Katastrophen und Wendepunkte

Was ist eine «Katastrophe»? In welche psychische Landschaft treten wir da ein? Was begegnet uns? Und wie begegnen wir den «Monstern» und «Ungeheuern», die auf diesem Wege lauern. Gibt es vielleicht auch freundliche Gestalten? Das Streiflicht «Katastrophe» bringt einige Texte aus 30 Jahren, die sich damit beschäftigen: von «Fukushima» zu «Tschernobyl», vom «Artensterben» zum «Waldsterben», von der «Flüchtlings-Krise» zum «Ozon-Loch» – und jeder dieser Begriffe hatte damals das Potential, Panik zu wecken wie heute. Mancher dieser Schreckbegriffe steht für einen Wendepunkt, den die Entwicklung seither eingeschlagen hat. Das ist der Titel dieses Streiflichts: Katastrophen und Wendepunkte, weil eine ruhige, vertrauensvolle Reaktion den Weg in die Zukunft weist.

 

Inhaltsverzeichnis

Einleitung. 1

Fukushima. 2

Tschernobyl 3

Gott zornig denken. 4

Die Gefährdung des Lebens als Thema der Zeit 5

Das «Katastrophenjahr» 2001. 6

Rückblick auf das «Katastrophenjahr» 2001. 10

Du. 13

 

 

Einleitung

Die Menschheit hat einen neuen Begleiter: die Katastrophe – sei es als Katastrophen-Gefühl, das die Zukunft verdüstert (die Menschheit habe die Wahl zwischen einer sehr schlimmen Zukunft und einer schlimmen Zukunft, hiess es vor der Klima-Konferenz in New-York), sei es als Nachricht in den Medien, die immer neue Probleme vor Augen stellen. Es ist, als ob wir in ein Wespennest gestochen hätten: Immer neue Probleme werden aufgescheucht. Die Eingriffe in die Umwelt sind derart tief, dass selbsttätig ablaufende Prozesse ausgelöst werden, die sich selber verstärken und kaum mehr zu stoppen scheinen. Artensterben und Klimawandel fordern die Menschheit heraus.

Neben den politischen und wirtschaftlichen Massnahmen ist es wichtig, wie wir kulturell darauf reagieren wollen, damit wir Angst und Panik widerstehen können. Auch die Angst gehört zu diesen Wespen, die aufgescheucht werden. Und Panik ist ein Verstärker, der die Probleme vom Hundertsten ins Tausendste katapultiert.

«Es wird sein, wie wenn jemand vor dem Löwen flieht und es begegnet ihm der Bär, aber er kommt nach Hause und stützt seine Hand an die Mauer, da beisst ihn die Schlange.» So beschreibt Amos in der Bibel die typische Kaskade der Katastrophen-Ereignisse (Amos 5,19). Dass schon ein alttestamentlicher Prophet das beschreibt, heisst nicht, dass jetzt «das Ende der Welt» angebrochen ist. Es heisst, dass der Mensch schon immer mit der Angst vor dem «Ende der Zeit» gelebt hat. Katastrophen und Katastrophen-Erleben gibt es auch in der ältesten Antike, soweit die Erinnerung der Menschheit reicht. Gerade darum kann es eine Hilfe sein, sich nicht nur um die technische und wirtschaftliche Bewältigung zu kümmern, sondern auch um die kulturelle.

 

Fukushima

«Ist es das, was wir erwartet hat, oder kommt noch etwas Grösseres?»

Am 11. März 2011 bebte in Japan die Erde. «Das starke Erdbeben und der darauf folgende Tsunami haben in Japan eine Spur der Zerstörung hinterlassen. Ein solcher Tsunami bewegt sich im Durchschnitt mit einer Geschwindigkeit von 800 km pro Stunde. Sieben Stunden nach dem ersten Erdstoss um 14.46 Uhr japanischer Ortszeit wackelte die Erde noch immer.

Das ganze Land steht unter Schock. Die Erde bebte als habe ein Gott die japanische Inselwelt in die Höhe gehoben und ein paar Mal ausgeschüttelt wie ein Kissen und dann in den Pazifik zurückfallen lassen.

Gemäss Innenministerium wurden am Freitag über 70 000 Gebäude zerstört.

Die Japaner sind Erdbeben gewohnt, sofern man sich an das Gefühl gewöhnen kann, dass nichts mehr sicher ist unter den Füssen und über dem Kopf.

Aber die Verzweiflung diesmal ist immens.

War es das, was Tokio erwartet hat, oder kommt noch etwas Grösseres?

25 Jahre nach Tschernobyl fürchtet die Welt einen zweiten GAU. Er würde Fukushima Dajichi heissen.»

Aus Zeitungsberichten zur Katastrophe in Japan 2011

 

«Es ist eingetroffen, was wir befürchtet haben.»

«Im Katastrophengebiet gingen die Rettungsarbeiten trotz heftiger Nachbeben weiter. 100 000 Soldaten und Helfer aus aller Welt konnten vielerorts jedoch nur noch Tote bergen. Am Montag wurden 2000 weitere Leichen gefunden. Laut UNO-Angaben sind mind. 1,4 Millionen Menschen ohne Trinkwasser, 2,6 Millionen haben keinen Strom und 3,2 Millionen haben kein Gas. Mehr als eine halbe Millionen Menschen harren in Notunterkünften aus. Zehntausend werden noch immer vermisst.

Jetzt droht in Japan der Super-GAU – wer kann, verlässt Tokio.

