Freiheit wird Unfreiheit wird Freiheit

Wie hat es angefangen, schief zu laufen auf dieser Erde? Auch die Antike hat die Frage schon radikal gestellt. Auch die Antike kannte schon ökologische Zerstörungen in einem Ausmass, das die Menschen erschrecken liess – ob wohl die Welt aus ihrer Schuld zerstört werden könnte?

Mythologische Antwort
Der römische Dichter Ovid erzählt von einem goldenen Zeitalter, wo jedes Wesen aus eigenem Antrieb Gesetz und Treue übte. Diese vollkommene Welt ist verloren, so dass wir die Forderung nach Gerechtigkeit nur noch in unserem Wissen, nicht mehr in der Erfahrung wiederfinden. Einen der Gründe für diese Entartung sieht er auch im menschlichen Verhalten. Das goldene Zeitalter degenerierte zum silbernen und dann zum eisernen Zeitalter. Hier „flohen Scham, Wahrheit und Treue“ von der Erde und es brach „jeglicher Frevel hervor“.

Auf der Erde wohnten damals Giganten. Als diese anfingen, den Himmel zu erstürmen und die Gefahr bestand, dass sie ihren Frevel dorthin tragen könnten, bis die Ordnung der Sterne durcheinandergeriete, stürzte sie „der allmächtige Vater“ hinunter. Ihr Blut benetzte die Erde. Daraus entstand ein neues Geschlecht von Menschen. „Doch auch dieses Geschlecht verachtete die Überirdischen, war grausam, gewalttätig und erfüllt von unstillbarer Mordlust – man sah, dass es aus Blut entsprossen war.“ Ovid erzählt, wie der Mensch zum Wolf entartet und wie Jupiter die Erde und alles Leben in einer Flut ertränkt. Nur Deukalion und Pyrrha entkommen – in ihnen macht das Leben einen neuen Anfang auf der Erde.

Ähnlich erzählt die Bibel von einer Welt, die im Ursprung vollkommen war. Darum tragen wir das Wissen, wie es sein soll, in uns. Auch die Bibel schildert eine „ontologische Daseinsminderung“. Das Gold des Ursprunges verblasst, so dass Unrecht, Krankheit, Tod auftreten. Auch hier trägt der Mensch eine Schuld an dieser Entwicklung („Sündenfall“), sie erzählt von Sintflut und Neuem Anfang in Noah und seiner Arche.

Ein Philosoph enträtselt den Mythos
Wie lässt sich die Schuld des Menschen verstehen? Was ist das Verhalten, das die Ur-Vollkommenheit zerstört? Das wäre so etwas wie der „Urknall“ der Menschwerdung, sein Ausgang aus der Unschuld des Naturwesens, der Beginn der Zivilisation. Die Paradiesgeschichte erzählt von der Versuchung Adams. Durch seine Schuld wurde er aus dem Paradies vertrieben und das Menschengeschlecht lebt seither in Not und Schmerz.

Sollte Adam der Einzige sein, der die Schuld beging und wir Menschen unschuldig gestraft? Sollte Adam der Einzige sein, der frei gewesen war, und wir Folgenden nur Erben seiner Schuld? – So legt es der Gedanke der „Erbsünde“ nahe.

Der Philosoph Sören Kierkegaard meint: So erzählt, nützt mir das nichts. Zwar kenne ich die Erfahrung von Unfreiheit, dass ich mich beim besten Willen verfehle. Aber ich habe auch eine Intuition von Freiheit, die ich wahrnehmen muss, wenn mein Leben gelingen soll.

Sich gleichzeitig machen mit Adam
Kierkegaard erzählt die Geschichte von Adam neu – so dass diese nicht in eine mythische Vorzeit gerät und wir nur noch Nachfolger sind, die hier ihre „condition humaine“ erfahren. Er macht sich „gleichzeitig mit Adam“. Er tritt in den Mythos ein. Er verwandelt ihn in eine Freiheitsgeschichte. Er fragt: Wie ist es denn zu verstehen, dass aus Freiheit Unfreiheit entsteht? Was ist damals geschehen im Paradies? Was geschieht hier auf dieser Erde immer wieder, so dass die Vertreibung sich immer neu wiederholen muss?

Was genau tue ich, dass ich immer wieder aus dem Paradies vertrieben werde? Was kenne ich an mir, was mich und mein Verhalten so verändert, dass es mir nicht mehr selber angehört, dass ich mir selber fremd werde? In welchen Situationen geschieht es, dass ich mich selber im Stich lasse und gegen besseres Wissen und Vertrauen handle, so dass ich das Falsche tue, obwohl ich das Richtige will?

Angst
Es ist die Angst! – Sie verwandelt mich. Sie übt jene Kraft der „Metamorphose“ aus, von der Ovid erzählt. Sie lässt das Gold in Silber und Eisen verrotten, sie weckt in mir den Wolf. Darum sieht man mir den Menschen nicht mehr an, als der ich gedacht war. Darum finde ich das Richtige nicht mehr in meinem Handeln, sondern nur noch in einem Wissen, das ich gegen alle Erfahrung in mir trage. Darum lebt das Ziel, das ich mir ersehne, nur in einem Hoffen, das ich kontrafaktisch gegen alle Erfahrung aufrechterhalten muss.

