Umkehren – was soll das sein?

Was bedeutet «Umkehr», der Ruf, der in der Bibel an zentraler Stelle erhoben wird? Auch die Politik hat den Umkehrruf übernommen. Wie kehrt man um? Ist es ein ethisches Tun oder eine Glaubenshaltung? Ein politisches Programm oder moralischer Selbstaufruf?

Die Situation übernehmen
„Umkehr“ ist nicht nur eine „Umkehr von falschen Wegen“, sie bedeutet auch, nicht mehr davon zu laufen, getrieben von der Angst im Nacken, sondern sich umzudrehen, dem entgegenzusehen, wovon man davonläuft: Es ist Katharsis, Entspannung, Läuterung, Ruhe, Erlösung in einem psychologischen Sinn.

Es heisst, im Vertrauen auf Gott in die Angst hineinzugehen, aus der Unfreiheit in die Freiheit (das Kreuz auf sich nehmen, wie die religiöse Sprache formuliert), so dass die höchste Unfreiheit in höchste Freiheit umschlägt: im „Ja“ sagen, zu sich, im Annehmen seiner Situation. So entsteht im Augenblick die Fülle, im Bruch die Ganzheit. Die Lebenslust beginnt wieder, aus dem Bauch empor zu sprudeln, wo sie eingesperrt war. Die Kreativität wird befreit wie beim Anblick einer Klaviatur, einer leeren Bühne, die auf den ersten Auftritt wartet.

Wie kann Unfreiheit in Freiheit umschlagen?
Was ist das für eine „Freiheit“, die aus der Unfreiheit entsteht? So möchte man misstrauisch fragen. Und was für eine „Unfreiheit“, die in Freiheit umschlagen kann?

Wenn Glaube und Theologie von Gott handeln und vom Verhältnis von Gott und Welt, wenn ihr Thema das Heil ist, die Ganzheit, wie immer man sie aussagen will: als Reich Gottes, Auferstehung, Gericht, neue Schöpfung, Erlösung, Versöhnung, wenn sich dieses Thema erhebt vor dem Hintergrund der doppelten Intuition von Verantwortung und Vertrauen, dann hilft die Frage zunächst weiter, was der Einzelne in dieser Lage tun kann. Kierkegaard sagt „Resignation“, die Propheten sagen “Umkehr“, die Kirche sagt „Busse“, das Neue Testament sagt „Metanoia“ (Umdenken). Die Sinnesänderung, die Ausrichtung, das ist die „Metanoia“.

Ändert eure Ausrichtung!
Das ist der Ansatzpunkt für die Verhältnis-Bestimmungen, das ist der Punkt des Umschlags von Freiheit in Unfreiheit und umgekehrt. So wie „Metanoia“ kein Phänomen der Ethik oder des Glaubens allein ist, so ist die involvierte Freiheit oder Unfreiheit keine ethische oder Glaubens-Freiheit oder -Unfreiheit. „Umkehr“ ist das, was die Predigt, die Verheissung, die Seelsorge dem Angesprochenen zumutet oder in Ansicht stellt, selbst wenn sie von einer Position der „Erbsünde“ ausgeht, welche ethische Handlungsfähigkeit verneint und die Glaubensfähigkeit korrumpiert sieht.

Die Freiheit in der Unfreiheit
Es ist eine Freiheit der Ausrichtung, die in Unfreiheit umschlagen kann und eine Unfreiheit des Verhaftet-Seins, die in sich doch in jedem Augenblick die potentielle Freiheit des Sich-Anders-Ausrichtens birgt. So ist das Ganze in jedem Augenblick und jeder Augenblick kann das Ganze sein. So kann das Leben als Ganzes in jedem Augenblick gelingen oder verloren gehen, und es ist im nächsten doch wieder revidierbar. So kann der Verbrecher am Kreuz neben Jesus in seinem letzten Augenblick gerettet werden. (Lk, 23, 39ff)

Hier werden Sein und Sollen miteinander versöhnt, ohne dass das eine ethische Tat-Vermittlung wäre oder nur eine symbolische Repräsentation des Ganzen im Teil. Es ist keine „fromme Illusion“, die der ethischen Verantwortung im Wege stünde, wie man frei nach Marx kritisieren könnte. Sondern so wird Ethik allererst ermöglicht, weil es zur Konstitutionsbedingung der Ethik im Subjekt gehört, dass das in den Normen ausgedrückte „Sollen“ und das dem handelnden Subjekt als Handlungsfeld zugewiesene „Sein“ sich letztendlich vermitteln lassen. (Kants praktische Postulate).

Der Umkehrende – um es noch ganz deutlich auszudrücken – lässt weder die Hände in den Schoss sinken: „Lieber Gott, bringe du die Welt in Ordnung!“, noch macht er sich selbst zum Helden, zum Subjekt der Geschichte, zum Subjekt absoluter Autonomie, das alle Existenzbedingungen selber in Händen hält, sie reproduzieren kann und sich auch selber hervorgerufen hat.

Nicht Theorie, nicht Praxis, ein eigenes Reich
In der “Umkehr“ als Ansatzpunkt von Glauben und Verheissung werden also Sein und Sollen versöhnt und diese Umkehr ist nicht: ethische Vermittlung, noch symbolische Repräsentation der Ganzheit im Teil (wie im Sakrament, im Gottesdienst), noch „ästhetische“ Uminterpretation, noch theoretische Tatsachen-Behauptung. Das Nachdenken darüber fällt also weder in die praktische noch in die theoretische Philosophie, allenfalls noch in die alte „Weisheit“, wo Vertrauen und Verantworten eins sind. Nachdenken und Lebenspraxis sind aufeinander bezogen. Das Nachdenken gleicht dem Anhalten des Wanderers, der aufblickt, um sich zu orientieren und der sich orientiert, damit er gleich danach die Reise fortsetzen kann.

 

Aus Notizen 1988
Foto von Maxim Titov, Pexels

«Heute noch wirst du mit mir im Paradiese sein»: Vielleicht das bewegendste Beispiel einer Neu-Ausrichtung findet sich in der Passionsgeschichte. Wie Unfreiheit in Freiheit umschlagen, wie das Leben in einem Augenblick gelingen kann, beschreibt sie im Verhalten der zwei Verbrecher, die neben Christus gekreuzigt werden. Der eine verhöhnt ihn: «Bist du nicht der Christus? Hilf dir selbst und uns!» Der andere sagt: «Jesus, denk an mich, wenn du in dein Reich kommst! Jesus antwortete ihm: Amen, ich sage dir: Heute noch wirst du mit mir im Paradiese sein.» (Lk, 23, 39ff)