Opfer – Sinn und Missbrauch der Opfer-Frömmigkeit

Im Zentrum der Passion steht der Tod Christi, der auch als Opfer bezeichnet wird.
Das ist ein starker Begriff, und er kann auch Unheil anrichten. Darum ist er heute umstritten. Es gibt Richtungen, die wollen überhaupt nicht mehr von einem Opfertod sprechen.

Heute gib es viele Opfer in der Gesellschaft, es sind Opfer von Verkehr, von Verbrechen, von Übergriffen. Dabei geht es nicht nur um sexuelle Übergriffe, sondern um Übergriffe überhaupt. Da werden Menschen klein gemacht, weg gestossen, systematisch herabgesetzt. So in Familie, Schule, Arbeitsplatz, in der Gesellschaft.
Das ist besonders schwierig dort, wo ein Mensch eine Art „Mechanismus“ in sich trägt, dass er das akzeptiert, dass er ja sagt zu dem, was ihn klein macht, dass er sich nicht traut, sich zu wehren. Wo er das verinnerlicht und denkt, er hat kein Recht, da zu sein, wo er den Kopf einzieht und „sich opfert“ – in einem falschen Opferverständnis.

Ja sagen
Eine Frau hat mir von ihrer Mutter erzählt. Diese hatte eine solche Verhaltensweise: Sie wehrte sich nicht, sie stand nicht auf für sich und ihr Recht. Wenn sie kritisiert wurde, wenn man über sie herzog, fügte sie sich. Sie sagte „Ja“ zu dem, was sie kränkte.

Ihre Tochter sah es oft, und es tat ihr in der Seele leid. Sie war selber oft bei denen, die ihre Mutter „heruntermachten“. Sie waren viele Kinder zuhause. In der Pubertät legten sie ihre Worte nicht auf die Goldwaage. Oft verbündeten sich alle gegen die Mutter. Sie war ein bisschen der Blitzableiter der Familie. Wenn etwas nicht gut war – bei ihr lud man es ab.

Diese Tochter war mitbeteiligt, sie lachte mit über ihre Mutter. Aber gleichzeitig litt sie darunter. Sie hätte sich so sehr gewünscht, dass ihre Mutter einmal aufgestanden wäre, auf den Tisch geklopft und „Halt“ gesagt hätte. „Es gibt einen Punkt, wo es nicht mehr weitergeht!“ So hätte sie sagen müssen.

Nein sagen
Das hätte sich die Tochter gewünscht, weil sie dann selber auch gelernt hätte, „Nein“ zu sagen. Dann hätte ihr Leben einen anderen Verlauf genommen. So aber lernte sie an ihrer Mutter: Es ist nicht möglich, sich zu wehren. Man muss sich unterziehen. Man muss ja sagen zu dem, was einen plagt.

Das hat zu tun mit der Art, wie Frauen früher erzogen wurden. Aber auch mit einer falsch verstandenen Opfer-Frömmigkeit.

Als ihre Mutter starb, übernahm es die Tochter, den Lebenslauf für die Beerdigung zu schreiben. Sie kannte ihre Mutter nur als erwachsene Frau. Um etwas über ihre Kindheit zu erfahren, besuchte sie ihre Tanten und fragte sie aus. Da kamen Dinge ans Tageslicht, die sie nicht wusste. Sie zeigten, wie ihre Mutter gross geworden war, was sie als Kind gelernt hatte.

Sie waren arm zuhause, 12 Kinder waren es. (Ein weiteres war im Kindbett gestorben. Die älteren waren in einem Haushalt im Welschland, um zu „dienen“. Oder sie arbeiteten im Gastgewerbe und schickten Ihren Lohn nach Hause, um die Familie zu unterstützen.)

Verzichten
Ihre Mutter ging alle Jahre mit den Kindern ins benachbarte Österreich nach Rankweil wallfahren. Auf der ganzen Fussreise hin und zurück gab es nichts zu essen. Wenn die Kinder hungrig waren, hiess es, dass es „zur Ehre Gottes “ geschehe. Sie sollten ihren Durst Christus opfern. Verzichten war ein „gutes Werk“. Es brachte einem Verdienste ein bei Gott. Wenn etwas nicht möglich war – so konnte man es Christus opfern. Man konnte es „in seine Wunden legen“. Unter der Hand – ohne dass man es bemerkte – wurden die Rollen getauscht: nicht mehr Christus brachte das Opfer, man opferte sich für ihn.

