Wo beginnt ein Weg und wo endet er? Wie soll man einen Anfang erzählen und wie das Ende? Muss eine Geschichte einen Abschluss finden, soll der Knoten gelöst, das Verlorene gefunden, das verletzte Recht geheilt werden, dann reicht es nicht, nur den Abbruch eines Ereignisses zu erzählen. Die Geschichte ist dort nicht fertig, der Konflikt nicht gelöst. Das wurde mir besonders deutlich, als ich wieder einmal Gottfried Kellers Buch «Der Grüne Heinrich» las.

Endlose Mühen um das Ende
Ich möchte etwas lesen und nehme ein Buch aus dem Gestell: „Der Grüne Heinrich“ von Gottfried Keller. Als ich ihn öffne, ist es der vierte Band, der Abschluss. Den zweiten Teil lese ich nicht so gern, ich weiss aus seinen Briefen, wie sehr er um den Abschluss seiner Biographie gerungen hat. Er ist nicht so lebenssatt gelungen. Wie kann er auch von etwas berichten, das noch gar nicht stattgefunden hat?

Er musste zur Mythologie Zuflucht suchen. Mit ihren Bildern kann man etwas zu einer Gestalt runden, auch wenn man die Details noch nicht kennt. Was mich damals störte, vielleicht gefällt es mir jetzt? Ich beschliesse, den «Grünen Heinrich» nochmals zu lesen. Ich schlage das letzte Kapitel auf. Wie hört es wohl auf?

«Alles schien zurückgekehrt»
Als Feuerbach-Leser glaubt Keller nicht mehr an die finale „Wiederbringung aller Dinge“. Als Autor weiss er aber, dass eine Reise ein „Ankommen“ verlangt. So lässt er das Geschick am Ende wenigstens die Judith zurückbringen. (Auch wenn er kauzig anführt, dass „diese Aufdringlichkeit des Zufalls“ ihn eher ängstlich und beklemmend als freudig berührte, weil „dieser Machthaber“ Zufall sich förmlich zu seinem Führer aufzuwerfen schien.)

Heinrich ist beruflich aufgestiegen. Aber er ist enttäuscht und lebensmüde. Auf dem Weg von einer Verrichtung nach Hause zurück, lässt er sich treiben. Er verirrt sich in ein vergessenes Tal seiner Heimat, kein Haus ist zu sehen, kein Mensch begegnet ihm. So hängt er seinen Erinnerungen nach. Aber in der Ferne sieht er auf einem Felsenweg eine Gestalt auf und niedersteigen, wie ein Engel auf der Himmelsleiter. Er geht hin und findet Judith, die Geliebte seiner Jugend. Und „Jugendglück, Heimat, Zufriedenheit, alles schien in seltsamer Weise mit Judith zurückgekehrt.“

Der Tisch Gottes
Das letzte Kapitel trägt den Titel: „Der Tisch Gottes“! Es ist eine grosse alte Tradition, das Ende der Zeit als Festmahl am Tisch Gottes zu denken. Ich erinnere mich an meine Besuche im Katholischen Gottesdienst. In der Eucharistie, am Abendmahlstisch, gibt es ein Gebet, wo von Maria, den Aposteln und allen Heiligen die Rede ist. Das hat sich bei mir festgesetzt und ist zu einer Phantasie ausgewachsen, „wie es am Ende sein wird“:

Ich gehe auf einem Weg. Weit vorne sehe ich Tische unter Bäumen. Menschen sitzen dort zu einem Fest. Mein Weg – ich sehe ihn vor mir liegen – führt rechts daran vorbei. Da kommt mir jemand von den Tischen her entgegen. ER ist es und er lädt mich ein zu dem Fest. Aber darf ich hingehen? Und kann ich all diesen Menschen begegnen? Auf dem Weg fällt mir siedend heiss alles ein, was nicht gut gewesen ist in meinem Leben. Und ich erinnere mich an das Unrecht, das ich erfahren habe. Alles taucht wieder auf, alles wird angesehen. Wie ich so neben ihm hergehe, verschwinden Scham und Gram. Und ich gehe zum Fest.

Ende ist eine metaphysische Kategorie
Keller ist ein Feuerbach-Leser. Aber er erzählt Geschichten. Das Ende einer grossen Erzählung hat eigene Erfordernisse. Hat die Erzählung von Odysseus das zum ersten Mal auf eine säkulare Ebene gehoben? Zu einer Reise gehört das Ziel, zu einem Aufbruch das Ankommen. Ohne Ziel und Ankommen gibt es auch keinen Aufbruch und keine Reise. Es wäre nur ein chaotisches Hin und Her. Zum Ankommen gehört Gerechtigkeit, auch das Wiedersehen, die Wiedereinsetzung in das Verlorene, die Erfüllung der Sehnsucht.

Keller bemüht keine Metaphysik. Das vollmundige dogmatische Verkünden von Erfüllung und Erlösung ist nach Feuerbach und mit einem materialistischen weltanschaulichen Hintergrund nicht möglich. Aber er schneidet das Erfordernis der Gestalt nicht ab, sondern erfüllt es auf andere Art: indem er seine Erzählung mit einem Zauber umgibt. Die Poesie hellt den Realismus auf. Er geht auf den Pfaden der alten Mythologie, spinnt diese aber neu in einer Art Mythopoesie. Zauber, frz. Charme, griechisch Charis, heisst deutsch Gnade! So ausgestattet kann er dann auch die sieben Legenden schreiben. Er deutet die göttliche Gnade sanft um für eine Leserschaft, die nicht mehr an einen persönlichen Gott glauben mag. Aber wieviel Poesie ist in einem solchen Glauben! Und wieviel Wahrheit!

Keller lässt die Erzählung nicht in einer formellen Ehe ausmünden. Das denn doch nicht, das Glück ist gefährdet und hat keine institutionellen Statthalter auf Erden. Heinrich und Judith finden sich, sie treffen immer wieder auf ihrem Weg zusammen, sie gehen ihn miteinander, aber nicht in der Form einer Ehe, die nach der Vorstellung zwei Wege aufhebt und das Ganze auf eine neue Ebene hebt. „Sie mochte zu viel von der Welt gesehen und geschmeckt haben, um einem vollen und ganzen Glück zu vertrauen“, schreibt er von Judith.

Ende ist eine soziale Kategorie
Das Ankommen bei Odysseus hat wie das religiöse Bild der Vollkommenheit auch eine soziale Dimension. Die Gemeinschaft wird erneuert, das Unrecht wird geheilt, so wird ein Zusammenleben in Frieden möglich. Diese „Reich-Gottes-Vorstellung“ parodiert Keller auf amüsante Weise. Er schildert, wie seine Seldwyler nach Amerika auswandern und ihre unsolide Lebensweise auch in den Kolonien fortführen. Judith wirkt als Volkserzieherin und treibt ihnen die Flausen aus. So ist sie auch eine Art Helvetia-Figur, eine Mutter des Vaterlandes.  Die Schweiz hatte damals, 1848, einen neuen Anfang gewagt.

 

Foto von David Brown, pexels
Aus Notizen 2015