Rund um das AKW in Fukushima erreichte die Radioaktivität krebserregende Werte. Wegen der massiv erhöhten Strahlung hat der Betreiber fast alle Mitarbeiter abgezogen – noch 50 Leute kämpfen dagegen vor Ort, gegen den drohenden Super-Gau.

Bislang haben 102 Länder Japan Hilfe angeboten, darunter sogar Afghanistan.

Ein Tag, der das Land für immer verändert hat.»

«Die Lage ist ernst. Es ist eingetroffen, was wir befürchtet haben, sagte Hans Wanner, Direktor des Eidgenössischen Nuklearsicherheitsinspektorats.»

Aus «Tages Anzeiger» 12. März 2011 und folgende Tage

 

Ein Zeitfenster für Änderungen

Der Super-GAU ist verhindert, dank der improvisierten Wasserkanonen. Es werden Stromleitungen zu den AKWs gebaut. Ob das normale Kühlsystem wieder in Betrieb gesetzt werden kann, ist offen. In den nächsten Tagen wird „Japan“ auf den Titelseiten der Medien wieder verdrängt von Libyen, wo der Krieg eskaliert, wo der Aufbruch in der arabischen Welt in einem Krieg zu ersticken droht.

Den einen war es zu schnell, dass man die Katastrophe in Japan gleich mit politischen Forderungen verband, etwa zur Änderung der Energiepolitik, zur ökologischen Umkehr. Dass man das Unglück ausschlachtet für parteipolitische Interessen. (Werden die Grünen die nächsten Wahlen gewinnen?)

Andere erinnern sich an Tschernobyl vor 25 Jahren und sagen: Nach einem solchen Ereignis öffnet sich ein Zeitfenster von höchstens 5 Jahren, wo die Menschen für solche Fragen sensibel sind, wo es möglich ist, den Pfad dieser Zivilisation umzustellen. Danach geht das Interesse wieder verloren. Man kehrt zum alten zurück.

 

Erweckungserlebnis

Bei mir löste es auch eine Deblockierung aus, es erinnerte von den Folgen her an eine „Erweckung“, dass ich endlich tun und machen konnte, statt immer zu warten: War es das, was wir erwartet haben – oder kommt noch etwas?

Auch in der Kultur gibt es so etwas wie ein Erweckungs-Erlebnis: ein Deblockieren. Die Menschen ermächtigen sich. Es bilden sich neue Koalitionen und Gruppierungen, die Menschen öffnen sich füreinander.

Ich finde Anschluss an meinen innersten Kern, aus dem ich mein Leben entscheide, ich schaue nicht mehr links und rechts, frage nicht mehr, darf ich und soll ich?

Eine solche Krise hat auch eine befreiende Kraft. Viele Menschen ermächtigen sich.

Sozial definierte und verteilte Kompetenzen, wer reden darf, wer Öffentlichkeit beanspruchen darf, wer zurückstehen muss, wessen Rede etwas gilt, noch bevor er den Mund aufmacht, wessen Rede nichts gilt (man weiss es, bevor er noch ein Wort gesagt hat) – solche Regeln treten ausser Kraft.

Eine Zeit lang ist vieles möglich, bis sich neue Dominanzen herausbilden, neue Sprachregeln etablieren, neue Herren und neue Knechte definiert sind.

Aus dem Tagebuch 2011

 

Tschernobyl

Am 26. April 1986 ereignete sich nahe der sowjetischen Stadt Prypiat die Reaktor-Katastrophe von Tschernobyl.

«Tschernobyl demonstriert die Unkontrollierbarkeit radioaktiver Emissionen.

Wochenlang schwebt eine Wolke über ganz West- und Mitteleuropa. Sie flottiert mal dahin mal dorthin, und die Zeitungsleser entnehmen jeden Morgen dem Wetterbericht, wie der Wind steht und damit die Lebenschancen und die Bedrohungen für die Gesundheit.

Die Behörden richten für eine völlig verunsicherte Bevölkerung von sechs Millionen Menschen ein Sorgentelefon mit zwei Anrufnummern ein.

Aus Tagebuch 16. Mai 1986

 

Wie von Gott reden?

«Ich suchte nach einer Glaubenssprache, die „Tschernobyl“ gewachsen ist, d.h. dem Gefühl, in einen unsteuerbaren historischen Prozess verwickelt zu sein, der zu immer grösserer Zerstörung der Lebensgrundlagen und zu immer grösserer Verelendung der „Zwei-Drittels-Welt“ führt.

Wie war das Glaubensvertrauen auszudrücken angesichts dieses Eindrucks, in einen globalen Schuldmechanismus verstrickt zu sein, aus dem es keinen individuellen Ausweg gab und den auch das Kollektiv – selbst wenn es einen einheitlichen Willen hätte formulieren können – nicht mehr auflösen konnte?»

Aus meiner Schlussarbeit zum Theologiestudium, 11. März 1992
(«Glaubenssprache angesichts der Zerstörung der Lebensgrundlagen»)

 

Gott zornig denken

Schon einmal hat eine Generation ähnlich tief gelitten und im Kampf damit das Bild vom „Zorn Gottes“ geprägt: im Exil, als das Unerhörte geschah, dass Gott sein eigenes Volk den Feinden preisgab.

Das biblische Israel, die Kulturgemeinschaft, hat eine Erfahrung gemacht, die auch mit den allerletzten Sinnkriterien dieser Kultur nicht zu vermitteln war. Wenn alle Stricke rissen, wenn die Verantwortung versagte, konnte man die Geborgenheit bisher noch denken in jener Ganzheit des natürlichen und sozialen Kosmos, der im Namen Gottes aufbewahrt war.

