Eine Mystik des Wortes

Zum Reformationstag am 31. Oktober

Die Reformation ist eine Epoche in der Geschichte, die auch nach 500 Jahre nichts von ihrer Wirkung eingebüsst hat. Das kann uns wieder bewusst werden, wenn wir sehen, wie andere Kulturen mit ihrer heiligen Schrift umgehen.

Die heiligen Schriften
In der Schrift geht es um den Glauben selbst. Die Reformation hat die Bibel dem Volk gegeben in der Überzeugung, dass in der Überlieferung Gott selber zu Wort kommt. Im geschriebenen Wort kommt das «lebendige Wort» zum Hörer. Christus, von dem das Evangelium berichtet, ist im Heiligen Geist «gegenwärtig». Er bezeugt das Gehörte, spricht den Hörer an und lässt ihn teilhaben an dem Heilsgeschehen, von dem die Evangelien berichten.

Aus der Begegnung mit der Bibel kann so eine unerhörte Kraft erwachsen. Immer wieder haben Menschen erlebt, wie ihr Leben durch die Begegnung mit dem Bibelwort umgewandelt wurde. Aus dieser Quelle sind auch grosse diakonische Werke entstanden, die später teils in Institutionen der staatlichen Gesundheits- und Sozialfürsorge aufgingen und das soziale Denken in Europa und weltweit geprägt haben.

Das Christentum macht einen Unterscheid zwischen Sprachgestalt und Inhalt. Letztlich beruht das auf der Lehre, dass Gott in Christus Mensch geworden ist. Gott geht in die Geschichte ein. Das öffnet den Weg zu einem geschichtlichen Verständnis der Offenbarung. Christus, das lebendige Wort, durch das Gott die Welt geschaffen hat (Joh 1), wird „Fleisch“.

Historisierung und Relativierung
Die Offenbarung wird geschichtlich. Damit öffnet sie sich aber auch der historischen Kritik. Im 19. Jahrhundert (unter dem Einfluss des Historismus, der dem Relativismus zuneigt) hat die Historische Kritik zu einer extremen Relativierung der Bibel geführt. Das hat prompt Gegenreaktionen ausgelöst.

Bibelkritik wurde bei den Traditionsbewussten zu einem Schimpfwort. „Die glauben ja nicht“, heisst es. „Sie legen die Bibel allenfalls noch allegorisch aus. Auferstehung wird ihnen zu einem Bild für „neue Hoffnung“. Auslegung streckt sich nach der Decke der wissenschaftlichen Erkenntnis und schneidet alles ab, was darüber hinausgeht.“ Als Schutz gegen eine solche Relativierung lehren sie eine Verbalinspiration der Schrift. So verstehen sie die Bibel wörtlich, auch wo diese in Bildern und Symbolen redet. Das ist das andere Extrem, das den christlichen Glauben in Konflikt mit der Wissenschaft führt.

Mystik und Wissenschaft
Die Reformation – und das macht ihren bleibenden Wert aus -, geht einen Mittelweg zwischen diesen Extremen. Sie sieht hinter dem Wort der Bibel das lebendige Wort. Christus ist im Heiligen Geist gegenwärtig. Er begleitet die Verkündigung des Evangeliums. Er beglaubigt das Wort am Hörer und macht es heilswirksam.

So wird die Glaubenstradition geachtet, aber auch der lebendige Gott, der im Gebet erfahren wird. Auf diesem Weg kann der Glaube lebendig bleiben, ohne sich in einem Ghetto gegen die moderne Kultur abschliessen zu müssen. Da ist Raum für Mystik und für Wissenschaft.

Die Reformation feiern?
Ende Oktober erinnern sich die Kirchen der Reformation an ihren Ursprung. Die Relativierung und Infragestellung des Glaubens im Namen der «historischen Kritik» hat sich seit dem 19. Jahrhundert verschärft. Es verleitet dazu, die Tradition einfach zu verabschieden. Gesucht ist eine Haltung, die diese Balance wahrt zwischen wissenschaftlicher Rationalität und der Vertrauenshaltung des Glaubens. Denn diese kann einer Halbierung des Vernunft-Begriffs im Namen der Wissenschaft entgegenwirken, die sich letztlich auch gegen humane und soziale Werte richten würde, die in der Bibel hochgehalten werden.

 

Aus dem Buch «Heulen, Zähneklappern und Himmelfahrt – Für eine Rückgewinnung des mythologischen Erzählens in der reformierten Kirche». Notizen 2003

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