Die Überlebende

 

Nachts konnte ich nicht schlafen und stellte den Fernseher ein. Spät kam noch ein Film über den Völkermord in Ruanda. Ich erinnere mich, noch von meiner Arbeit im Journalismus her, die Gegend hiess „afrikanische Schweiz“, weil sie so grün war. Es war lange ein Schwerpunktland der Schweizer Entwicklungshilfe.

Dann dieser Ausbruch von Gewalt. Sie wurden gezielt über das Radio aufgehetzt. Dabei wurde auch die Bibel zitiert: Wer die Schlange im Haus dulde, müsse sich nicht wundern!

Was hat die Bibel damit zu tun?
Eine Million Tote. Getötet, vergewaltigt, Glieder abgehackt, gepfählt und gekreuzigt. Und es waren Nachbarn! Die alte Regierung hatte vorgearbeitet und allen Bewohnern einen Ausweis mit der Stammes-Zugehörigkeit ausgestellt. So musste man nur in den Ausweis sehen und wusste, wer ein Feind war.

Eine Schule wurde gezeigt. Die Gebäude standen noch, man konnte nicht glauben, dass dort solche Gräuel passiert sein sollten. Die Schule wurde als Mahnmal stehen gelassen. Die Zimmer waren voller Leichen. In der heissen Lehmerde waren viele Leichen mumifiziert worden. Ein Schulhaus des Schreckens.

Eine Gläubige wird gefragt
Eine Frau (eine Hand war ihr abgehackt worden, sie hatte überlebt) erzählte. Sie wurde als „Gläubige“ vorgestellt und gefragt, wie das ihren Glauben beeinflusst habe. Der Journalist erwartete offenbar die Antwort: einen Gott, der das zulasse, an einen solchen Gott könne man nicht glauben. Diese Frau war aber mitten drin in der Katastrophe. Sie sagte: Gott habe beschlossen, wer leben dürfe und wer nicht.

Unter anderen Umständen hätte das wohl Einspruch erweckt oder gar Hohngelächter. Aber jetzt, von dieser Frau, unter diesen Umständen? – Man spürte, der Journalist war beeindruckt. All die Toten, das wurde ihm selber zu viel, er hätte die Frau gern abgelenkt. Aber sie blieb am Thema.

Ein Satz zum Überleben
Es ist keine Theologie, was die Frau sagt, eher ein Überlebens-Satz, in dem aber viel Theologie steckt. Der Satz sagt: Gott grösser zu denken als das Unglück, das ist die Bedingung des Überleben-Könnens. Gott auch hier für „kompetent“ zu halten, ihn als „Herrn des Geschicks“ anzurufen, das ist eine Voraussetzung des Beten-Könnens. Es geht über alles hinaus, was man begreifen kann. Dass ehemalige Nachbarn sich zu hunderttausenden zu Tode prügeln, das kann man nicht begreifen. Das ist der Abgrund, der Ort, wo die Alpträume wahr werden. Da geht es um die Wahl: Gott zu glauben oder zu verzweifeln.

Diese Frau hilft mir, mich heute zu stellen, die Schrecken der heutigen Zeit nicht länger zu verdrängen, sondern hinzusehen. Später wurden im Fernsehen Bilder aus dem Zweiten Weltkrieg gezeigt. Früher war das der Inbegriff der Schrecken für mich: x Millionen Tote im Krieg! Heute wirken die Bilder seltsam fern: wie Panzerkolonnen über eine Brücke fahren oder in ein Dorf einrücken.

Krieg gegen die Bevölkerung
Heute operieren kleine bewaffnete Gruppen mit Raketenwerfen aus dem besiedelten Gebiet heraus und Flugzeuge bombardieren im Gegenzug ihre Stellungen. So werden regelmässig Städte und Wohngebiete in Schutt und Asche gelegt. Es ist ein Krieg nicht mehr zwischen Armeen mit altmodischen Ehrencodes, die weiterleben in einem Kriegs-Völkerrecht. Heute ist alles „liberalisiert“, auch der Schrecken. Es gibt nichts mehr, was grösser ist als die Willkür. Und diese ist entfesselt und den schlimmsten Pathologien ausgeliefert.

 

Foto von Elīna Arāja, Pexels
Aus Notizen 2015
In Den Haag läuft gegenwärtig (2022) das letzte große Verfahren vor dem Nachfolge-Gericht des Tribunals zum Völkermord an den Tutsi in Ruanda.