Doch dieses letzte Sicherheitsnetz, das den Schmerz bisher davor bewahrte, seine Ausflucht in die Krankheit nehmen zu müssen, das die Trennlinie zwischen Kultur und Wahnsinn zog, zwischen Gestalten und Verstummen, zwischen einer menschlichen Passion und dem stumm hinnehmenden Erleiden eines Tieres, dieses letzte Sicherheitsnetz dieser Kultur ist jetzt zerrissen. Da gibt es keine Gedanken mehr, den man anrufen könnte, um den Skandal sinnvoll zu machen, dass fremde Soldaten durch die Stadt streiften und Kinder abschlachteten, dass Mütter in der Hungersnot der Belagerung ihre eigenen Kinder essen …

Es ist ein allerletztes Ausgesetzt-Sein an ein Schicksal, das nicht mehr einzuholen ist. Religiös gesprochen: Gott hat sich „verborgen“. Sein „Antlitz“, das die Augen suchen, um sich dem Tod hingeben zu können, ist nicht mehr aufzufinden.»

 

Zwei Seiten des Zorns

Das Bild vom Zorn Gottes vermochte nun diese allerletzte Angst aufzufangen („selbst Gott ist zornig und will meine Vernichtung“). Es vermochte aber auch, diesen allerletzten Vernichtungswillen, womit der Kosmos uns als Schädlinge ausspuckt, noch mit einem Sinn zu umgeben, denn der „Tag des Zorns“ ist der „Tag des Gerichts“.

Gericht“ ist ein Element der sozialen Erfahrung, es wird zur mythologischen Allegorie, um den „Zorn Gottes“ als „Gnade Gottes“ zu begreifen. Denn der Richter und Vollzieher des Richtspruchs bewahrt gerade dadurch die Gerechtigkeit, dass er den Übeltäter bestraft. Wenn die Vernichtung, die ich erlebe, ein „Todesurteil“ ist, dann ist die Welt eben doch ein „Kosmos“ (was «Ordnung» bedeutet). Dann gibt es eben doch einen letzten Sinn in der Welt, auch wenn das nur eine unerbittliche Gerechtigkeit ist, aber in meinem Untergang behauptet sie sich. Nun hat mein ermatteter, zum Sterben müder Blick doch noch etwas vom „Antlitz“ Gottes geschaut, ich kann sterben!

Aus Tagebuch, 31. Dezember 1986

 

Die Gefährdung des Lebens als Thema der Zeit

Überschwemmungen, Tierseuchen, Klimawandel, Ozonloch… – Kaum ein Tag, an dem die Medien heute nicht von einer „Katastrophe“ zu berichten wissen. Die Gefährdung des Lebens ist zu einem grossen Thema unserer Zeit geworden. Hollywood hat die neue Gattung des „Katastrophenfilms“ geschaffen, und kürzlich brachte sogar das Kinder-Fernsehen einen Trickfilm, in dem ein Bärchen die Welt retten musste, weil die Zeiger der Weltzeituhr auf „fünf vor zwölf“ standen.

Die Kirche baut seit einigen Jahren die Notfall- und Katastrophen-Seelsorge aus. Doch muss sie sich auch weltanschaulich der Frage stellen: Wie gehen wir mit der Krisenanfälligkeit unseres Lebens um? Das Thema sollte nicht nur der Endzeit-Angst der Sekten und der Katastrophen-Lust von Hollywood überlassen bleiben. Ein Thema-Gottesdienst sucht Antwort auf diese Frage.

 

Katastrophen-Angst…

Seit den 70er Jahren wird es uns zunehmend bewusst, dass unsere Welt endlich und die Erde verletzlich ist. Nach dem Buch „Die Grenzen des Wachstums“ sprach man oft vom „Raumschiff Erde“ und verglich unseren Planeten mit einer „Arche Noah“, in der das Leben zwar behütet, aber auch gefährdet ist. In den 80er Jahren schufen Waldsterbe-Debatte, Unglücksfälle wie Tschernobyl und die Entdeckung von Ozonloch und Klima-Wandel ein eigentliches Katastrophen-Bewusstsein.

Die Soziologen sprachen von „Risiko-Gesellschaft„. Staat und Behörden begannen, sich für den Notfall besser vorzusehen. Mit dem Ende des Kalten Krieges wurde der Zivilschutz vermehrt vom Kriegs- auf den Katastrophenfall umgerüstet. Das neue Konzept des Bundesrates für den sog. Bevölkerungsschutz befindet sich gegenwärtig in Vernehmlassung.

 

… und Katastrophen-Lust
An die Grenzen der Angst zu gehen, hat aber auch etwas Anziehendes an sich, weil diese Angst dort angesehen und bearbeitet werden kann. Es ist ein kreativer Prozess, der hilft, sich aus Lähmungen zu befreien und vorwärts zu gehen. So gibt es ein ganzes Genre von Hollywood-Filmen, die „den Mann“ zeigen, wie er auf dem Höhepunkt seiner Karriere „alles“ verliert: Stelle, Ansehen, Frau, Familie.

Es ist eine individuelle Katastrophe, Inbegriff der Ängste im Alltag vieler Männer. Aber das mal ausgemalt vor sich zu haben und zu sehen: das Ende ist oft nicht nur Endpunkt, sondern auch Ausgangspunkt von etwas neuem, das kann die Angst beruhigen und hat therapeutische Wirkung. Analoges gilt für kollektive Katastrophen-Ängste.

