Ausgespuckt

„Leider sehen wir uns gezwungen, Ihnen mitzuteilen…“ – Das Unglück kommt auf vielfältige Weise, manchmal mit einem Kündigungsbrief, manchmal ist es der Lebenspartner, der einem eröffnet, dass er andere Wege gehen will. Manchmal ist es jemand, der „Schande“ über die Familie bringt.

Gemeinsam ist den Betroffenen, dass sie mit ihrer Situation sehr allein sind. Denn mit „Verlierern“ will sich niemand abgeben. Auf der sozialen Rangordnung abzusteigen ist ansteckend, wer in Kontakt mit „Losern“ gesehen wird, zählt selbst dazu.

Stelle, Wohnung, Familie verloren
Heute sind es aber nicht mehr nur wenige, die von solchen Ereignissen betroffen sind. Die Wirtschaft spuckt immer wieder Arbeitskräfte aus, die zu alt oder zu krank sind oder nicht über das richtige Profil verfügen. Viele Unternehmen oder Privatpersonen, die sich übernommen haben, müssen Konkurs anmelden. Und in der Pandemie brechen die Wirtschaftszahlen ein.

Die Beziehungen halten einer zusätzlichen Belastung nicht immer stand und gehen auseinander. So trifft man immer wieder Menschen, die sich wie „ausgespuckt“ fühlen aus der Gesellschaft und aus ihrer alten Welt; eines zog das andere nach sich. Und schneller als gedacht ist alles verloren, was vor wenigen Monaten noch wie für ewig schien.

Normalbiographie
Was dem einzelnen widerfährt, gilt auch im grossen Massstab. Längst gibt es so viele Betroffene, die dem Bild der erfolgreichen Normal-Biographie widersprechen, dass die Bilder heute revidiert werden. Was heisst denn Erfolg und was Misserfolg? Wer gehört dazu und wer ist ausgestossen?

Schon in den 90er Jahren hat die Wirtschaft so viele Ausgestossene produziert, dass sich die Soziologie des Themas angenommen hat. Damals erschien eine «Soziologie des Abstiegs», die versuchte, die unbekannte Rückseite der Gesellschaft zu erkunden.

Was bedeutet Wert? Was gibt Halt? Was ist Würde? Diese Frage ist der ganzen Gesellschaft aufgegeben. Denn der Wachstumspfad, den sie bisher gegangen ist, geht so nicht weiter. „Hinunter wachsen“ ist eine Aufgabe auch für die Weltwirtschaft, denn die Erde ist endlich, wir verbrauchen schon so viele Güter, als ob wir zweieinhalb Erden hätten.

Es gibt Glücksgüter, die die Umwelt nicht belasten. Es gibt Anerkennung und Würde, die nicht an sozialen Status gebunden ist. Es gibt ein Zusammenleben, das nicht allein von Wettbewerb bestimmt ist. Da sind auch die „unteren“ geachtet und die „oberen“ werden nicht beneidet. Es gibt einen Weg „unten durch“, der nicht im Abseits endet, sondern nach oben führt: zu innerem Wachstum, zu einem solidarischen Zusammenleben und zu einem Frieden mit der Natur.

 

Beachten Sie das Streiflicht «Winner und Loser» (auf dem Menu-Band «Streiflicht» anklicken).
Das im Text erwähnte Buch ist von Martin Doehlemann, Absteiger. Die Kunst des Verlierens. Frankfurt/Main 1996.
Aus Notizen 2013
Foto von Travis Saylor von Pexels