Kirchenregiment im liberalen Zürich

Zürich war damals keine provinzielle Ecke in Europa, sondern stand an vorderster Front der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Entwicklung. Was hier geschah, fand damals weite Beachtung. Der Liberalismus fand in Zürich eine Heimstätte, als in Europa noch Restauration und Reaktion das Feld beherrschten. Der Versuch, die Kirche dem liberalen Zeitgeist zu unterwerfen, fand weitherum Beachtung und das Wort „Putsch“ ging von Zürich aus in die deutsche Sprache ein. – Auslöser war eine Revolte der Untertanenbevölkerung gegen das liberale Kirchenregime.

Der Staats-Theologe und der Putsch der Landschaft
Das 19. Jahrhundert ist noch einmal eine Zeit intensiver Auseinandersetzung mit Religion, weil diese v.a. in der Landschaft, bei den ehemaligen Untertanen, noch lebendig war und zur Legitimierung von Forderungen herangezogen wurde.

Die liberale Obrigkeit kontrollierte Kirche und Religion. Sie säkularisierte Kirche und Schule und verstaatlichte den Klosterbesitz. Um Kirche und Glaube in ihrem Sinn zu formen, berief sie den Hegel-Schüler David Friedrich Strauss auf den neugeschaffenen theologischen Lehrstuhl, was eine Revolte der Landschaft auslöste, die das Wort „Putsch“ in der deutschen Sprache verankerte.

Das Armen-Evangelium im Gefängnis
Einige Jahre später besuchte der Schneidergeselle und Frühsozialist Wilhelm Weitling Zürich. Auch er fasste ein «Evangelium» ab für die Bedürfnisse der Zeit, diesmal aber nicht im Sinn der liberalen, sondern der sozialen Forderungen.

Während Strauss zum Professor der theologischen Lehranstalt berufen worden war (und unter dem Protest der Landschaft zurücktreten musste, bevor er sein Amt antreten konnte), wurde Weitling inhaftiert und aus der Stadt ausgeschafft. Die Arbeiterbewegung hat ihm mit einem Strassennamen bei einer Baugenossenschaft ein ehrendes Andenken in Zürich verschafft.

Der eine leitet vom Reich Gottes Forderungen ab für die Gestaltung der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse. Der andere „erklärt“ Jesus philosophisch und hebt so seine religiöse und soziale Brisanz auf. Hier versucht ein Vertreter des Handwerksburschen-Sozialismus Christus als Helfer der Armen zu denken, dort übernimmt eine liberale Obrigkeit die Verwaltung von Theologie und Kirche und passt sie den neuen politischen Gegebenheiten an.

Glaube, Wirtschaft, Politik
Es geht in dieser Kontroverse nicht nur um das rechte Verständnis des Christentums, es geht viel mehr noch um die Verwendung religiöser Kategorien für soziale und politische Forderungen. Solche waren schon in der Reformationszeit vorgebracht worden, bis zur Konfrontation in den Bauernkriegen.

Das Entstehen einer Arbeiterschaft im 19. Jahrhundert gab noch einmal Anlass für ein Ernstnehmen der Bibel in den sozialen Auseinandersetzungen, bis weltanschauliche Ideologien das Feld übernahmen. Auf den christlichen Schwärmer Weitling folgte der Systematiker Marx, der aus Hegels System einen «wissenschaftlichen Sozialismus» ableitete.

Theologie?
Wie war der Umgang mit dem Evangelium in dieser Zeit? Es gerät zwischen die Fronten der sozialen und politischen Auseinandersetzungen. Es hilft, die eigene Situation zu verstehen und dient für die Legitimation von Forderungen. Das kann aber auch zynisch erfolgen, wenn also keine innere Bindung an die biblische Begründung besteht, wenn nur ihre soziale Bedeutung für eigene Zwecke eingesetzt wird. In diesem Sinn haben politisch dominierende Gewalten immer auch die Deutungshoheit über Religion und Kirche beansprucht und durchgesetzt.

 

Bild: «Straussenhandel» und «Züriputsch» – Attacke der Dragoner auf die protestierende Menge 1839 in Zürich.

Weitere Notizen zu dieser Frage finden sich auf der Menü-Leiste im Streiflicht «Das halbierte Evangelium»

Aus Notizen 2012