Eine andere Art Lust an der Katastrophe feiert diese als Vollstreckerin einer höheren Weisheit. Für viele Menschen haben die weltweiten Probleme heute ein derartiges Ausmass erreicht, dass einfach keine Partei, keine Regierung und kein System mehr sichtbar ist, dem man es zutraut, das Ganze noch in den Griff zu kriegen. So gibt es ein heimliches Einverständnis mit der Katastrophe, weil man hofft, dass die heute wirkenden Kräfte an ihre Grenzen stossen und von dort her eine Korrektur erfahren.

Das ist letztlich die Frage nach dem Subjekt, welches „das Ganze“ in Händen hält. Und das ist eine religiöse Frage. Die Faszination durch die Katastrophe hat damit zu tun, dass wir an der Grenze „dem Ganzen“ begegnen. Heute sei die Menschheit erstmals in der Lage, sich selbst auszulöschen, heisst es manchmal etwas pathetisch. In der Religions-Geschichte finden sich aber sehr frühe Beispiele für diese Vorstellung. Schon bei den ältesten Religionen finden sich Erzählungen von einem durch Menschen verschuldeten Untergang der Welt, weil dort, an der äussersten Grenze, die Kraft sichtbar wird, die alles trägt. Und in der Begegnung mit dieser Kraft können wir zur Ruhe finden – und zu einem neuen Verhalten.

Aus dem Hinweis auf einen Gottesdienst zum Thema «Katastrophe»,11. Juni 2001

 

 

Das «Katastrophenjahr» 2001

Terror / Nine Eleven

Der Terroranschlag in den USA hat in der ganzen Welt Betroffenheit ausgelöst. Der 11. September 2001 habe „eine neue Ära“ eröffnet, hiess es in ersten Kommentaren. Andere sprachen von einem „Weltkrieg“, der „zwischen der zivilisierten Welt und der Barbarei“ begonnen habe.

Wer Angehörige in den USA hat, wurde in unerträgliche Unsicherheit gestürzt über ihr Ergehen. Alle fühlten Momente der Bedrohung und tiefsten Verunsicherung.

Dieser Tag hat nicht nur Politik und Wirtschaft tief beeinflusst, er hat sich auch in unser Gefühlsleben eingebrannt. Es ist die Frage, wie wir damit umgehen können.

Aus der Ausschreibung zu einem Gottesdienst, 12. September 2001

 

Amok

Zum zweiten Mal innert 14 Tagen sind wir versammelt, um Gottesdienst zu feiern – zum zweiten Mal überrumpelt von einem schrecklichen Ereignis: Vor 14 Tagen wollten wir Bettag feiern – es wurde zu einer Gedenkfeier für die Opfer des Terroranschlages in den USA.

Heute ist die Kirche geschmückt zum Erntedank – und wieder stehen wir wie unter Schock durch eine Tat, die man beim ersten Hören gar nicht glauben kann: Bei einem Amoklauf im Zuger Kantonsparlament sind 14 Menschen erschossen und 18 weitere verletzt worden. Die Regierung ist gelähmt und nicht beschlussfähig…

Sollen wir die Blumen ausräumen, Früchte und Gemüse aus der Kirche nehmen, alles, was an die schönen und fröhlichen Seiten des Herbstes erinnert? Sollen wir das Orchester ausladen, das fröhliche Musik eingeübt hat? Soll alle Farbe verbannt und Freude verboten sein?

Aus dem Erntedank-Gottesdienst nach dem Amoklauf vom 30. September 2001

 

Absturz

„Wann hört das endlich auf?“, so fragten sich viele Schweizer nach dem Absturz einer Crossair-Maschine bei Bassersdorf. Seit dem September häufen sich die Katastrophen-Meldungen. Auch Bundespräsident Moritz Leuenberger sprach von einem „schwarzen Herbst“ und erinnerte an die Terroranschläge in den USA, das Attentat in Zug, den Unfall im Gotthard-Tunnel und den Niedergang der Swissair.

Ein neues Kapitel der Geschichte
Diese Häufung erschreckt uns. Es scheint, als ob sich die Welt seit dem 11. September verändert hätte und eine Zeit der Unsicherheit angebrochen wäre. Und doch sind wir nicht ganz unvorbereitet auf diese Zeit zugegangen.

Die Soziologie hat schon in den 80er Jahren den Begriff „Risiko-Gesellschaft“ geprägt. Das Unglück von Tschernobyl, das eine radioaktive Wolke über ganz Europa verbreitete, hatte damals deutlich gemacht, wie verletzlich und risiko-reich unsere Zivilisation geworden ist. Konnte man sich früher durch individuelles Verhalten vor Gefahren schützen, waren jetzt alle gleichermassen betroffen, egal wie vorsichtig oder umwelt-bewusst sie sich verhalten hatten.

Nicht mehr die Natur wurde jetzt als „Feind“ erlebt, sondern die Zivilisation selber. Die Soziologen sprachen daher von einer historischen Wende. Die Gesellschaft sei aus einem Zeitalter der Not in ein Zeitalter der Angst übergetreten. Nicht mehr die wirtschaftlich zu bekämpfende Not des Daseins stehe heute im Zentrum, sondern die Gefährdung der Lebensgrundlagen.

