Erster Mai in der Kirche?

Die Kirche tut sich schwer mit dem Tag der Arbeit. In den Arbeitskämpfen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts hat sich die Arbeiterschaft unter dem Einfluss religionskritischer Bewegungen organisiert. „Religion ist Opium für das Volk!“ soll Karl Marx gesagt haben. Umgekehrt war die Kirche mit traditionellen Schichten verbunden und lehnte das sozialistische und kommunistische Gedankengut ab. Das hat ihr später den Vorwurf eingetragen, sie habe im 19. Jahrhundert «die Arbeiterschaft verloren».

Es gab zwar beeindruckende diakonische Initiativen, um die soziale Not der Arbeiterschaft zu verbessern. Doch blieb es bei dieser Entfremdung.

Ein Tag der Arbeit
Allmählich erkämpfte sich die Arbeiterschaft mehr Rechte. Die Arbeitszeit wurde begrenzt, es wurde ein Schutz bei Arbeitslosigkeit und Krankheit eingeführt. Dank Versammlungs- und Koalitionsfreiheit konnten sich die Arbeiter in Gewerkschaften organisieren und so schrittweise die soziale Situation verbessern.

Das Friedensabkommen von 1937 beendete die Zeit der Arbeitskonflikte in der Schweiz, die Sozialpartnerschaft begann. 1959 wurde die SP in den Bundesrat aufgenommen, die sog. Zauberformel besiegelte den Aufstieg der Arbeiter und den Übergang zu friedlichen Mitteln der politischen Auseinandersetzung.

Der 1. Mai, ursprünglich ein Kampftag, wurde zu einem Gedenktag für die Anliegen der Arbeiterbewegung. In vielen Ländern und Kantonen ist er ein gesetzlicher Feiertag und dem Sonntag gleichgestellt.

Josef der Arbeiter
Die Katholische Kirche fand einen Weg, diesen Tag in den Kalender der kirchlichen Feiertage aufzunehmen. Sie erinnerte sich, dass Josef, der Ziehvater Jesu, ein Schreiner, Handwerker und Arbeiter war. Darauf erklärte Papst Pius XII den 1. Mai zum Gedenktag für Josef den Arbeiter. Seither dürfen am 1. Mai auch Katholiken feiern. In der Reformierten Kirche war das lange verpönt. Im ideologischen Kampf, der auch die Kirche nicht verschonte, galt einer schnell als „links“ oder als „Kommunist“, der sich für diese Fragen einsetzte. Das rächte sich durch das Wegbrechen ganzer Bevölkerungsteile, die seither in der Kirche fehlen.

Das stumme Evangelium?
Hat das Evangelium nichts zu sagen zu dem, was die Menschen am Arbeitsplatz erleben? Soll die Kirche stumm sein, ausgerechnet in all den Fragen, die die Menschen am meisten bewegen in ihrem Alltag?

Die Bibel nimmt an vielen Orten Stellung. Bei Jesus Sirach etwa heisst es:

«Er ist der Gott des Rechts, bei ihm gibt es keine Begünstigung.
Er ist nicht parteiisch gegen den Armen,
das Flehen des Bedrängten hört er.
Das Flehen des Armen dringt durch die Wolken,
es ruht nicht, bis es am Ziel ist. Es weicht nicht, bis Gott eingreift
und Recht schafft als gerechter Richter.« (Jesus Sirach 34f)

In der Geschichte wurden Kämpfe für soziale und wirtschaftliche Gleichstellung immer wieder mit Berufung auf die Bibel ausgetragen. Es ist ein Resultat der historischen Entfremdung, dass Menschen, die für Recht und Gleichstellung kämpfen, heute meinen, das gegen Bibel und Kirche austragen zu müssen.

 

Aus der Einladung zu einem Gottesdienst zum 1. Mai 2011
Vgl. das Streiflicht «Das halbierte Evangelium» (auf der Menüleiste des Blogs)
Foto von Markus Spiske von Pexels