Die innere Verarmung und Verhärtung

Im Prinzip ist es nichts Neues, nur das Auftauchen von Fremdenfeindlichkeit im Mittelstand, der sich bisher davon frei glaubte, auch in seinem liberalen und linken Spektrum, das bisher noch in einem Bewusstsein von Solidarität und Internationalismus gelebt hatte. Grund ist nicht Rassismus, sondern eine Begrenzung der Güter, eine Bedrohung der eigenen sozialen Situation, die plötzlich als bedrohtes Privileg wahrgenommen wird.

Woher die innere Verarmung, die Verhärtung?
Warum ändern Menschen ihre innerste politische und menschliche Einstellung, die Art, wie sie andern begegnen und auf Nachrichten reagieren? Ein Leben lang hielten sie die Solidarität hoch, stellten sich auf eine Linie mit anderen Menschen, unterstützten Bedürftige durch persönliches Engagement in Vereinen, Parteien, mit Spenden – und jetzt plötzlich ist es aus?

Vermutung: weil Schweizer-Sein plötzlich nicht mehr nur Schweizer-Sein bedeutet, sondern ein Vorrecht. In diesen Grenzen zu leben ist plötzlich keine Nebensächlichkeit mehr in einem internationalistischen Selbstverständnis. Die blosse Tatsache des Vorhandenseins hier und an diesem Ort ist plötzlich zu einem Privileg geworden, zu einem knappen Gut, das verbunden ist mit der Chance auf ein friedliches Leben, bei dem die Bedürfnisse gestillt werden können: die Kinder bekommen eine Ausbildung und der Ausblick auf den Lebensabend macht keine Angst.

Das blosse Dasein als Privileg
Das ist plötzlich bedroht, denn es reicht nicht mehr für alle, wenn man an seinen Werten von Chancengleichheit und Solidarität festhält. (So muss man sich von seinen Werten trennen oder sich der Angst um elementarste Daseins-Güter stellen.) Von allen Seiten strömen Flüchtlinge und Migranten nach Europa und in die Schweiz. Das Elend der Flüchtenden ist nicht mit anzusehen, wie sie von Schleppern ausgenommen werden, sich durch Wüsten durchschlagen, Bürgerkriegsgebiete durchqueren und zuletzt ihr Leben riskieren in kleinen Booten – aber es hat nicht für alle Platz.

Plötzlich ist das eigene Dasein ein Privileg, das man nicht mit allen teilen kann, man muss es verteidigen. Und man spürt, wie man innerlich verhärtet. Wie man sich wünscht, dass die Flüchtlinge anderswo durchgehen würden. Man hasst den Gedanken, aber man verhält sich wie ein Angehöriger der Oberschicht, die schon immer ihre Privilegien verteidigt hat.

Positionsgüter
Man begreift die Ökonomie der „positional goods“ (Fred Hirsch). Positionsgüter sind soziale Güter, es geht um die relative Position, die man einnimmt in der Gesellschaft. Wenn Zuschauer aufstehen, um eine Darbeitung besser sehen zu knnen, sehen die hinter ihnen Sitzenden gar nichts mehr. Solche Plätze sind begrenzt und können nicht beliebig vermehrt werden.

Knappheit im Elementaren
So ist es heutzutage aber auch mit Gütern, die man früher für Allgemeingut hielt oder die man sogar in einen Katalog der Menschenrechte eingeschrieben hat, in der Meinung, dass jeder Mensch diese Güter nutzen können muss, weil das Menschsein selbst davon abhängt: dass man in körperliche Unversehrtheit leben kann, in Sicherheit vor Diskriminierung und Verletzung. Dass man sich mit anderen Menschen vereinen darf, um seine Meinung kundzutun, dass man einem Staat angehören darf, der die Sicherheit gegen innen und aussen garantiert…

Das alles ist nicht mehr selbstverständlich. Staaten brechen zusammen, ganze Welt-Regionen versinken in einem Zustand von Unsicherheit, in dem sich nationale Stellvertreter-Kriege mischen mit tribalen Aufstands-Bewegungen, dem Versuch eines Nation-Building von Terrorgruppen und von War-Lords, die im Stil einer Soldateska plündernd und raubend durchs Land ziehen und aus Raub, Ausbeutung der Bodenschätze und Menschenhandel fette Gewinne ziehen…

 

Aus Notizen 4.8.15. (Was damals begann, ist als «Flüchtlingskrise» in die jüngere Geschichte eingegangen. Sie hat zu Strassenprotesten und Anschlägen geführt und die Parteienlandschaft durcheinandergeschüttelt.)

Foto von Ahmed akacha von Pexels