Aus einer Kolumne, 16. Dezember 2001

 

Der Weg ins neue Millennium

Die Menschen begingen den Jahreswechsel 2000/2001 mit dem Bewusstsein, eine Schwelle zu überschreiten. Das Zutrauen war da, die Probleme lösen zu können. In diesem Geist begannen die Vereinten Nationen das neue Millennium mit einer Auflistung aller Probleme in der global gewordenen Welt. Doch bald verdüsterte sich das Bild. (…)

Nicht nur der Terror, auch die Klimafrage verunsichert im neuen Millennium zusehends die Menschen. Dass die Welt Bestand habe, unabhängig vom Menschen und selbst gegen sein zerstörerisches Handeln, darin versichern sich Menschen seit den alten Hochkulturen in Schöpfungs-Erzählungen. Darin haben sie auch ihr Erschrecken aufgehoben, durch eigene Schuld die Welt zu zerstören.

So antwortet die Religion auf die Angst vor Zerstörung der Lebensgrundlagen. Und sie tut es in Form einer Erzählung. Dass die Welt Bestand hat, ist denk- und lebensnotwendig. Ohne dieses Vertrauen wird alles absurd (und ein Engagement für die Erhaltung der Welt motivationspychologisch unmöglich). Denk- und lebensnotwendig ist auch, dass es für das individuelle Leben ein „Ankommen“ gibt und dass der Weg der Menschheit nicht im Dunkeln endet.

Aus dem Vorwort zu Der Weg ins neue Millennium. Notizen 2000 – 2002.

 

Die Toten stehen auf

Wie umgehen mit Erfahrungen von Zerstörung, Gewalt und Unrecht, mit verstörenden Erlebnissen, die den Menschen traumatisieren und aus seiner gewohnten Bahn des Denkens und Handelns werfen? Diese Frage stellte sich nicht nur im neuen Millennium mit dem Terrorismus und der Infragestellung des Lebens durch die Klimaveränderung. Vor dieser Frage standen auch die antiken Hochkulturen, die Krieg und Krise in vielfacher Form erlebten. Darum ist die Bibel nicht nur ein religiöses Buch, sondern auch ein Archiv der Menschheit, wo Verhaltensweisen und Modelle des Lebens-Könnens seit der Antike aufbewahrt sind.

Das Alte Testament redet kaum von Auferstehung und Auffahrt, im Neuen Testament steht es im Zentrum. In zwischen-testamentlicher Zeit taucht es auf: in Apokalypsen, Weisheitsschriften, späten Psalmen. Das Thema begleitet das Werden der Bibel.

Man kann zusehen wie eine Religion denkt, wie viele Generationen ihre Erfahrungen vor Gott bringen. Und wir sehen, wie sie ihr Vertrauen zu Gott neu begreifen lernen.

So verändert sich auch ihre Auffassung von Wirklichkeit, immer mehr Erfahrungen werden vom Glauben durchdrungen. So finden sich schliesslich auch Antworten auf Erlebnisse, die uns schwer verstören, z.B. die Fragen:

  • Wie ist es mit dem Unrecht, das auf der Erde keinen Richter findet?
  • Wie ist es mit all den Toten der Kriege, die immer wieder die Erde verwüsten und Elend verbreiten?
  • Wie ist es mit all den Armen und Unterdrückten – bleiben sie für immer auf der Verliererseite?
  • Gibt es also kein Recht auf der Erde? Ist alles nur blindes Schicksal oder Zufall oder folgt die Welt einfach dem Recht des Stärkeren?

Aus einem Gottesdienst zum Thema Auferstehung, 5. Mai 2002

 

Ein Fest, von dem wir leben

Christus ist gestorben und auferstanden. Ist damit alles in Ordnung? Ist er nicht zu Unrecht verklagt und hingerichtet worden? Was geschieht mit unserem Bedürfnis, in einer Welt zu leben, wo Recht herrscht? Mit Ostern kann der Zyklus der Feiertage nicht abbrechen. Die Himmelfahrt gehört dazu, unbedingt, oder wir müssen auf wesentliche Bedürfnisse unseres Menschseins verzichten.

Am 25. Mai feiern wir das Fest der Auffahrt oder Himmelfahrt Christi. Die meisten feiern das Fest nicht bewusst. Es lässt sich irgendwie gar nicht begreifen. Da ist uns Weihnachten näher. Eine Geburt haben viele schon erlebt, aber eine Himmelfahrt?

Und doch behaupte ich, dass wir es alle feiern, wenn auch unbewusst. Es steckt in den Voraussetzungen, von denen wir leben. Mit der Auffahrt kommt ein Weg ans Ziel. Der Schrei der Opfer wird erhört. Das verletzte Recht wird geheilt. Das Opfer, das am Boden liegt, wird aufgerichtet. Er wird zur Rechten Gottes gesetzt, auf den Richtstuhl, damit Recht geschehe. So wird Vertrauen wieder hergestellt, die Verletzung kann heilen. Leben wird wieder möglich.

Aus einem Hinweis zum Auffahrtsfest vom 24. Mai 2001

 

Der Auftrag der Ahnen

Vor einigen Monaten kam mir der Gedanke, dass ich mit meinem Weg in die Kirche und zur Religion vielleicht auch einen „Auftrag der Familie“ erfüllte. In der Ahnenreihe unserer Familien gibt es mehrere Frauen, die „ins Wasser gegangen“ sind.

