Wie die Mär zum Märchen wurde

Aufgrund der Seuche soll man nicht reisen, so besuchen wir die Ausstellung in der Stadt. Sie zeigen Bilder von Carl Spitzweg. Er floh in seinem Leben zwei Mal vor einer Seuche, als in München die Cholera herrschte. Ein Freund erlag der Krankheit. So war das Seuchenthema auch in der Ausstellung wieder da.

Ein Besuch bei Spitzweg
Damals herrschte das «Biedermeier». Das gilt als gemütliche Zeit. Damals kippte das Mythische ins Gemüthafte. „Die Welt des Kindes bekommt eine Bedeutung wie noch nie: Kinderspielzeug und Kinderbücher erleben eine Hochblüte. Hier, in dieser Sphäre der Kinder allein, hat die bürgerliche Welt noch einen Hauch des Mythischen verspürt“, schreibt Aiga Matthes in einem Buch über den Maler Ludwig Richter. „Für den Erwachsenen aber wird seelischer Ersatz des Mythos gewissermassen das Gemüt und der Humor. Die Meister des europäischen Humors Richter, Schwind, Spitzweg, Dickens und ihre Illustratoren gehören im Wesentlichen in diese Dekade.“

Märchen
Das Gemüthafte ist in dieser Zeit nicht mehr metaphysisch verankert (Empirismus, Positivismus und Materialismus verabschiedeten die Religion). So wird der Mythos zur Kindergeschichte und später zur Fantasy-Erzählung, der keine „Wirklichkeit“ mehr zukommt. Aber man erzählt ihn noch den Kindern, denen man die Rauheit der Welt noch nicht zumuten will, die Kälte des metaphysisch leergefegten Universums, wie sie Jean Paul beschreibt in seinem Traum, in seiner „Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, dass kein Gott sei.“ Man schart sich um die Familie (auch die Hoffnungen auf die grosse Politik sind im Biedermeier zerschlagen), sucht die Erfüllung im Kreis der Familie und ihrer Glücksmöglichkeiten. Weihnachten wird aufgewertet als Familienfest.

Die Denkmöglichkeiten der Zeit beschneiden die Sprache des Glaubens. Aus der „Mär“ der Engel, die Botschaft aus dem Himmel bringen, wird das „Märchen“, das man den Kindern erzählt. Man spürt noch die Wehmut der alten metaphysischen Glücks- und Geborgenheits-Erfahrungen in diesen Erzählungen, aber der Kreis der Welt, in der die Engelmächte Geborgenheit geben konnten, ist auf den Kreis der Familie und der Stube geschrumpft.

Und man weiss nicht, geben die Eltern den Kindern Geborgenheit oder sind es die Kinder, bei denen die Eltern Geborgenheit suchen und finden, im „So-Tun-Als-Ob“ eines Märchens, das noch den Glanz einer alten, verlorenen Welt aufscheinen lässt. Aber die Zeit ist in die „oben-ohne-Philosophie“ eingetaucht, es herrscht „metaphysischer Karfreitag“, wo Gott gestorben ist und auf die Auferstehung wartet.

Der Bücherwurm
Auf dem Bild «Der Bücherwurm» von Spitzweg sieht man den Bücherwurm auf einer Leiter, sie steht an einer grossen Bücherwand, und oben, zu hoch, um dorthin zu gelangen, sind die Bücher zum Thema «Metaphysik» eingereiht. – Sei es, weil das Thema wegen der philosophischen Entwicklung den Menschen «zu hoch» geworden ist. Sei es als ironische Kommentierung der alten ehrwürdigen Inhalte, die zu Märchen geworden sind und keinen Anspruch auf Wahrheit mehr machen können.

Stimmt der Glaube «historisch»?
Die Romantik ging einher mit einem neuen Geschichts-Begriff. In den Befreiungs-Kriegen hatte Preussen Napoleon abgewehrt. Dieser legitimierte die Besetzung von ganz Europa durch das «Licht der Aufklärung», das er bringe. Gegen diese universalistische Sicht betont die Romantik das Recht des kleinen Raumes, der kleinen Nation. Es gibt nicht nur den «einen Weltgeist» in der Geschichte, der sich überall gleich ausdrückt. Jede Epoche und jedes Volk hat einen eigenen Geist, der «unmittelbar» zu Gott ist, so wie die kleinen Reichsfürsten zum Kaiser. Darum gibt es hier nicht eine Welt-Kultur, sondern viele Volks-Kulturen.

