Wachsen und reifen

Nun ist es schon über drei Monate her, dass Sandra geboren ist. All die kleinen Entwicklungsschritte, die wir bei der Älteren beobachtet haben, werden wir jetzt bald auch bei Sandra sehen können. Bald kann sie aufrecht sitzen. Mit einem Jahr etwa wird sie sich aufrichten und gehen. So jedenfalls war es bei der Älteren. Aber wie sie das gemacht hat, das Gehen Lernen, ich könnte es nicht sagen. An einem bestimmten Tag – wir haben ihn in ihr Fotoalbum geschrieben – konnte sie es einfach.

Oder das Trockenwerden – im Vorfeld schien mir das wie ein Mysterium. Mütter von andern Kindern haben auf dem Spielplatz erzählt, wie schnell es ihr Kind geschafft habe. So entstand bei mir der Eindruck, dass da wohl spezielles pädagogisches Geschick dahinter stehen müsse. Aber eines Tages brauchte Deborah die „Pampers“ einfach nicht mehr. Ich war dabei, aber wie es ging, könnte ich nicht sagen.

Wie werden Kinder gross?
Und so ist es mir mit vielem gegangen, was Deborah in den letzten Jahren gelernt hat. Im Vorfeld machte ich mir grosse Gedanken, was da auf uns zukomme. Plötzlich war da ja ein Kind, plötzlich waren wir nicht mehr nur zwei Erwachsene, sondern eine Familie. Plötzlich hätten wir all die Dinge wissen müssen, die man braucht, um eine Familie gross zu ziehen. Aber es kam alles nacheinander. Das Baby hat schon in den ersten Tagen klar signalisiert, was es braucht. Und dann ging alles Schritt um Schritt. Wie es ging? Ich könnte es nicht sagen. Ich war dabei und weiss es doch nicht.

Auch beruflich hat sich bei mir in dieser Zeit viel getan. Ich habe ja vom Journalismus zum Pfarrberuf gewechselt. Das sind ganz andere Herausforderungen. Der Pfarrer kann sich nicht hinter einer äusserlichen Berufskompetenz verstecken. Er steht immer wieder vor Menschen, und die spüren, was er ausstrahlt. Seine Persönlichkeit gehört mit zu seinem Arbeitsinstrument. Nun kann man seine Persönlichkeit nicht machen, aber man kann in den Herausforderungen wachsen, mit allen Rückschlagen und Niederlagen, die dazu gehören.

Wie wächst man im Leben?
Das Wachsen geschieht aber selten kontinuierlich, so dass wir immer souveräner würden. Gerade wenn wir uns stark fühlen, wartet ein Rückschlag oft um die Ecke. Denn dann fühlen wir uns stark genug, etwas an uns herankommen zu lassen, dem wir vorher immer aus dem Weg gingen. Und wenn das Neue, Unbekannte, Grosse dann kommt, dann kommen auch wieder Zweifel und Unsicherheit – zu Ende ist es mit der Souveränität, bis auch diese Lebensaufgabe wieder eine Antwort findet. So habe ich in den vergangenen Jahren vieles gelernt, viele Ängste ausgekostet und abgelegt. Ich war in allen Auseinandersetzungen intensiv dabei. Aber wie es vor sich ging, dass ich da wieder raus kam: ich weiss es nicht.

Und ich denke, das gilt auch für die Sorgen, die wir uns heute machen: Wir werden wieder daraus auftauchen, auch wenn wir heute noch nicht wissen, wie das vor sich geht. Was am Schluss hinter all diesen Herausforderungen steht, ist nicht eine Rezeptsammlung, wie man’s machen muss. Mit Rezepten getraut sich keiner auf einen schwierigen Weg. Es ist ein Vertrauen, das schwer in Worte zu fassen ist, das uns aber auch dann noch begleitet, wenn alle Rezepte versagen. Vielleicht können es diese Worte zum Ausdruck bringen:

„Wenn der Herr wendet unser Geschick, da sind wir wie Träumende.
Da ist unser Mund voll Lachens und unsere Zunge voll Jubels.
Da spricht man unter den Völkern: der Herr hat Grosses an ihnen getan.
Ja, der Herr hat Grosses an uns getan, darum sind wir fröhlich.“ (Ps 126).

(Aus dem Buch „Geborenwerden, wachsen und reifen, Notizen 1992 – 1998.
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