Weder Herr noch Knecht

Die kirchliche Mission hat heute einen schlechten Ruf. Der Aufbau der europäischen Kolonialreiche im 16. (Kolonialismus) und im 19./20. Jahrhundert (Imperialismus) führte zu Ausbeutung und Unterdrückung der Lokalbevölkerung und zu kriegerischen Auseinandersetzung zwischen den Kolonialmächten.

Nach dem 2. Weltkrieg wurden die Kolonien aufgehoben. Auch das britische und Französische Weltreich wurde weitgehend auf die Mutterländer reduziert. Die Wirtschaft löste sich aus den nationalen Grenzen. Die Nationalstaaten, die den Aufbau der Wirtschaft mit ihrer Staatsmacht unterstützt hatten, wurden jetzt als Hindernisse empfunden für die globale Entfaltung. Die Wirtschaft strebte über die Grenzen der Nationalstaaten hinaus.

Dem entsprach auch eine andere Begegnung auf kultureller Ebene. Die Zeit, als Europa kolonisatorisch auf die ganze Welt ausgriff, war getragen von einer universellen Wahrheitsbehauptung, was sich in der Mission der unterworfenen Gebiete abzeichnete.

Eine säkularisierte Version für diesen Vorgang ist die Unterwerfung von ganz Europa unter das napoleonische Frankreich. Es war getragen von der Behauptung, „allen Völkern das Licht der Aufklärung“ zu bringen und sie an den Errungenschaften der Französischen Revolution teilhaben zu lassen. Die Gegenwehr in Deutschland, die preussischen Befreiungskriege, gingen darum einher mit einer relativierenden Gegenerzählung: Jede Epoche, jedes Volk, jedes Land sei unmittelbar zu Gott und habe einen je eigenen Geist, der eine Individualität darstelle.

So war auch die Entkolonisierung nach dem 2. Weltkrieg getragen von einem Geist der Relativierung. Die Moderne, die in der Globalisierung ein Modell über alle Kulturkreise gespannt hatte, wurde abgelöst von einer Post-Moderne, die anstelle der universalistischen Behauptung eine relativierende Zurückweisung setzte.

Diesem Wechselbad von universalistischen Wahrheitsbehauptungen und relativierenden Auflösungen ist auch das religiöse Denken unterworfen. Es erfasst auch die Gläubigen in den Heimatländern, die gar nichts im Sinn haben mit Kolonien oder globalen Interessen. Ihnen wird das Glauben schwer gemacht. Dagegen hilft die Einsicht in dieses historische Schaukelspiel. Es ist interessegeleitet: Jeder Ausgriff auf andere Kulturen ist begleitet von universalistischen Wahrheits-Behauptungen, jede Abwehr von solchen Übergriffen sucht Hilfe in Positionen, die die „Wahrheit“ relativieren oder die Erkennbarkeit skeptizistisch zurückweisen.

Was aber ist der Anspruch von christlichen Glaubensaussagen? Soll Christus, der seinen Jüngern die Füsse wusch, dazu helfen, die Welt zu beherrschen? Soll er, der für das Recht der Kleinsten eintrat und selbst einen Aussätzigen berührte, herhalten für eine Weltanschauung, wonach alles gleichgültig ist?

 

Aus: „Das Halbierte Evangelium, Notizen 2011“. Dieses Büchlein kann vom Download-Bereich dieses Blogs heruntergeladen werden. Einige Texte finden sich auch als Streiflicht auf der Menüleiste.

Bild Kolonialherr in Togo, 1885, public domain