Ich will es nicht schlecht machen. Es war vom besten Willen getragen. Es war das Mitleiden mit Christus, man wollte auch etwas von sich geben. Aber bei Kindern, die das nicht verstanden, konnte es leicht zu etwas werden, wo man sich selbst aufopferte. Mit der Zeit glaubte man nicht mehr, dass man ein Recht auf ein eigenes Leben hatte. Man war ein Opfer.

Ein Lebens-Muster
Darum übernahm ihre Mutter diese Rolle immer wieder, auch später im Leben. Und es war für ihre Tochter bitter zu sehen, dass auch sie das übernommen hatte. Es war wie ein Muster, das in der Familie weiterging. Und sie hoffte, dass sie es nicht ihrerseits auf ihre Kinder weiter vererbte.

Es gibt Familien-Geschichten, Muster, die immer weitergehen und die darauf warten, dass sie heilen dürfen. Manchmal hat man den Eindruck, das sei wie ein Auftrag der Ahnen, dass das einmal aufhört, dass die Last dieses Erbes abgeworfen wird und der Weg für die Nachkommen frei wird.

Die Karwoche ist eine Hilfe. Hier können wir hinschauen, wie es war. Was ist gemeint mit der Rede vom Opfer? Wer opfert sich – und wem dient es?

Klein machen
In der ganzen Bibel wird ein solches Opfer abgelehnt, wo Menschen sich klein machen, um Gott günstig zu stimmen. Wo Menschen etwas von sich und ihrem Leben abschneiden, um ihr Gewissen zu beruhigen. Und auch bei den Stellen im Neuen Testament, die andeuten, dass Christus als Opfer gestorben sei, geht es immer um sein Opfer für die Menschen, nicht umgekehrt.

(Wohl heisst es: „Nimm dein Kreuz auf dich und folge mir nach!“ Aber es ist immer das Kreuz im eigenen Leben. Der Mensch soll sich seinem Leben stellen, er soll nicht davon laufen. Im Vertrauen auf Gott kann er weitergehen, so wird er einen Weg finden, einen Weg, der aus der Not herausführt, nicht hinein. Der Mensch soll nicht das Kreuz Christi tragen, nicht das Leid der ganzen Menschheit. Das kann er nicht, diese Last würde ihn erdrücken.)

Sich opfern
Nirgends wird verlangt, dass sich der Mensch opfern solle. Genau das hat die Frau aber gemacht, von der ich erzählt habe. Als Kind meinte sie, sie könne ihre Mutter retten. Und sie wollte ihr eigenes Leben dafür einsetzen. Sie sah wie sie litt und sie wollte ihr helfen. Sie hatte sich das zu einer Lebensaufgabe gemacht, sie wollte sie erlösen. Kinder machen so was, die Mutter ist das wichtigste was sie haben. Es war wie ein Lebensentwurf, den sie in der Kindheit fasste, unbewusst.

Und es wurde zu einem Charakterzug. Das hat sie ihr ganzes Leben begleitet: Wo immer jemand litt, ging sie hin und wollte sich opfern. Wenn im Beruf eine undankbare Aufgabe anstand und keiner von den Kollegen das machen wollte, gleich war sie zur Stelle, sie übernahm es. Wenn irgendwo ein Sündenbock gesucht wurde, weil dicke Luft war in einem Team, dann kam ihr das bekannt vor. So hatte sie das ja in ihrer Familie erlebt. Ihre Mutter war dann immer in die Lücke gesprungen. So tat sie es nach und machte diesen Sprung.

Das ging einige Jahre gut, aber sie wurde damit nicht glücklich. Sie ritt sich immer wieder in dieselben Probleme hinein. Immer stand alles in Frage. Ihr Leben kam nicht vom Fleck.

