Der starke Gott

Ich lese in letzter Zeit vermehrt Propheten. Ich blieb dort hängen, wenn ich die Bibel aufschlug, weil ich dort ein Echo auf meine Empfindungen fand. Die Gefühle und Reaktionen gegenüber den Ereignissen unserer Zeit finden dort eine Entsprechung. Hier finde ich mich wieder, hier finde ich auch die Intuition auf Gerechtigkeit. Hier den starken Gott, der den Dingen gewachsen ist…

Auch heute sind viele Menschen aufgewühlt, ganze Völker sind in Bewegung. Es gibt wieder starke Emotionen: Empörung, Protest, politische Mobilisierung. Begeisterung in der Erfahrung des Miteinanders und Enttäuschung im Stocken der Reformprozesse. Es gibt Leiden und Freuden in den Kämpfen, Trauer bei Gewalt, Wut und Hass, Verhärtung. Und die Metamorphose all dieser Reaktionen im Verlauf von Widerstand, Stocken, Unterdrückung – bis zu Resignation, Verzweiflung, Depression, Sublimierung, Terror…

Das findet kein Echo in den üblichen Lesungen am Sonntag. Wer so in die Bibel schaut, wird nervös, die Unruhe treibt ihn weiter. Ausser, er schlägt sie bei den Propheten auf. Da findet er vieles wieder: die starken Emotionen, den Aufschrei über Unrecht; Wut und Ohnmacht unter der Übermacht; Ermüden; mal Verzweifeln dann wieder Empörung…

Die Wut wird gezügelt, sie wird auf Gott übertragen. Da ist das Hoffen auf seinen Zorn, die Angst vor seinem Zorn. Die Bitte um Zuschlagen, die Angst vor Zuschlagen. Die Frustration, wenn nichts erfolgt. Sich selber bereden, um die Flut seiner Gefühle einzudämmen, dass diese nicht alles mit sich reissen. Das Reden von Gnade, Aufschub und „langem Mut“ (gnädig und langmütig ist der Herr…).

So schrieb ich 2011 im Tagebuch. Der «starke Gott» stand im Zentrum jenes Jahres und die Frage nach Gerechtigkeit. Auch der «dunkle Gott» zeigte sich in Erfahrungen, die irritierten. «Gilt das nicht mehr, dass wir von Gott gehalten sind, dass er uns einen guten Weg führt? Zeigt die Wirklichkeit hier ein abgründiges Gesicht? Wird der Boden plötzlich löchrig und abschüssig, auf dem wir bisher standen? Müssen wir schwarzsehen für den Weg der Menschheit? Müssen wir Angst haben für unsere Kinder und Ihre Zukunft?»

Im Jahr 2011 ging es um die Atomkatastrophe in Fukushima, um den «Arabischen Frühling», um Kämpfe in Libyen und Syrien, um die Finanz- und Schuldenkrise im Euroraum. Auch Artensterben und Klimakrise waren damals schon präsent.

Es sind Erfahrungen, die uns bis heute umtreiben. Sie stellen die Frage, wie wir real mit den Problemen umgehen – aber auch im Glauben. Dazu weisen die Propheten einen Weg.

Aus dem Vorwort zu «Der starke Gott», Notizen 2011
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