Auftreten

Vor hundert Jahren wurden die Propheten entdeckt. Aus dem Nichts schienen sie aufzutauchen und traten den Mächtigen entgegen. Eine richtige Propheten-Begeisterung erfasste die Kultur und die Dichter träumten, die Wahrheit so sagen zu können, dass sich darunter die Welt verändert.

Gerechtigkeit, das ist das grosse Thema der Propheten. Das ist ein Grund, warum diese biblischen Gestalten heute neu entdeckt werden. Gerechtigkeit wird oft vermisst im Leben. Das kann sein im individuellen Leben, aber noch viel mehr in Gesellschaft und Wirtschaft. Steuerzahler retten mit vielen Milliarden eine Bank. Manager erhalten trotzdem Millionen-Boni. Die Wirtschafts- und Finanz-Krise zwingt viele Staaten zu grossen Einsparungen: Viele Menschen fürchten um Einkommen, Altersrente, Ausbildung für Kinder. Andere leben in grossem Luxus.

Gräuel
In der Zeitung lesen wir von Gräueln, die wir uns kaum vorstellen können. In Libyen wurden Gefängnisse von Gaddafi geöffnet. Man hat Folterkammern gefunden. Folter – früher dachte man, das gehöre ins Mittelalter. Aber es gehört auch zur Moderne. Sklaverei – das schien überwunden. Heute nimmt sie wieder zu. Millionen von Menschen werden unfreiwillig zur Arbeit gezwungen. Es gibt Menschenhandel, auch in die Schweiz.

Viele Gräuel. Kein Wunder, werden Propheten wieder vermehrt gelesen. Bücher erscheinen. Auch „Gericht“ und „Zorn Gottes“ sind wieder Themen. Es heisst, die Kirche habe zu lange den „lieben Gott“ gepredigt und den Gott vernachlässigt, der Gerechtigkeit fordert. Sie soll nicht nur immer vom Heil reden, sondern auch von den Pflichten, die man hat. Und dass Gott Rechenschaft fordert.

Die Entdeckung der Propheten
Es gab schon einmal eine Zeit, da hat man die Propheten entdeckt. Und es gab eine richtige Propheten-Begeisterung, nicht nur in der Kirche, sondern in der ganzen Kultur. Das war im 19. Jahrhundert. Da hat man angefangen, die Bibel historisch zu erforschen. Und man entdeckte, dass man die Reihenfolge der Bücher ganz anders ordnen müsste, wenn man nach der Entstehungszeit vorginge. Nicht die fünf Bücher Moses stehen am Anfang, nicht die erzählenden Werke waren zuerst. Die Propheten waren früher, und was in den Moses Büchern steht, war sehr von ihnen beeinflusst.

Ein Gott, der den Dingen gewachsen ist
So entdeckte man die Propheten als eine Art „religiöser Genies“. Aus dem Dunkel der Geschichte tauchen sie auf und machen einen starken Auftritt. Kirche und Religion waren schon im 19. Jahrhundert in den Hintergrund gedrängt. Die Wissenschaft hatte ihren Siegeszug angetreten. Religion schien wie eine primitive Vorstufe der Wissenschaft. Gleichzeitig wuchs aber die Sehnsucht nach Religion. Und das umso mehr, je mehr die Gesellschaft nur noch von Wirtschaft, Geld und Nützlichkeit bestimmt war.

In dieser Zeit entdeckte man die Propheten: Gestalten, die wie aus dem Nichts auftauchen und eine starke Botschaft haben. Auch vor den Mächtigen schreckten sie nicht zurück. Sie traten ihnen entgegen mit einem starken Gott.

 

Aus «Der starke Gott», Notizen 2011
Bild: Der Prophet Jesaja von Giovanni Pisano