Da ist viel Leid, und es stellt die Frage:

Wie ist die Welt eigentlich? Das Unglück schreit zum Himmel. Ist die Welt ein „finsteres Loch“, wo man nur krepieren kann? – Wenn es so ist, dann kriegt in dieser Familie keiner mehr die Füsse auf den Boden. Der eine gibt seine Verzweiflung an den andern weiter, Kinder sind schon in der Kindheit gestört.

Oder gibt es einen Gott? Ist die Wirklichkeit ganz und gerade? Sind wir in dieser Wirklichkeit irgendwie aufgehoben und geborgen? Gibt es einen Weg und eine Lösung? – Wenn es so ist, dann bekommen die Ahnen Enkel und Urenkel, dann geht das Leben weiter. Aber diese Frage muss jetzt einmal geklärt sein, vorher geht nichts mehr weiter!

Aus dem Tagebuch, 22. November 2002

 

Teufel und Dämonen

Eine junge Frau ruft an, sie fühlt sich vom Teufel besessen. Wenn ich nachher (als Pfarrer) hingehe, zählt nicht, was ich theoretisch weiss über Satanismus oder Psychologie, es zählt nur die Frage, in welcher Haltung ich hingehen kann.

Ich kann nur hingehen, wenn ich durch und durch davon überzeugt bin, dass ich selber, mit allem, was zu meinem Leben gehört, mit allem, was mir schwerfällt, mit allem, wo ich mit mir selbst in Konflikt stehe, mit allem, wo ich an mir selbst verzweifle… – dass ich restlos mit allem von Gott angenommen bin.

Dann ist diese Haltung spürbar hinter allem, was ich sagen mag. Das ist entscheidend. Es sind nicht die Worte, die zutreffend oder falsch sein mögen. Es ist die Frage: „Evangelium“ (alle Wirklichkeit ist in Gott geborgen) oder eine verzweifelte Vertiefung der schlechten Erfahrungen („diese Welt ist ein Loch, in dem man nur krepieren kann“). Ob das dann eine Macht ist neben Gott oder mehrere, ob sie dämonisiert wird oder säkularisiert, spielt keine Rolle.

Aus dem Tagebuch, 14. Juli 2002

Die Urszene und die Entscheidung

Im Traum finde ich in einer Buchhandlung eine bisher unbekannte Bibel-Übersetzung. Es gibt die Bibel in zwei Versionen: Sie stehen für Abspaltung und Gespaltenheit oder für Versöhnung und Heilung. Es ist, als ob ich mich entscheiden sollte: die Welt als Hölle oder in Gottes Hand.

Darum auch Frau N., die mich vor den Ferien noch aufsuchte mit ihrer Angst, vom Teufel besessen zu sein. Als ob ich all meine Erfahrungen noch einmal ansehen sollte und mich endlich entscheiden, woran ich glaube.

Vor dem Aufwachen träume ich noch mal die „Urszene“, in der alle schlechte Erfahrung verdichtet ist: Ich werde erschlagen und in den Strassengraben gekippt. – Die Welt ist ein Loch, wo man nur krepieren kann.

Ich muss mich jetzt entscheiden und ich wähle „B“. Das ist der Satz: Es gibt nichts, was ich mit Gottes Hilfe nicht lösen kann! Und ich erprobe es an der Urszene – in jenem eigenartigen Bewusstseinszustand, schon halb-wach und raisonnierend, dabei aber immer noch der Traumwelt verhaftet mit ihrer eigenartigen Bildsprache und der suggestiven Überzeugungskraft mythischer Gehalte: Gott holt mich aus dem Graben.

Aus dem Tagebuch, 2. August 2002

 

Rückblick auf das «Katastrophenjahr» 2001

Nach den Katastrophen von 2001 spitzt sich die Frage 2002 zu: Soll die Erfahrung der Katastrophen so verarbeitet werden, dass gewisse Erlebnisse dauerhaft abgespalten werden? Solche Reaktionsweisen finde ich damals in der Seelsorge. Da taucht der Teufel auf, die metaphysische Konsequenz der Abspaltung, wenn der Gottesbegriff die dunkeln Erfahrungen nicht mehr aufnehmen kann und sich selber aufspaltet.

Die Frage der Integration
Das ist nicht einfach eine Frage an die „Wirklichkeit“, wie sie irgendwo unabhängig von mir bestünde, sondern eine Entscheidung: Will ich mich integrieren oder gewisse Erfahrungen abspalten? Ich wähle den Weg der Integration. Und so integriert sich auch mein Gottesbild und kann die dunklen Teile aufnehmen: Ich halte Gott für kompetent, auch in den dunkelsten Erfahrungen meines Lebens. Ich fühle mich von ihm angenommen, auch in den finstersten Ecken meiner Psyche. Erst als ich diese Entscheidung getroffen habe, kann ich jene Frau besuchen, die sich vom Teufel für verfolgt hält und ihr seelsorgerlich beistehen. Die von den Katastrophen aufgewühlten Überzeugungen und Haltungen, die das „Leben-Können“ ausmachen, können sich neu formieren.

 

Mythologisch erzählen
Die Bibel ist an Menschen interessiert, darum erzählt sie Geschichten. Dabei tauchen immer auch mythologische Formen auf. Lassen sich diese auch heute nachsprechen? Ich übte mich in Formen der „Mythopoesie“, in welcher die Erzählung von Gott und die Erzählung vom Menschen ineinander verschränkt werden.

