Das halbierte Evangelium

Alles was uns hindert, das Credo nachzusprechen, soll hier angesehen und weggeschafft (oder doch besprochen) werden. So schrieb ich im Nachwort des hier angezeigten Büchleins. Als Ziel genommen, wäre es anmassend. Ich bin fast ohne Absicht hier gelandet. Am Ende meiner Pfarrerlaufbahn empfand ich, wie wenig ich dem gerecht wurde was ich als notwendig empfand. Und ich wollte die letzten Jahre vor der Pensionierung benutzen, um Stellung zu beziehen.

Coming Out
Das weckte viele Widerstände – nicht unbedingt von aussen, aber in den inneren Widerständen steckten doch die Konflikte und Anpassungs-Leistungen eines ganzen Lebens. Ich hatte das Gefühl, der Verantwortung meiner Generation noch nicht gerecht geworden zu sein und schrieb einen Glaubens-Kurs aus, in dem ich systematisch allen Hindernissen nachging, die uns hindern, das Glaubensbekenntnis nachzusprechen. Wenigstens zum Ende meines Pfarrerdaseins wollte ich ein Credo zustande bringen, hinter dem ich voll stehen konnte.

Die Hindernisse waren nicht nur kognitiver Natur, sondern auch psychologischer Art. Ich dachte, abgeschossen zu werden, wenn ich zu dem stünde, was mir wichtig ist. Und es glich einem eigentlichen Coming Out, als ich den Kurs öffentlich abhielt – mit all den Ängsten von Abwertung und Kleingemacht Werden, die mich vor einem solchen Schritt früher abgehalten hatten. Dabei ging es nicht nur um mich und dass ich zur Geltung komme. Ich fühlte, dass ich das unseren Kindern schuldig war. Sie sollten nicht einen Vater sehen, der sich immer hinter die Aufgabe duckt, statt die Herausforderung anzunehmen und erkennbar hervorzutreten, auch wenn es etwas kostet.

Solche Bedenken gehören nicht in ein Credo, kann man vielleicht sagen. Aber der Glaube ist keine objektive Grösse, es ist immer der Glaube eines Menschen, hat Teil an all seinen subjektiven Bestimmungen. Das kratzt vielleicht am Lack einer Glaubenslehre, die wissenschaftliche Geltung sucht. Es ist aber das Lebenselement eines Glaubens, der durchs Leben helfen soll. Und darum geht es mir in diesem «Credo»: um einen Glauben, der im Alltag helfen soll wie der Schuh, den ich am Morgen anziehe, wie der Gruss, mit dem ich auf Menschen zugehe, wie das Bitte und Entschuldige, das mir den Weg durch das soziale Zusammenleben weist, wie das Gebet, mit dem ich abends schlafen gehe und alles Gott anvertraue.

Scham
Warum wird das Evangelium zurückgewiesen? Aus Scham. Scham ist nicht nur deshalb ein Thema, weil man sich als „Frommer“ heute lächerlich macht. Der Zusammenhang mit Glauben ist viel tiefer. Wer sich schämt, möchte sich am liebsten im Erdboden verkriechen, er kann nicht auftreten. Er kann nicht zu dem stehen, was ihm wichtig ist. Er verrät sogar sein Heiligstes, weil er sich selbst verloren hat. Bevor er nach aussen auftreten kann, muss er lernen, was ihm wichtig ist. Er muss es achten und wertschätzen lernen. Er muss erst einen Altar in seinem Inneren aufbauen, bevor er seinen Glauben aussen vertreten kann.

Scham ist auch eine Folge von Übergriffen. Wer zu Scham neigt, provoziert solche Übergriffe. Er ist wie ein Tanzbär, der den Ring schon in der Nase trägt. Man muss nur sein Seil hindurchschlingen und schon kann man ihn tanzen lassen. Die Kirche ist kein Milieu, das speziell zu Übergriffen neigt. Es gibt aber auch hier eine Konkurrenz um knappe Güter wie Achtung, Einfluss, Geltung, wie überall in der Gesellschaft. Wer schamhaft reagiert, der ist leicht ausser Konkurrenz zu setzen. So muss der Glaube gerade auch gegen die Kirchenerfahrung gefunden und durchgesetzt werden.

Spott und Hohn
Spott und Hohn scheinen nichts mit Glauben zu tun zu haben, ja sie scheinen das Gegenteil zu sein. Sie tauchen an den zentralen Stellen der Bibel auf, wo es um Glauben und seine Gegner geht. Spott und Hohn sind Erscheinungsweisen des Glaubens in anderer Form. Es sind Verfallsformen, die auf ein Leiden hinweisen. So hindern sie den Glauben nicht einfach. Sie rufen nach ihm und brauchen ihn. Die Glaubenstradition hat es als Leiden begriffen, das nach Heilung ruft. Es sind Leidensstationen des Glaubens selbst.

Spott und Hohn führen beim Verspotteten zu Scham und Schande. Das sind wesentliche Momente für die «Halbierung des Evangeliums»: dass der Glaubende verstummt. Er kann vom Glauben nicht mehr reden, weil es die Selbstachtung im Innersten verstört.

So ist der Weg zum Glauben ein Weg aus Scham und Schande. Und umgekehrt: Der Weg aus Scham und Schande ist ein Heilungsweg für Glauben und Vertrauen. Und es ist ein Heilungsweg, wenn ein Mensch lernt, das Credo nachzusprechen. Es heilt den einzelnen wie die Gemeinschaft.

 

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