Relativismus als Staatsmaxime
Damit verlor Metaphysik ihren universalen Anspruch. «Wahrheit» wurde relativ, auch in der Theologie. (Der Relativismus war gewollt, der universalistische Übergriff sollte gebrochen werden.) Die historische Erforschung von Bibel und Glauben brachte so keine ewige Vernunft-Wahrheit mehr zutage, sondern nur noch historische Ausprägungen für eine Epoche, die keinen allgemein-gültigen Wahrheitsanspruch mehr stellen konnte.

Ich hatte vor der Theologie Geschichte studiert. Damals, in den 70er Jahren, war die Geschichts-Wissenschaft verunsichert über ihren Gegenstand und ihre Erkenntnis-Methode. Bevor man überhaupt Geschichte betreiben konnte, musste man mehrere Semester lang Wissenschaftstheorie «pauken». Umso erstaunter war ich dann, als ich später im Theologie-Studium realisierte, dass die verunsicherte Theologie ausgerechnet bei der Geschichts-Wissenschaft Halt suchte und feste Erkenntnis.

Als das Hauptfach in seiner Wissenschaftlichkeit angezweifelt wurde, sollten die historischen Nebenfächer die «Wissenschaftlichkeit» der Fakultät darlegen. Mit Berufung auf Geschichte schien man den Dogmatismus der Kirche und die Subjektivität des Glaubens durchbrechen und auf den Boden «harter Geschichts-Tatsachen» stellen zu können. «Geschichtliche Fakten» sollten das Evangelium auf eine überprüfbare Basis stellen.

Die Krise der frommen Studierenden
Man bedauerte die Studierenden, denen bei solchem Tun ihr Glaube zerbrach. Das war eben ein «Opfer», das man der Wissenschaft und dem Wahrheits-Bewusstsein bringen musste. Daran konnte man damals ehrlich glauben, denn der ideologische Charakter dieser Wissenschaft und dieser «historischen Methode» blieb verhüllt. Das steckte in den Denkvoraussetzungen und im Geschichtsbegriff, den man heranzog. Das ist der «gemütliche» Geschichtsbegriff des Biedermeiers, der erkenntnis-theoretische Relativismus des Historismus.

Die halbierte Kritik
Wenn man damit die Bibel und das Dogma kritisierte, so hatte «Kritik» nicht mehr die Doppelfunktion wie noch bei Kant, wo sie Sätze begründen oder verwerfen konnte. Der weltanschauliche Relativismus, der in den Denkvoraussetzungen steckte, erlaubte nur noch ein Verwerfen, kein Begründen mehr. Die «historische Kritik» war also weder «historisch» noch «kritisch», sie war historistisch-kritizistisch. Damit konnte man Glauben nur demontieren, nicht begründen.

So war der Biedermeier auch die Zeit, in der David-Friedrich Strauss sein «Leben Jesu» schrieb. Das Resultat lässt sich schon denken. Damals entdeckte man die «Märchen». Die Romantik brachte mit dem «deutschen Volksgeist» die Germanistik hervor und die Märchenforschung. «Vom Himmel hoch, da komm ich her. Ich bring’ euch gute neue Mär.» So heisst es in Luthers Weihnachtslied zu Lk 2,10. Die «Mär» der Glaubens-Verkündigung, die an Weihnachten von einem Engel zur Erde gebracht wird, zerfiel in viele Märchen, die keinen Glauben mehr verlangten. So erzählte man sie den Kindern.

Man versammelte sich um den Weihnachtsbaum, der damals aufkam und genoss die Gemütlichkeit und Wärme des Familienlebens. In der Welt draussen war es ungemütlich geworden. In der Politik gab es revolutionäre Bestrebungen und in der Metaphysik, im Glauben, in der Kirche, waren die alten Wahrheiten zerfallen und Materialismus, Relativismus etc. hatten die Religion beerbt. Das ist die «Gemütlichkeit» des Biedermeiers. Spitzweg war vor der Seuche aus der Stadt geflohen.

 

Nach Notizen 2012
Eine ausführlichere Behandlung dieser Fragen findet sich auf diesem Blog unter dem Download „Das historisch-kritische Denken in der Theologie“ auf der Menu-Leiste.

Bild: Der Büchernarr von Carl Spitzweg