So beginnt das Leben der Menschen nicht mit der Geburt, sondern am „Anfang“. Und ihrem Leben kann man nur gerecht werden, wenn man nicht nur die Zeit bis zum Tod überblickt, sondern bis zum „Ende von allem“, zur Vollendung. Und da hat der einzelne Mensch Teil an den Versöhnungsleistungen Gottes. „Und Gott sah an alles was er gemacht hatte und siehe, es war sehr gut.“

Ich suchte zur Bewältigung der grösseren Infragestellungen im neuen Millennium Erzählhorizonte, die das Machbare und empirisch Überblickbare überschreiten, aber vom Glaubensvertrauen gedeckt sind. Denn im Glauben muss ich mich getragen fühlen auch in Wandlungsphasen des Lebens, die nicht vom Handlungsbewusstsein her gesteuert sind. Sie „ereignen“ sich an mir, ich darf mich ihnen überlassen – und ich kann es, wenn ich denn das nötige Vertrauen aufbringe.

Der Auftrag der Ahnen
Schliesslich wird auf diesem Weg notwendig die Grenze einer individuellen Biographie überschritten. Das „Erbe der Ahnen“ wird sichtbar (Verhaltensweisen und ihre Lebensprägung, die wie ein „Schicksal“ anmuten, weil sie über mehrere Generationen durch eine Familie wandern, so wie Jähzorn, Trunksucht, Übergriffe, sich opfern, „ins Wasser gehen“). Es kann wie ein „Auftrag der Ahnen“ erfahren werden, in dieser Frage, die das Leben von so vielen Generationen verdüstert hat, endlich eine Antwort zu finden, damit der Weg der Kinder und Kindeskinder davon nicht mehr belastet wird.

Postulate des Lebenkönnens
Denk- und lebensnotwendig ist aber auch das Vertrauen, dass der Kosmos erhalten bleibt, trotz des zerstörerischen Handelns der Menschen, und dass der Weg der Menschheit nicht im Dunkeln endet. Es sind Gelingens-Voraussetzungen auch für ein individuelles Leben. Ähnlich ist es ja in der Natur: Dass der Baum zum Blühen und zur Frucht kommt, das ist schon die Voraussetzung für den Keimling, damit überhaupt ein Anfang stattfinden kann. Der Erfolg ist schon vorweggenommen im Samen. Das Gelingen ist eine Anfangs-Voraussetzung für das Leben.

So taucht damals das Wort „Ankommen“ in meinen Texten auf, v.a. bei Beerdigungen. Das meint nicht nur ein Ziel in der Lebens-Geschichte zwischen Geburt und Tod. Es meint das Gelingen von all dem, was hier angebrochen und angesprochen wurde und das weit über das individuelle Leben hinausgeht.

Das ist der Erzählhorizont, den eine Lebens-Geschichte anpeilen muss. Er geht über alles hinaus, was der betreffende Mensch oder seine Gemeinschaft oder selbst die Menschheit als Ganzes verantworten können. Er geht über Geburt und Tod hinaus. Die Erzählung geht vom Ursprung bis zum Ziel, wo das Leben und alles Leben „ankommt“.

Das ist die Art, wie die Bibel seit je das Leben erzählt und also nichts Neues. Wenn alles versöhnt werden soll, ist ein Konzept von allem nötig. Das geschieht nicht spekulativ, das geschieht im praktischen Vollzug des Lebens und in seinen religiösen Handlungen, v.a. im Gebet.

Das Gebet und seine Sicht auf „alles“
Wer betet, findet sich im Gegenwind der kulturellen Strömungen. Seit der Aufklärung wird die Metaphysik „verabschiedet“, die Religionskritik ist zu einem ungeschriebenen Verfassungsgrundsatz geworden. Und doch, wer betet, der setzt „Gott“, eine „Welt“ und ein „ich“ – das sind die Themen der Metaphysik. Aber dieser Blick auf die Totalität von „allem“, das entspringt nicht einem spekulativen Bedürfnis, das folgt der schieren Not des Lebenkönnens.

Denn jetzt, in der Not, muss ich Antwort haben. Und so stelle ich mich vor Gott (auch wenn mir dieser Name in meinem Leben bisher verborgen war, aber die Not des Betens bringt ihn hervor. Und so kann ich selbst in hohem Alter noch zum Glauben kommen). Und „alles“ erscheint mir in neuem Licht. Als ob es so etwas wie Barmherzigkeit gäbe, vor der auch ich bestehen kann.

Einschliessende Geschichten
Die religiöse Tradition leiht ihre Geschichten dazu. Es sind einschliessende Geschichten, wo selbst der Aussätzige dazu gehört, weil Jesus ihn berührt. So lassen mich diese Geschichten besser verstehen, wer ich bin und wer die Menschen sind.

Unter dem Blick dieser Geschichten können wir uns integrieren: als Menschen mit unserer Psyche und mit den disparaten Erfahrungen unseres Lebenslaufes, aber auch in der Gesellschaft, weil niemand ausgeschlossen wird. Darum sind solche integrativen Geschichten lebensnotwendig – für die psychische Gesundheit der Menschen und das friedliche Zusammenleben in einer Gesellschaft.

Die Fragen des neuen Millenniums
Und das ist vielleicht das grosse Thema des neuen Millenniums: Integration und Abgrenzung, und in beidem: Selbstbehauptung. Da sind die Millionen Menschen, auf der Flucht vor ökologischen Katastrophen und wirtschaftlicher Verelendung.

