehme, strahlt sie mich wieder an. Dann muss ich leer schlucken und lerne wieder etwas: wie gross Vertrauen sein kann, wie viel tiefer wir vertrauen dürfen, als wir selber meinen!

Auch wenn wir uns selber verurteilen – wir sollen uns viel tiefer von Gott und den Menschen geliebt fühlen! Luther fügt noch hinzu: Weniger hoch von Gott zu denken, beleidige ihn und mache ihn zum Lügner. Denn er habe uns ja die Vergebung zugesagt, und unserer Selbstablehnung zeige, dass wir nicht auf ihn vertrauen wollten.

 

Aus Notizen 1994
Foto von Oleksandr Pidvalnyi von Pexels