Ich bin nicht besser

Es ist manchmal nicht zum Zuschauen, wenn wir andere Leute sehen: wie sie sind, was sie tun, wie sie ihre Kinder erziehen! Und der Ärger schafft sich Luft, wir tuscheln mit unseren Nachbarn. Selber wollen wir aber nicht kommentiert werden. Wir wissen doch, wie schwierig das Zusammeneben ist, wenn man sich dauernd beobachtet fühlt von bösen Augen.

Ein Gerechter
Es kann eine echte Hilfe sein, wenn man erst vor der eigenen Türe wischt. Das habe ich begriffen, als ich die Geschichte von Elias genauer angesehen habe. Das war ein Prophet im alten Israel. Er war einer von den Gerechten. Er ärgerte sich, dass sein Volk den falschen Göttern nachlief. Und er kämpfte für seinen Gott. Überall mischte er sich ein, wo es falsch lief. Schliesslich griff er sogar zur Gewalt und tötete die falschen Priester.

Er flieht in die Wüste und entkommt seinen Verfolgern. Aber bald sinkt er müde zu Boden. Er hat keine Kraft mehr. Auch der Zweifel holt ihn ein. Er verliert den Mut und legt sich unter einen Wachholderbaum. Er mag nicht mehr. Am liebsten würde er sterben. Und er betet zu Gott: Es ist genug, Herr, nimm meine Seele; ich bin nicht besser als meine Väter. (1.Kge 18f) Als er das gesagt hat, kommt ein Engel. Er zeigt ihm den Weg aus der Wüste. Er gibt ihm Essen und Trinken. So findet er wieder Lebensmut, er macht sich neu auf den Weg.

Die Geschichte zeigt einen Menschen am Ende. Er hat keine Kraft mehr, keinen Mut, keinen Lebenswillen. Er ist mit sich selber im Streit. Er kann sich selber nicht mehr annehmen. Und doch nimmt die Geschichte eine gute Wendung. Das beginnt nicht mit dem Engel, sondern damit, dass er sich vor Gott stellt und sagt: Ich bin nicht besser als meine Väter. Erst danach kommt der Engel, und er zeigt ihm den Weg, der herausführt. Und er schenkt ihm neue Kraft und neuen Lebensmut.

Eine Übung
Als ich diese Geschichte gelesen hatte, versuchte ich, es auf mein Leben anzuwenden. Immer wenn ich unzufrieden war, wenn ich anderen Menschen Vorwürfe machte, wenn ich glaubte, dass ich ungerecht behandelt worden sei, dann sagte ich: Ich bin auch nicht besser als die, die ich anklage. Und seltsam, dieser Satz hat mir geholfen. Ich kann es nicht genau erklären, warum das so ist. Aber es hilft.

Wenn ich diesen Satz sage, fühle ich mich nicht besser als andere Menschen aber auch nicht schlechter. Es bringt mich zurück in die Gemeinschaft mit den anderen Menschen. Und es macht mich frei. Ich bin dann nicht mehr gefangen in der Vorstellung, dass die anderen Menschen meine Feinde wären oder dass sie etwas gegen mich im Schilde führten. Alle sind wir gleich. Keiner hat dem andern etwas vorzuwerfen. Es versöhnt mich mit mir und den Menschen und mit dem Leben, das mir gegeben ist.

Ich kann es gar nicht richtig erklären, aber es funktioniert. Vielleicht hat der Apostel Paulus eine Erklärung. Er schreibt: „Wenn du einen andern richtest, verdammst du dich selbst, da du ja dasselbe tust, was du beim andern verurteilst.“ (Röm 2, 1f) Jesus sagt in seiner Bergpredigt: „Richtet nicht, auf dass ihr nicht gerichtet werdet“. Und: „Mit welchem Mass ihr messt, damit werdet auch ihr gemessen werden!“

Die Zuschauer
Als man Jesus eine Sünderin brachte, sammelten sich die Zuschauer. Sie wollten schauen, wie es weiter geht. „Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein!“ sagt Jesus. Er lenkt damit den Blick der Zuschauer auf sich selbst zurück. Und sie sehen die Fehler, die sie selber haben. Darauf hat keiner der Ankläger einen Stein geworfen. Alle sind sie nach Hause gegangen. (Joh 8,1ff)

Bei diesen Geschichten geht es nicht darum, die Umstehenden zu blamieren. Die Geschichte von Elias zeigt, dass es eigentlich darum geht, wie wir einen neuen Weg finden können, wenn wir in unserm Leben an einem Punkt anstehen, wenn wir den „Verleider“ haben.

Ein Engel für uns
Die Geschichte zeigt, dass auch heute noch Engel bereitstehen, auch für uns, auch für Menschen, die Fehler machen – gerade für Menschen, die Fehler machen. Ihnen will der Engel einen neuen Weg zeigen. Wenn ich akzeptiere, dass ich dieselben Fehler mache wie die Menschen, die ich anklage, werde ich frei. Ich lasse die anderen Menschen frei. Ich binde mich nicht mehr an vergangenes Unrecht. Ich muss nicht jahrelang eine Kränkung weitertragen und denken: „Es ginge mir heute ganz anders, wenn die Leute damals nicht dieses oder jenes mit mir angestellt hätten!“

„Ich bin nicht besser als meine Väter“, sagt Elias. Darauf kommt der Engel. Er gibt ihm zu essen und zu trinken. Und es beginnt ein neuer Abschnitt in seinem Leben. Der Weg führt ihn aus der Wüste hinaus, in der sein Leben feststeckte.

 

Aus Notizen 2009
Foto von Wings Of Freedom, Pexels