Da sind die Erfahrungen von Millionen Menschen, die an der einseitigen Integrationsleistung durch die Globalisierung nicht teilhaben und aussen vor bleiben. Da sind all die Menschen, die sich sozial nicht mehr integrieren können und damit auch psychisch desintegrieren. Sie können kein stabiles Selbstwertgefühl mehr aufbauen, keine stabile Haltung. Es fällt ihnen schwer, eine regelmässige Lebensführung aufrecht zu erhalten. Sie geraten an den Rand und darüber hinaus.

Wohin das neue Jahrtausend steuert, ist ungewiss. Was ist nicht alles geschehen im letzten Millennium? Die Trends zu extrapolieren ist genauso falsch wie auf Gestaltbegriffe zu setzen wie „Katastrophe“, „Fortschritt“ oder „Untergang“.

Die Zukunft ist ungewiss. Gewiss sind die Intuitionen, die wir in uns selber finden und die bestätigt werden durch die Erfahrung der Generationen, wie sie in der Bibel überliefert werden. Dazu gehört die Gerechtigkeit; und die Erfahrung sagt, dass so ein Zusammenleben in Frieden möglich ist. Dazu gehört die Barmherzigkeit, weil Versöhnung die Kraft hat, die Vergangenheit zu ändern. Sie öffnet neue Wege für die Zukunft.

All das ist zusammengefasst im Bild vom „Reich Gottes“. Das ist ein Zukunftsbild für das neue Millennium. Da gibt es für den einzelnen Menschen ein „Ankommen“. Und wir wissen die Welt „gehalten“, trotz unseres Tuns und obwohl wir sie zu zerstören scheinen. Und der Weg der Menschheit verläuft sich nicht im Dunkeln. Es endet im Licht. „Und er sah an alles was er geschaffen hatte, und siehe, es war sehr gut.“

Aus dem Nachwort zu Der Weg ins neue Millennium. Notizen 2000 – 2002.

 

Du

Ich versuche, Geschichten zu finden, die verstehbar machen, was das ist: Erlösung. Ich spüre – viel wichtiger ist die innere Gewissheit, dass Er da ist. Das kommt nicht durch Geschichten, das kommt an gewissen Punkten des Lebens – oft an Tiefpunkten, ganz unerwartet – wie am Karfreitag. Das werden dann Wendepunkte im Leben – wie Ostern. Dann stellt sich auch die Glaubensfreude ein.

Ich lasse das Ärgernis stehen, dass wir es nicht verstehen. Wir haben Zugang nicht über den Verstand. Das Verstehbar-Machen-Wollen läuft auf eine Allegorese hinaus. Das macht es billig. Es behandelt Ostern wie einen Mythos, den man entmythologisieren muss. Der antike Vegetations-Gott, der stirbt und aufersteht und so das Leben zurückbringt. Heute können wir astronomisch erklären, warum es Frühling wird.

Die Pointe von Ostern ist nicht das Wiederaufleben der Vegetation, die Pointe ist, dass er diesen Jesus Christus auferweckt hat, den in Schande Gekreuzigten. (Der Gedemütigte wird aufgerichtet. Der schuldlos Verurteilte erhält Recht. Der Ermordete wird seiner Mutter zurückgegeben.)

Dazu kommt an Ostern aber auch die Begegnung mit dem „andern“. Sonst ist kein Anfang. Wenn unser Bewusstsein erwacht und wir die Welt verstehen lernen, finden wir uns vor, uns selbst, die Welt und das Leben. Da ist weniges, das von uns stammt, und eine ungeheure Übermacht von anderem, das vor uns war und uns Leben schenkt und ermöglicht.

Auch diese Rückübersetzung in ein nicht-glaubendes Weltbild, das ich jahrelang gepflegt habe, möchte ich allmählich hinter mir lassen.

Das Wesentliche des Glaubens lässt sich nicht rückübersetzen. Da gibt es nur ein Vorwärts-Übersetzen. Ein Über-Setzen über den Strom, an dem Christophorus Fährmann ist.

Da kommt eines Tages ein Kind und will hinüber. Der Christophorus, ein Riese, lacht, und packt es sich auf die Schulter. Ist er nicht als Jugendlicher schon ausgezogen, weil er dem höchsten und mächtigsten Herrscher dienen wollte? So kam er von einem zum andern, immer höher, immer mächtiger, aber überall entdeckte er eine Schwäche. Selbst beim Herrn dieser Welt hielt es ihn nicht lange im Dienst, weil er auch ihm auf die Schliche kam: Dass er nicht Herr über sich selber ist, dass er sein Leben und Schicksal nur geliehen hat.

Und jetzt dieses Kind. Er hebt es hoch, setzt es sich auf die Schulter. Dann reisst er eine Eiche aus, als Stock für den Weg. Und er watet ins Wasser.

Was ist das? Das Kind wird schwerer und schwerer! Der Riese glaubt es nicht, der Riese kommt in ernsthafte Schwierigkeiten. Der Riese fürchtet, er verliert sein Gesicht. Er watet weiter. Er kann nicht mehr. Endlich lässt er den Stolz fallen.

Wer bist DU!?

Es ist das Kind, das die ganze Welt auf den Schultern trägt.
Es ist das Lamm, das die Schuld der Welt auf dem Rücken trägt.

Das Wasser wird dem Riesen zur Taufe. Er geht unter und wird gerettet. Er stirbt und wird geboren, ein neues Wesen. Er vertraut auf den, der da ist wie ein Kind und die Welt in Händen hält.
Und sein lebenslanger Kampf – es ist nur ein Spiel. Ein heiliges Spiel.

April 2012

 

Foto von Withanonim, Pexels