Grandiosität
Das war ja ihr Lebensgefühl: dass sie gar kein Recht auf ein eigenes Leben habe. Wenn es Konflikte gab in ihrem Umfeld, ging sie hinein mit dem Gefühl, dass sie das irgendwie nicht überleben werde. Und wenn es dann anders kam, wenn die Leute freundlich waren zu ihr, wenn das gar nicht gefordert war, dass sie schuldig sein musste, dass sie verurteilt und an den Pranger gestellt werden musste, dann reagierte sie mit einer ungeheuren Erleichterung – als ob ihr das Leben geschenkt worden wäre. –

Diese Frau musste lernen, dass man als Menschen einen Menschen nicht erlösen kann. Das ist ein Werk Gottes, ein Mensch wird von einer solchen Aufgabe erdrückt. Man kann einem anderen Menschen helfen, so wie eine Tochter einer Mutter hilft. Aber man kann sein Schicksal nicht von ihm nehmen, es nicht stellvertretend für ihn tragen. Das nützt dem andern nichts, und belastet einen mehr, als man tragen kann.

Die Frau begriff: sie hatte ihr Leben lang auch davon profitiert, dass sie ihre Mutter „retten“ wollte. Sie war dann nicht nur das kleine Kind, sie war gleich stark wie ihre Mutter, ja stärker. Sie empfand ein Gefühl von Grandiosität dabei: „Ich bin die, die ihre Mutter rettet“. Das gab ihr einen Lebenssinn inmitten der ganzen Entwertung, die sie erlebte. Aber sie bezahlte das mit abgrundtiefen Zweifeln an sich selbst, wenn es dann doch nicht ging. Dann hatte sie „versagt“. Sie überforderte sich mit einer Aufgabe, bei der man nur scheitern kann.

Sie lernte im Lauf ihres Lebens, Gott seine Arbeit tun zu lassen. Sie kann wohl andern Menschen helfen. Wo die Hilfe das Menschenmögliche übersteigt, kann sie den Glauben zu Hilfe nehmen. Sie kann mit dem Menschen beten und auf Jesus Christus hinweisen: „Hier ist der Erlöser, übergib es ihm! Er hat uns das Leben gegeben, er führt uns auf dem Weg zum Ziel.“

Das ist weniger grandios, als wenn man sich selber opfert, es ist bescheidener. Aber es gibt Luft, es lässt leben, es zerquetscht einen nicht mit einer Aufgabe, die nicht lösbar ist.

Was gut ist
Immer wieder wollen die Menschen sich opfern, etwas von ihrem Leben hergeben, sie wollen damit ihr Gewissen ruhig stellen. Die Propheten in der Bibel haben das zurückgewiesen. Der Prophet Micha sagt:
„Womit soll ich den Herrn versöhnen, mich bücken vor dem hohen Gott? Soll ich mit Brandopfern und jährigen Kälbern ihn versöhnen? Wird wohl der Herr Gefallen haben an viel tausend Widdern, an unzähligen Strömen Öl? Oder soll ich meinen ersten Sohn für meine Übertretung geben, meines Leibes Frucht für die Sünde meiner Seele? – Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der Herr von dir fordert, nämlich Gottes Wort halten und Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott.“ (Micha 6,6f)

Gott will keine Menschenopfer. Jeder Mensch darf wissen, auch wenn er in Not ist, auch wenn er zweifelt, auch wenn alle Welt ihn klein macht und er selber sich fragt, ob sein Leben denn einen Wert hat: Gott steht zu mir. Ich weiss es trotz allem. Ich halte daran fest, trotz allem.

Geschenk der Karwoche
Dieser Trotz ist es, der einem hilft, seine Gesundheit zu bewahren. Dieser Trotz hilft einem, Widerstand zu leisten. Dieses trotzige Vertrauen zu Gott, der fest zu uns steht, hilft uns, dass wir aufstehen, und wenn nötig auch mal auf den Tisch hauen und sagen: Halt! Es ist genug!

So lernen Kinder von ihrer Mutter, dass man einstehen darf für sich und sein Leben. Und Leidensgeschichten, die über Generationen gingen, dürfen an ein Ende kommen. Das ist ein Geschenk der Karwoche: Sie lehrt uns das Geschenk von Gott annehmen. Wie es heisst im Psalm: „Du tust mir kund den Weg zum Leben. Vor dir ist Freude und Fülle ewiglich.“

 

Nach einem Gottesdienst