Suchwege der Seele

Über Mittag hörte ich Stellen aus dem Johannes-Evangelium, aus den Abschiedsreden. Zwischendrin schlief ich ein. Das passt, dieser metaphysische Stil und das veränderte Bewusstsein im Halbschlaf. Für das Handlungs-Bewusstsein, das heute alleinherrschend geworden ist, wirken mythologische Bilder seltsam, Ganzheitsaussagen unverständlich, das Gehen auf den «Suchwegen der Seele» kindlich.

Suchwege der Seele
Mit den «Suchwegen» meine ich das Aufsteigen-Lassen der grossen Fragen und Antworten, der Bedürfnisse, wie man sie auch in einem Gebet formuliert: dass die Verstorbenen ankommen mögen, dass sie Vergebung finden für das Unrecht, das sie andern zugefügt haben, dass sie gehört werden in dem verletzten Recht, das sie selbst erlitten haben, dass sie zu Dank und Frieden finden.

Es sind «Ankunfts»-Bedürfnisse, wie sie jedenfalls jetzt an Auffahrt lebendig werden oder bei mir, der älter ist und öfters an seine Lieben denkt, die schon gestorben sind. Es sind Fragen des woher und wohin, des Anfangs und Endes, der Quelle, aus der alles kommt und in der alles ruht, Bilder der Vollendung, wo Brüche versöhnt werden.

Auch Christus ist gestorben, auch ihn sehe ich, angeleitet vom Evangelium, auf diesem Weg. «Ich will, dass auch ihr seid, wo ich bin», so ähnlich hat er gesagt in den Abschieds-Reden. So reihen wir uns hinter ihm ein. Es wird ein prächtiger Zug, ähnlich wie am Palmsonntag in Jerusalem. Alle Menschen, die er sich gewonnen hat, ziehen hinter ihm ein. Die Seligpreisungen erklingen wie Posaunenstösse, die den festlichen Zug markieren: «Selig die Trauernden, denn sie werden getröstet werden! Selig, die reinen Herzens sind, denn sie werden Gott schauen!»

40 Tage nach Ostern
Auffahrt ist 40 Tage nach Ostern, die Zahl 40 erinnert nicht nur an alte hebräische Feste, sondern auch an griechische Traditionen. Nach 40 Tagen gibt es eine Gedenkfeier. Als ich vor 30 Jahren das Pfarramt aufnahm, war ein griechischer Trauerbegleiter en vogue, der Rituale anbot, die er aus dieser Tradition genommen und psychologisch abgewandelt hatte.

Die heidnische Antike hatte Götter, die die Seele abholten und ans Ziel geleiteten. Die christliche Antike hat Christus in diese Funktion des «Psychopompos» eingesetzt. Das zeigt auch ein Bild im Basler Kunstmuseum. Unten sieht man den Tod Mariens, oben über ihr erscheint der auferstandene Christus, der eine kleine Gestalt in den Armen trägt. Es ist Maria, ihre Seele, die in Empfang genommen wird, wie Christus sagt: «Vater, ich will, dass, wo ich bin, auch die bei mir seien, die du mir gegeben hast, damit sie meine Herrlichkeit sehen, die du mir gegeben hast.» (Joh 17,24)

Maria ist der Inbegriff der Kirche, der Menschen, die Christus nachfolgen. So wird in dieser Marienfrömmigkeit noch einmal verdeutlicht, was schon der Weg Christi zeigt: den Eingang ins Reich Gottes, die Erhöhung, die Himmelfahrt auch des gläubigen Menschen, so dass die Nachfolge bis ans Ziel führt, zur Vollendung.

 

Das Zitat aus den Abschiedsreden: «Vater, ich will, dass, wo ich bin, auch die bei mir seien, die du mir gegeben hast, damit sie meine Herrlichkeit sehen, die du mir gegeben hast.» (Joh 17,24)

Bild: Tod Mariens, Kunstmuseum Basel

Zum Todestag meines Vaters