„Oben ohne“

Ein Pfarrer, der sich „Oben-ohne-Theologe“ nennt, fordert dazu auf, endlich zuzugeben, dass „Gott“ nur „eine Chiffre für Hoffnung, für Mut“ sei und dass ihm sonst keine Realität zukomme.

Die „Oben-ohne-Philosophie“ stammt aus dem 19. Jahrhundert, als die Religions-Kritik noch eine politische Funktion hatte. Nachdem sie erst das Bürgertum gegen die mit dem Adel verbündete Kirche vorgetragen hatte, formulierten es jetzt die unteren Schichten und ihre philosophischen Wegbereiter (Marx und andere). Und das Bürgertum wechselte die Seite.

Ende der 1830er Jahre berief das liberale Bürgertum den deutschen Reform-Theologen D.F. Strauss nach Zürich, um mit theologischer Kritik gegen die Konservativen in Kirche und Schule vorzugehen. In den 40er Jahren machten sie dem Schneidergesellen Wilhelm Weitling den Prozess, als dieser in seinem „Evangelium der armen Sünder“ Christus zum ersten Kommunisten erklärte. Ihm wurde u.a. Blasphemie vorgeworfen. Die Kirchenkritiker waren zu Kirchenhütern geworden.

Damals war Religions-Kritik noch mit einem emanzipatorischen Impuls versehen, sie diente gesellschaftlichen Interessen und konnte auf wirkliche Übelstände hinweisen. Eingebettet war sie in eine Metaphysik-Kritik, die sich nicht nur gegen die Religion richtete, sondern gegen jede Form einer spekulativen Totalisierung in der Wirklichkeits-Auffassung. Das war nicht nur eine Absage an die Religion, sondern ein gesamtkulturelles Phänomen, das man als „metaphysischen Karfreitag“ bezeichnet hat. (Die Aussage, dass „Gott tot“ sei, war keine Aussage mehr im Sinn der Karfreitags-Erzählung, sondern eine philosophische Wirklichkeits-Behauptung.)

Oben mit
Damals standen diese kulturellen Positionen im Dienst gesellschaftlicher Auseinandersetzungen. Heute diese Kritik zu wiederholen, wirkt billig. In einer Zeit globaler Desintegration, wo Staaten zerbrechen, Institutionen versagen, wo der gesellschaftliche Zusammenhalt von immer neuen Konfliktlinien durchbrochen wird, wo die Menschen Mühe haben, ihre psychische Gesundheit aufrecht zu erhalten und Beobachter vor einem „System-Crash“ warnen, heute braucht es Arbeit am Ganzen, am Zusammenhalt, an einem Fundament, das verbindet.

Heute ist weniger Kritik gefragt als Begründung. Das heisst nicht Rückkehr zu einem unkritischen Geist, es ist eher die Aufforderung zu mehr Kritik im kantischen Sinne. Wirkliche Kritik dringt bis zu den Fundamenten vor, von wo her falsche Behauptungen kritisch zurückgewiesen und richtige begründet werden können.

 

Foto von Jerome Dominici, Pexels

Aus Notizen 2017

Die Aufforderung des «oben-ohne-Pfarrers» findet sich in „Zürcher Unterländer“ 7.1.17, S.21)

Die Aussage vom „System-Crash“ findet sich in «Tages-Anzeiger Magazin» 7.1.17, S.4)