Sicherheit vs. Vertrauen
Aus Angst vor dieser Welt, in der ich mich vorfinde, will ich sie kontrollieren. Ich klammere mich an Dinge dieser Welt, die ich nicht verlieren will, und verfehle so mein Leben. Wenn ich zwanghaft etwas festhalte, kriege ich die Hände nie frei, die ich brauche, um zu handeln. Und was es auf dieser Welt gibt, zwischen Leben und Tod, das verlangt mein Handeln. Wenn ich aber zu viel tue, wenn ich Tod und Leben aus eigener Kraft bewältigen will, verzweifle ich und verfehle mein Leben.

Ich muss es ins Vertrauen setzen, dass es gehalten ist aus jener Anfangs-Kraft, die alles ins Leben rief, und auch mein Leben. Wenn ich aber alles nur noch ins Vertrauen setze und denke, Gott wird es schon richten, verfehle ich mein Leben ebenfalls.

Kierkegaard rekonstruiert die „Erbsünde“ und erklärt, wie Freiheit in Unfreiheit umschlagen kann: durch die Angst, die mit der Freiheit der Entscheidung gesetzt ist. Aus Angst sucht der Einzelne Sicherheit und klammert sich ans Endliche. So verfehlt er sich selbst. Die „Synthese zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit“, die das Selbst ist, gelingt erst, wenn er sich als Glaubender aus der Unendlichkeit versteht und das Endliche loslässt. Dann wird er es wieder zur Verantwortung zurückerhalten, sodass er ein paradoxes „Dennoch“ zur Welt sprechen kann.

Sich gleichzeitig machen mit Abraham
Wie gelingt der Glaube? Wie kann ich vertrauen, gegen die Angst? Wie kann aus Unfreiheit wieder Freiheit werden? (In Bildern der Mythologie gesprochen wäre das wie eine Rückkehr ins verlorene Paradies.)

Kierkegaard rekonstruiert die Haltung, die Abraham zum „Vater des Glaubens“ macht. Abraham opfert seinen Sohn Isaak, erhält ihn aber zurück. Hat Abraham daran gezweifelt? Er machte eine „doppelte Bewegung“, und Kierkegaard merkt an, dass es ihm selber immer nur gelingen will, die eine Bewegung zu machen, aber nicht beide. Darum sieht er sich nur als Schüler des Glaubens.

Wie Abraham muss ich eine erste Bewegung machen und Isaak loslassen, ihn Gott übergeben im Sinn des Opfers, das er verlangt, im Sinn des Vertrauens, aus dem ich leben will. Dann muss ich aber eine zweite Bewegung machen und Gott mehr zutrauen, als ich fühle und sehe. Dass ich ihn übergebe und nicht zweifle, dass Gott das Opfer nicht will, dass ich ihn loslasse und dabei in keinem Moment verzweifle und vertraue, dass Gott ihn mir wieder geben wird.

Es ist ein riesiges Vertrauen. Das Verantworten wird nicht aufgehoben, es wird neu ermöglicht. Die Ethik verschwindet nicht in der Religion. Durch das in der Hingabe erlebte Vertrauen wird sie neu ermöglicht, wo sie an den Widerständen schon scheitern wollte. Ethik und Glaube bringen sich gegenseitig hervor. Vertrauen und Verantworten gehören zusammen. Es ist ein Ineinander: Nur wenn ich vertraue, kann ich verantworten. Wenn ich aber nicht Schritte mache in diesem Vertrauen, wenn ich es nicht im Handeln erprobe, stirbt es ab. So kann ich ohne handeln auch nicht glauben, ohne verantworten auch nicht vertrauen. So, erklärt Kierkegaard, kann aus Freiheit Unfreiheit werden. So kann aus Unfreiheit neue Freiheit entstehen, neue Verantwortung, wo das Leiden schon resignieren wollte.

 

Das Paradies
Der Philosoph spricht von Freiheit, der Theologe von Rechtfertigung. Der Mythos erzählt, wie das Paradies verloren wurde und wie wir es wiederfinden: das Paradies!

Bild, Giovanni di Paolo, The Creation and the Expulsion from the Paradise, c. 1445

Das Reformationsfest wird in Deutschland Ende Oktober gefeiert, in der Schweiz am ersten Sonntag im November. Aus der Lesung zum Reformationsfest: «Sie sind allesamt Sünder und ermangeln des Ruhmes, den sie vor Gott haben sollen, und werden ohne Verdienst gerecht aus seiner Gnade durch die Erlösung, die durch Christus Jesus geschehen ist.» (Römerbrief 3,23f)

Literatur:
Publius Ovidius Naso: Metamorphosen. Deutsch Düsseldorf 2005
Søren Kierkegaard: Der Begriff Angst, deutsch Frankfurt am Main 1984

Beachten Sie: Traumatisierte Freiheit – eine Erinnerung an die Erbsünde