Die ganze Welt umschreiten

Früher gab es feierliche Flurumgänge. Man umschritt das Dorf, die Felder, um sie zu schützen. So wird alles bewahrt, von dem man lebt. Was müsste man heute umschreiten? Was gehört zu der heutigen Welt, von der wir leben? Wie umschreitet man eine ganze Welt? Der «Sonntag Rogate» im Mai hat darauf eine Antwort.

 

Umgang um die Fluren und Felder
Der heutige Sonntag heisst in der Tradition Sonntag „Rogate“, „betet“. Früher machte man an diesem Sonntag Flurumgänge. Man schritt in Prozessionen um die Felder und Wiesen der Gemeinde und betete um Regen und gutes Gedeihen. Die Fürbitte hat diesen Sonntag geprägt. Solche Flurumgänge erleben wir heute kaum noch, oder nur als Folklore, als Pflege einer alten Tradition. Und doch:

An der Grenze
Dass man in Notsituationen für die Gemeinschaft betet, das ist nicht vergangen. Nach den Überschwemmungen in Serbien und Bosnien-Herzegowina hat die dortige Kirche zum Gebet aufgerufen. Nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima haben wir auch bei uns eine Gebetsnacht abgehalten. Wenn ein schlimmes Unglück geschieht, stellen Menschen am Strassenrand Kerzen hin und fordern zum Gebet auf.

Eine kollektive Trauerfeier nach einem Akt von Gewalt oder Terror ist ein Mittel, wie der Schock aufgefangen werden kann. Es hilft, um die Blockierung zu überwinden und den Hass zu verwandeln, so dass neue Wege sich auftun, dass das Leben wieder möglich wird. Das hat – bei aller Säkularisierung – bis in die heutige Gesellschaft überlebt.

Die Welt, die uns angeht
Mit dem Flurumgang wollte man früher seine Welt schützen. Dazu gehörten die Häuser, das Dorf, wo die Menschen wohnten, sie waren immer wieder durch Brand gefährdet. Dazu gehörten der Stall und die Weiden für das Vieh. Dazu gehörten die Felder und die Gärten, von denen man lebte. Bei einem Flurumgang bat man Gott um seinen Segen.

Das ist uns fremd geworden. Nicht, weil uns das Beten fremd geworden ist, aber wir leben nicht mehr nur von den Feldern und Fluren, die man rund um das Dorf noch finden kann. Die Welt, die uns angeht, die Welt, von der wir leben, die Welt, die beschützt werden muss, ist riesengross geworden. Die kann man nicht mehr an einem Sonntag umschreiten. Da müsste das KKW von Fukushima dabei sein, das radioaktive Stoffe ins Meer absondert. Da müssten die Fabriken in Bangladesch dabei sein, wo Textilien für die ganze Welt hergestellt werden. (Als eine Fabrik letztes Jahr in Brand geriet und zusammenstürzte, sind viele Frauen ums Leben gekommen.) Da müssten die Kohlegruben im Türkischen Soma dabei sein, wo kürzlich viele Männer ums Leben gekommen sind.

Antike Globalisierung
Gross ist der Kreis der Welt, den wir heute umschreiten müssten. Real können wir es nicht mehr. Aber im Symbol. So war es schon in der Antike, als unsere Bibel entstand, das Neue Testament. All die Völker, Stämme und Sippen, die früher nebeneinander lebten, sind damals aufgegangen im Römischen Reich, das die ganze bekannte Welt beherrschte.

Es war eine Form von Globalisierung, schon in der Antike. Und wie heute ging sie parallel mit einer Individualisierung, mit einer Vereinzelung der Menschen. Alle sind mobil geworden und beweglich. Und so ist es auch heute wieder. Was früher als Familie an einem Ort zusammenlebte, das ist auf viele Kontinente zerstreut. Vielleicht sieht man sich noch zu Weihnachten. In den Städten wird jede zweite Wohnung nur von einer einzigen Person bewohnt. Dieser Single sucht sich dann ein Netz. Vielleicht sind es Nachbarn – aber diese sind tags meist unterwegs. Sie pendeln zwischen Wohn- und Arbeitsort. Vielleicht sind es Kollegen, die er von früher her kennt. Aber auch diese sind inzwischen verstreut. Gerade ältere Menschen erleben das sehr eindrücklich. Was Theoretiker als Individualisierung beschreiben ist für sie oft eine schlimme Einsamkeit.

Das Ganze umschreiten
Das Ganze, was unsere Gesellschaft ausmacht, ist nicht mehr fassbar. Man kann es nicht mehr erleben. Man kann die Fluren dieser Welt nicht mehr umschreiten. Aber man kann sie im Gebet umschreiten. Die Fürbitte richtet sich auf das Ganze. Und der Glaube hat dafür ein Bild: das Reich Gottes.

Gott ist es, der das Ganze in Händen hält. Auf ihn warten wir im Advent, dass er kommt und ein Reich des Friedens und der Gerechtigkeit aufrichtet. Dieses Reich von Gott her – es ist nicht weit fort. Es kann auch heute erlebt werden. Es hat einen Vorposten errichtet in der Gegenwart, in allernächster Nähe. Das ist die Kirche. Das sind die Menschen, die an einem Ort zusammenleben und sich auf Gott beziehen.

Hier. Jetzt.
Sie leben schon jetzt, als ob das Reich Gottes da wäre. Sie freuen sich schon jetzt über sein Kommen und geben ihre Hoffnung nicht auf, wenn einmal dunkle Wolken aufziehen. Sie leben schon heute die Solidarität und die Gerechtigkeit, die in dem Gottesreich herrschen sollen. Und überall, wo das geschieht, können sie schon heute ein Stück davon erleben. Nicht nur im Gebet, sondern ganz real.

Sie finden schon heute eine Hilfe in Vergebung und Nächstenliebe, von denen Christus in der Bergpredigt spricht. So darf sich aufrichten, wer auf ihn hofft. So darf sich freuen, wer ihm vertraut. So ist ein Mitarbeiter an seinem Reich, wer ihm nachfolgt auf seinem Weg. Denn Glaube, Hoffnung und Liebe, das ist das Erkennungszeichen für sein Reich – auch wenn dieses in der Welt noch aussteht. Aber immer wieder beginnt es mitten unter uns.

 

Aus Notizen 2014