Generalklausel

Bald ist Advent. In Betrachtung eines Bildes mit der Geburt Jesu frage ich: Woher kommt die Erlaubnis für positive Zuwendung, für Trösten, Zusprechen, Aufrichten? – Seine Menschwerdung ist wie eine „Generalklausel“ für den Zuspruch.

So wie die politischen Gemeinden in unserer Rechtstradition den Auftrag und das Recht haben, Gefahren abzuwenden, wenn die öffentliche Sicherheit und Ordnung bedroht wird, und nicht für jeden Einzelfall eine gesetzliche Ermächtigung brauchen, so gibt uns Gott eine Ermächtigung, das Heil, das er gewirkt hat, in jeder möglichen Form auszurichten.

So ist die Menschwerdung eine Generalklausel für den Zuspruch, um das Heil in kleine Währung auszumünzen. Gott kommt in die Welt. Er wird Mensch, und alles, was Mensch ist, wird umgeschmolzen. Und der schreckliche Abstand wird überbrückt. Er führt uns aus dem finsteren Tal. Er deckt uns den Tisch im Angesicht unserer Feinde und füllt uns den Becher randvoll.

Und wenn das unverstanden ist oder für die erschrockene Seele nicht reicht, um den Check zu decken, mit dem sie die Schulden der Vergangenheit bezahlen will und den sie mit ihrem Glauben und Hoffen auf die Zukunft aufnimmt, dann ist da noch sein Opfertod, die Auferstehung, die Neue Schöpfung.

Die fromme Phantasie
Damit kann die fromme Phantasie arbeiten. Es ist ihre Ermächtigung und Indienstnahme. So wird kreative Frömmigkeit möglich. So können wir das Heil imaginieren, es auf unser Leben beziehen. Wir sind nicht an den Buchstaben der Bibel gebunden oder an die Erlaubnis einer kirchlichen Instanz.

So haben schon die Autoren der Bibel gearbeitet, vgl. die Zitation und Darstellung im Neuen Testament nach den Bildern des Alten Testamentes. (Matthäus schildert Jesus als „neuen Moses“ und führt ihn nach Ägypten, macht ihn zum Gesetzgeber. Er wird als Kind verfolgt und gerettet wie Moses. Die Perikope mit der Sünderin ist ein Midrasch nach Daniel.)

Die Rabbinen wenden das auf Gesetzestexte an und auf Erzähltexte, so entstehen die halachitischen und die aggadischen Midraschim. Das Rechtsleben erfordert die Auslegung und Anwendung auf eine Vielzahl von Einzelfällen. So aber auch die Deutung und das Selbstverstehen in vielen Situationen des Lebens. So muss auch die Heilserzählung fortgesponnen werden, es braucht diese Generalklausel. Es ist nichts anderes als eine überfliessende Zusage des Heils, die alle kleineren Aussagen durch ihren Überschuss deckt.

Dazu passt ein Leseeindruck dieses Wochenendes. Die Zeitung bringt einen Beitrag über neuen Menschenhandel, Sklaverei, Folter und „Organraub“. (Erst stockt mir der Atem, ich lege das Heft weg, damit es nicht den Kindern in die Hände fällt. Dann werde ich kritisch. Mir fällt auf, dass keine überprüfbaren Angaben dabei sind. Ein EU-Bericht wird angesprochen aber nicht zitiert. Es ist unverantwortlich, auf diese Art zu publizieren. Früher hätte das einen Aufschrei bewirkt und die Mobilisation aller Ressourcen. Heute ist das Spiel kalkuliert. Es folgt keine Reaktion. Man liest es und bestätigt sich in der Meinung: Die Welt ist ein furchtbarer Ort. Sie geht zugrunde und es ist nicht schade um sie.

So wird nicht ein gesellschaftliches Handeln ausgelöst, sondern im Gegenteil, der bestehende Fatalismus gestärkt, der sich aus der Überzeugung nährt, dass die Probleme schon lange den Rahmen überschritten haben, wo Handeln noch möglich ist, wo es noch Sinn machte, sich aufzuregen, sich mit andern zu besprechen und nach einer gemeinsamen Lösung zu suchen.)

Eine Erzählung die allem gewachsen ist
Als ich noch unter dem Schock der Lektüre stand, unter dem Schock der Grausamkeit, Sinnlosigkeit, der objektiven Verzweiflung dieser Texte, notierte ich:

Ich kenne nur zwei Texte, die allem gewachsen sind: Den Fluch des Moses im ersten und die Foltergeschichte der Passion im zweiten Testament.

Dort ist die Negativität dieser Welt in überfliessender Fülle repräsentiert, wie in den oben zitierten Texten die Positivität von Gottes Heilshandeln.

Auch diese negativen Geschichten der Bibel haben Überschuss-Qualität: damit nichts uns schrecken muss, was wir je erleben – Gott kennt es, er hat es erfahren in seiner menschlichen Gestalt, im Leiden der Menschheit seit Anbeginn, von den Akten des Völkermordes in antiker und vorgeschichtlicher Zeit über den Holocaust vor 60 Jahren bis zu den Verzweiflungstaten der heutigen Zeit und den Schrecken, die wir in der Zukunft vor uns ahnen.

Gott ist nicht überfordert. Das ist unsere Angst, wenn die Menschheit immer neue Gräuel erfindet, wenn immer neue „Löcher“ ans Tageslicht kommen, immer mehr Nachrichten, bei denen wir uns entsetzen und aufspringen sollten. Aber soweit springen können wir gar nicht.

Aus Notizen 2013
Bild: Geburt Jesu, Giotto di Bondone, Cappella Scrovegni, Padua, 1304-06