Urlaub im Alltag

Es ist anstrengend, das Leben mit Kindern, immer präsent zu sein. Auch das Berufsleben fordert uns bis ins letzte. Gut, dass es im Alltag immer wieder Inseln gibt, wo wir auftanken können, wo wir uns wohl fühlen, wo alles irgendwie leichter geht, die Arbeit, die Begegnungen. Es ist, als ob wir dort in besonderer Weise in uns selbst ruhten.

Nicht Freizeit
Was ist es denn, was diese Inseln so schön macht? Es ist nicht unbedingt die Freizeit, oft erleben wir solche Inseln auch in der Alltags-Arbeit, es ist dann ein Bereich, den wir besonders gern machen. Es ist nicht das Ausruhen; oft arbeiten wir dann sogar besonders intensiv, aber es läuft irgendwie spielerischer, mit weniger Anstrengung, mehr von innen heraus. Es ist mit weniger Kampf verbunden. Es liegen keine Konflikte im Weg, die Energie absorbieren, weil wir dort auf innere Widerstände stossen und gegen uns selber kämpfen. Die Pferde, die unsern Wagen ziehen, sind oft an verschiedenen Seiten des Wagens angeschirrt. So ziehen sie und ziehen, und der Wagen kommt nicht vom Fleck. Bei diesen Inseln ist es anders; da ziehen unsere Kräfte am selben Ort, und es geht ohne Kampf, mit kleinem Aufwand.

Inseln der Gegenwart
Was diese Inseln so schön macht ist die Gegenwart: dass es uns dort gelingt, gegenwärtig zu sein, und das heisst auch ganz in Übereinstimmung mit uns selbst zu sein. Da ist kein schlechtes Gewissen, das uns antreibt, keine Angst, die uns lahmlegt. Wir müssen nicht vorausdenken und uns gegen Eventualitäten vorbereiten – und wenn der Moment kommt, spulen wir das Vorbereitete ab und wir zwingen den Moment in die Vorstellung, die wir früher davon hatten. Aber es passt dann nicht. Es passt nicht für uns, es passt nicht für die andern beteiligten Menschen. Der Moment lebt dann nicht aus der Gegenwart, sondern aus Bildern, die wir uns von ihm machten. Da ist die Freiheit aufgehoben, es darf sich nichts ereignen. Alles soll so ablaufen, wie geplant, weil das Sicherheit verspricht. Alles ist unter Panzerglas, oder im Märchenbild gesprochen: alles ist verzaubert und liegt wie unter einem Glasberg. Es will – wie im Märchen – „erlöst“ werden.

Aus dem Glasberg
Erlösung wäre, wenn sich diese Inseln verbreitern könnten. Im Märchen wären es Tore, durch die wir in eine andere Welt eintreten könnten, eine Welt der Ruhe und Übereinstimmung. Und diese Ruhe wäre nicht Stillstand, unser Handeln wäre von seinen Blockierungen befreit. Diese Tore gibt es, wir können durch sie eintreten. Die Inseln können sich ausbreiten. Wenn wir begriffen haben, dass es nur daran liegt, dass wir ganz gegenwärtig werden, dann scheint das doch immer möglich, nicht nur in bestimmten Bereichen unseres Alltages. Warum soll ich nicht schon in dieser Haltung aufstehen, zur Arbeit gehen oder das Frühstück machen? Warum soll ich nicht auch jenen Bereich meines Alltags, der mir Bauchschmerzen macht, aus dieser Haltung leben?

Was uns am Alltag Mühe macht, ist meist nicht der Alltag selbst, sondern Erfahrungen, die er wachruft. Der Alltag mit seinen Aufgaben erinnert uns an schmerzhafte Erlebnisse. Da steigen alte Gefühle wieder hoch, da klinken sich alte Verhaltensweisen ein, die wir als Reaktion auf solche Situationen gelernt haben. Wir haben für das Aufstehen einen bestimmten Ablauf, in dem wir uns nicht stören lassen wollen. Der Abend hat sein Gerüst – genau so muss er ablaufen, wenn wir uns erholen wollen. So sind grosse Teile des Alltags wie in Ritualen gefangen. Sie beschneiden unsere Freiheit – auch wenn wir wollten, könnten wir oft gar nicht von unseren Gewohnheiten abgehen – aber sie geben uns Ruhe, sie helfen Stress abbauen, sie verhindern, dass wir mit alten Ängsten konfrontiert werden.

Eingefroren
Diese Ruhe ist nicht die Ruhe, die wir in jenen Inseln erleben. Das hier ist die Ruhe unter dem Glasberg, der unerlöste Zustand. Die Ruhe der Inseln ist nicht in Rituale gebannt, sondern frei. Da wird Energie nicht eingefroren, sondern sie fliesst. Da fliehen wir nicht aus dem Augenblick, sondern werden gegenwärtig. Gegenwärtig zu sein, ist also unerhört schön, aber auch unerhört schwer, weil es bedeutet, sich mit seinem ganzen Leben zu konfrontieren.

Es heisst, die Verantwortung für sein ganzes Leben zu übernehmen, nicht nur im Tun, sondern auch im Leiden, nicht nur in dem, was unser guter Wille tun möchte, sondern auch in dem, was uns widerfährt, nicht nur für die Zukunft, sondern auch für die Vergangenheit. Einfach gegenwärtig sein, alles kommen lassen und nicht davonlaufen, sich nicht in Rituale der Zerstreuung flüchten, nicht innerlich abschweifen.

Die Toskana im Alltag
In der Einsamkeit geht das besser. Es gibt eine alte Tradition der Lebensweisheit, die einsames Leben empfiehlt. Das muss nicht für immer sein, aber in bestimmten Situationen, für eine bestimmte Zeit. So lässt sich „Gegenwart“ im geschützten Rahmen einüben, weil die tägliche Überflutung fehlt. Unsere Zeit kennt keine Eremiten mehr, kaum noch Klöster. Und doch gibt es das in verwandelter Form noch immer: in Krisensituationen zieht sich jemand zurück. Jüngere besuchen vielleicht einen Kurs in der Toskana, Ältere machen eine Kur. Und der Versuch, durch Urlaub dem Alltags-Stress zu entfliehen und wieder aufzutanken, gehört zum massenhaft geübten Lebensstil.

Es ist aber auch im Alltag möglich. Was alte Lebensweisheit empfiehlt, wird auch heute wieder gelebt. Da gibt es Gruppen, die buddhistische „Achtsamkeit“ üben. Man atmet, lässt alles auf sich zukommen, rezitiert vielleicht Verse. Das gibt es aber auch in der christlichen Tradition. Dort ist es die Schule des Gebets. Das klingt vielleicht altmodisch. Es sieht nach nichts aus, es geht unter im Marktgeschrei des Neusten und Allerneusten. Aber es ist schön. Es ist ein Weg.

 

Mehr zu diesem Thema finden Sie in dem Text «Innen und Aussen», auf der Menüleiste unter «Downloads»

Foto von Monica Silvestre

Aus Notizen 1997