Der Sperling in seiner Hand

Heute soll es stürmisch werden, in den Bergen ist wieder Schnee angesagt. Als ich Morgengymnastik mache, sitzt eine Taube vor dem Fenster. Seit einigen Jahren schon sehen wir sie in der Nachbarschaft, freuen uns über ihr «Tu-tu-tu». Sie sucht einen Ort, wo es etwas geschützt ist. Ein Sturm ist angesagt.

Ein Spatz
Es erinnert mich an den Film «Elle» von Paul Verhoeven den wir gestern gesehen haben, im Rahmen der Filmreihe «Film und Psychoanalyse». Es ist eine nebensächliche Szene, geht fast unter in dem Lärm und der Gewalt des Filmes. Man meint, man dürfe das gar nicht erwähnen gegenüber dem Massenmord, der dort am Anfang steht. Und doch nimmt der Filmemacher die Szene wichtig. Sie steht nicht gegen all die andere Gewalt, es ist ein Ausdruck davon, kann wie symbolhaft für sie stehen: Ein Vogel knallt gegen das Fenster. Die Frau öffnet die Tür, die Katze schnappt sich den Vogel. Die Frau nimmt ihn ihr weg, legt ihn in eine Schachtel und ruft den Notfall an. «Einen Sperling», fragt eine Stimme ungläubig. «Ich weiss nicht, ob ich einen Sperling intubieren kann.»

Revolte
Es klingt wie eine Anklage. Sie, die Frau, hat als Kind schon einen Massenmord mitansehen müssen, sie macht sich auf und will dem Spatz helfen. Aber Gott hilft nicht. So die unausgesprochene Anklage. Es gibt grösseres Unglück, aber heisst es in der Bibel nicht, dass Gott selbst die Sperlinge behütet?

Hat Gott vielleicht diesen Spatz behütet? Die Frau, traumatisiert von Gewalt, stellt diese Frage. Es sind die Traumata dieser Zeit, die die Frage wieder aktuell machen. Es geht nicht nur um die Filmhandlung, der Massenmord findet statt, wo immer man die Zeitung aufschlägt.

Protest gegen Gott? Wird da der Film nicht zu ernst genommen, der von der Kritik als «erotischer Thriller» oder als «Rachefilm» ausgegeben wird? Paul Verhoeven hat, als er in den USA Filme wie „Basic Instinct“ drehte, theologische Kurse besucht. Er hat über 20 Jahre lang immer wieder an einem Jesus-Buch gearbeitet.

Kinderfragen
«Woher das religiöse Interesse?» wird Paul Verhoeven in einem Interview gefragt. «Das geht weit zurück, in meine Kindheit, als ich mit drei oder vier Jahren dachte, der Heilige Geist habe mich besucht. Es brannte in meiner Brust oder meinem Herzen. Daran habe ich mich später wieder erinnert, als ich längst wusste, dass das ein Kindheitserlebnis war. Man kann zwar nicht mehr wie ein Kind denken, aber das Erlebnis hat seine Wirkung, auch wenn der Verstand es besser weiss.»

«Mein Interesse für den Nationalsozialismus hat auch mit meiner Kindheit zu tun, damit, dass ich als kleiner Junge in einem besetzten Land gelebt habe. Mit fünf, sechs Jahren habe ich in Den Haag deutsche Soldaten kommen und gehen gesehen, Häuser wurden zerstört, Menschen deportiert. Ich bin mit dem Gefühl aufgewachsen, Krieg sei der Normalzustand

Der vermisste Gott
Glaubt er denn an Gott? «Wenn Sie an Gott glauben», meint Verhoeven, «wird das Leben einfacher. Für mich gilt der alte Satz der Atheisten: Gott existiert nicht, aber ich vermisse ihn sehr. (…) Ich würde ein anderes Universum bei weitem vorziehen, eine Welt, in der man die Leute, die man liebt, nicht verliert. (…) Warum sollen wir alles verlieren, eingeschlossen uns selbst? Die Aussicht macht mich zornig. Das jahrelange Leiden vieler Menschen ist doch einfach grauenhaft. Das ganze Buch ist in gewisser Weise ein Protest gegen die Schöpfung

So meint Verhoeven zu seinem Buch „Jesus. Die Geschichte eines Menschen“. Verfilmen würde er dieses Buch nicht. Was für Bilder liessen sich finden? «Schliesslich sind die Worte von Jesus wichtiger als alles andere. Sie sind das Echte. In ihnen steckt alles, was wir wissen müssen.»

 

Bibliographische Hinweise

  • Interview mit Paul Verhoeven von Andreas Kilb und Peter Körte, abgedruckt in: Ich protestiere gegen die Schöpfung. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, FAZ.net, 13. April 2009
  • Paul Verhoeven „Jesus. Die Geschichte eines Menschen“, Pendo-Verlag
  • Das Zitat vom Sperling stammt aus der Aussendungsrede Jesu: Lk 12, 6ff: «Verkauft man nicht fünf Spatzen für zwei Pfennige? Und doch ist nicht einer von ihnen vor Gott vergessen. Bei euch aber sind sogar die Haare auf dem Kopf alle gezählt. Fürchtet euch nicht! Ihr seid mehr wert als viele Spatzen. Ich sage euch aber: Jeder, der sich vor den Menschen zu mir bekennt, zu dem wird sich auch der Menschensohn vor den Engeln Gottes bekennen.»

Foto von Tommes Frites, Pexels