Umdenken – ein religiöser Begriff macht Politik

Mit den Umweltproblemen sind in den letzten Jahrzehnten auch neue Bewegungen in Politik und Gesellschaft entstanden. Der Radikalisierung der Problem-Wahrnehmung entsprach dabei die Radikalisierung der gesuchten Antworten. Das meint nicht zwangsläufig eine politische Radikalisierung, sondern eine Vertiefung der Suche nach Ursachen und Abhilfen. Dabei spielt auch die christliche Tradition eine Rolle, wie das Wort «Umdenken» deutlich macht, das seit den 80er Jahren politisch Karriere machte. Wie das Wort «Wende» entstammt es einer ethisch-spirituellen Sphäre. Der einzelne mit seinem Verhalten soll «erweckt» werden (auch das Wort «woke» hat eine religiöse Tradition) und einen Beitrag leisten, ohne den es nicht mehr geht.

In der Fastenzeit rufen die Kirchen wieder zum «Umdenken» auf. Umdenken ist ein ethisch-religiöser Begriff und geht auf den Umkehrruf Christi in Mk 1,15 zurück. Fast vergessen ist, dass diese Tradition in den letzten Jahrzehnten wichtige Beiträge zu gesellschaftlich-politischen Debatte geleistet hat. Ein Rückblick in die 80er Jahre zeigt die Zusammenhänge. (Ich zitiere aus ich einem Beitrag, den ich 1987 für die Nachrichtenagentur KIPA geschrieben habe.)

Unsere Zeit versucht, sich in ihren Problemen und Hoffnungen neu zu verstehen, und greift dabei auf verschiedene Traditionen zurück. Nicht an letzter Stelle stehen dabei christliche Traditionen, wie etwa das Wort „Umdenken“ zeigt: Ursprünglich ein ethisch-religiöser Begriff, ist es zu einem Hauptschlagwort der politischen Debatte geworden.

Der prophetische Bussruf
In welcher Art die christliche Tradition in die politische Debatte einging, lässt sich am leichtesten dort verfolgen, wo die Kirchen ausdrücklich nach dem Beitrag fragen, den sie zur Bewältigung der Gegenwartsprobleme leisten können. Die Reformierte Zürcher Landeskirche hat in den letzten Jahren begonnen, ihren Standort in dieser Zeit neu zu bestimmen. In einer „Disputation“ nach dem Vorbild der Reformation wurde versucht, die evangelische Tradition für die Probleme der Gegenwart fruchtbar zu machen.

Die Disputation teilt das Gefühl existentieller Bedrohung angesichts der angesprochenen Problemkreise. Hier wird es aufgefangen durch eine Versicherung an der christlichen Heilsbotschaft: Das Heil des Menschen im „eigentlichen“ Sinn steht schon fest, in aller Bedrohung; doch erfordert das eine „Umkehr zu Gott“, eine Änderung der Lebensführung, die bei jedem einzelnen beginnen muss, um sich darauf bis ins Grosse von Wirtschaft und Gesellschaft fortzusetzen.

Verantwortung und religiöse Hoffnung
Hier begegnet der Begriff „Umdenken“, der heute als Schlagwort fast in jedem politischen Artikel zu lesen ist, in seinem ursprünglichen, religiös-ethischen Umfeld. Er geht auf den biblischen Begriff „Metanoia“ zurück, der Sinnesänderung bedeutet und gewöhnlich mit „Busse“ übersetzt wird. Zur Umkehr haben ursprünglich die alttestamentlichen Propheten aufgerufen; im Neuen Testament meint es die Umkehr zu dem in Christus gewirkten Heil. Dadurch wird die Rettung aus den Zeitübeln zwar von einem individual-ethischen Verhalten erwartet. Angesichts der Überforderung durch die unüberwindlich scheinenden Zeitprobleme endet dieser Appell aber deshalb nicht in Resignation, weil die Welt hier religiös begriffen wird: Die Umkehr ist eine Umkehr in ein bereits bestehendes Heil.

Eine Variante dafür bietet die in den letzten Jahren stark angewachsene „New Age“-Bewegung. Sie erwartet aufgrund astrologischer Konstellationen ein „neues Zeitalter“, das alle Konflikte zur Versöhnung und Einheit bringen soll. Das Bedrohungsgefühl wird also durch eine Hoffnung aufgefangen, dass es eine „kosmische Ordnung“ nicht nur in der Natur, sondern auch im Ablauf der Geschichts-Epochen gebe. Die Geschichte mit ihren Zeitübeln ist dann nicht mehr allein vom Menschen zu verantworten. In der Ausweglosigkeit historischer Probleme ist der Mensch zwar zum Handeln aufgerufen, doch ist die Versöhnung der Gegensätze nicht mehr allein von seiner Verantwortungsfähigkeit abhängig.

Radikale politische Ethik
Von diesem Ansatzpunkt her geht die Disputation äusserst radikal mit ihrer Zeit und mit der Politik ins Gericht: Es werden fundamentale Änderungen verlangt und Modelle gesucht, die über die “etablierten Systeme“ von Kapitalismus und Kommunismus „hinausführen“. Auf den ersten Blick scheint hier die Radikalität der 60er Jahre wieder aufgebrochen zu sein. Die politische Kritik scheint die Systemfrage neu entdeckt zu haben. Doch die Radikalität der Disputation verdankt sich nicht einer ökonomisch-gesellschaftstheoretischen Systemkritik – wie das der Tradition der Linken entspricht -, sondern einer ethisch-religiösen Neuorientierung aus einem Krisengefühl.

Die wahrgenommene Bedrohung überschreitet das Mass gewohnter politischer Probleme; dementsprechend müssen Ursachen-Analyse und Hoffnungs-Perspektiven fundamentaler begründet werden. Die Disputation spricht weniger von Utopien als vom „Reich Gottes“, weniger von politischen Lösungen als von „Heil“, das in seinem absoluten Gehalt von politischem Handeln nie eingeholt werden kann.

Wende-Bewusstsein
Die Disputation sieht unsere Gesellschaft und unsere Zeit in einer „Sackgasse“ – ein Begriff, der in der politischen Debatte heute fast ebenso häufig zitiert wird wie „Umdenken“. In einer Sackgasse steht man an einem „Ende“ und muss eine „Wende“ von 180 Grad vollziehen, um wieder herauszukommen. Auch dieser Begriff geht über die Möglichkeiten politischer Verantwortung weit hinaus. Was man in einer Entscheidung um 180 Grad wenden kann, sind nicht wirtschaftliche oder politische Strukturen, sondern ethische Orientierungen. Dort gibt es eine Wahl zwischen einander diametral entgegengesetzten „Wegentscheiden“, zwischen Gut und Böse, zwischen Gott und Welt, zwischen moralischen Alternativen der Lebensführung.

Im allgegenwärtigen Schlagwort der „Sackgasse“ steckt ein populäres „Ende- und Wendebewusstsein“, das über die Reichweite politischer Begriffe hinausgeht und – meist unbewusst – religiöse Dimensionen beinhaltet. Die Disputation, die es unternimmt, bewusst diese Zeit aus der christlichen Tradition zu deuten, macht somit deutlich, wie sehr solche Traditionen in den populären Wortschatz eingegangen sind.

 

Foto Strassenschild Sackgasse
Aus einem Beitrag für die Katholische Internationale Presseagentur, KIPA, vom 1. Mai 1987
Der Umkehrruf Christi steht in Mk 1,15: «Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um und glaubt an das Evangelium!»