Nicht zurückschauen!

Der Schreck kann lähmen, er kann die Fähigkeit, sich richtig zu verhalten, ausser Kraft setzen. So wird man untauglich für den Weg. In der Antike findet sich immer wieder das Verbot, zurückzuschauen.

Auch die Bibel kennt das Verbot. Als Lots Frau zurückschaut, sieht sie, wie es Feuer vom Himmel regnet und wie alles vernichtet wird, «die Städte und die ganze Gegend und alle Einwohner der Städte und was auf dem Lande gewachsen war». Und sie erstarrt vor Schreck zur Salzsäule (Gen 19,24).

Immer wieder begegnet in der Antike das Verbot, zurückzuschauen: Als Orpheus Eurydike aus der Unterwelt retten will, darf er nicht zu ihr zurückschauen. Als Jesus zur Nachfolge ruft, ist untauglich, wer zurückschaut. „Wer seine Hand an den Pflug legt und sieht zurück, der ist nicht geschickt für das Reich Gottes.“ (Lukas 9,62)

Die Bibel erinnert an die Orpheus-Sage, als ob sie sagen wollte, dass Jesus mit seinem Nachfolgeweg aus der Unterwelt hinausführt. Aber Vorsicht, zurückschauen gefährdet den Weg!

Was heisst denn zurückschauen in einer nicht-mythologischen Sprache?

Der Sündenfall der Angst
Hier geht es um die „Unterwelt“, um Tod, Unglück und Trauma. Das Trauma hebt die Freiheit auf, es bewirkt einen Bruch im gewohnten Lebensvollzug. Es beeinflusst das ganze zukünftige Leben und ist nur schwer wieder zu verändern.

Es ist eine „Umkehr“, Metanoia, im umgekehrten Sinn dessen, was Christus in Mk 1,15 fordert. («Die Zeit ist erfüllt und das Reich Gottes ist herbeigekommen. Ändert euern Sinn und glaubt an das Evangelium!“) Es ist die Gegen-Umkehr, die Vertreibung aus dem Paradies der eindeutigen Handlungen, wo jede Geste nur noch sich selbst bedeutet und nicht auch noch etwas Bedrohliches, wo das Heben eine Hand nur das Heben einer Hand ist und nicht auch eine Bedrohung.

Die Angst setzt einen reaktiven Mechanismus in Gang, wenn immer ein Auslösereiz an das Trauma erinnert. Angst-Abwehr-Mechanismen übernehmen die Verhaltens-Steuerung, sie gehen auf Sicherheit aus. Sie setzen alle Verhaltensweisen ausser Kraft, die Überlegung benötigen, Entscheidung. Damit retten sie manchmal Leben. Aber sie sperren das Leben auch in das Gefängnis unaufhörlicher Wiederholungen. Das einmal Erlebte muss repetiert werden in höllischen Ablauf-Schleifen, die der Volksmund „Teufelskreis“ nennt. Das Ereignis, an das man nicht zu denken wagt, wird zum „Schicksal“.

Schicksal und Erlösung
Diese Mechanismen setzen Verhaltensweisen ausser Kraft, die einen noch einmal in das gefährliche Gelände führen könnten. Sie setzen aber auch Verhaltensweisen ausser Kraft, die eine neue Zukunft schaffen könnten, weil sie statt auf Angst auf Vertrauen basieren. Sie würden dem Betroffenen und dem Gegenüber eine neue Deutung der Situation und neue Handlungs-Möglichkeiten eröffnen.

Die Antwort kann in Therapie gesucht werden, falls das möglich ist. Da die Frage nicht nur mit Freiheit, sondern auch mit Vertrauen gekoppelt ist, geht es hier aber auch um Glauben, Glaubens-Vertrauen und schliesslich um Erlösung. Das heisst nicht unbedingt, dass nur eine religiöse Erlösung diese Bindung aufheben könnte. Aber in dieser Bindung ist man unfähig, eine Erlösung oder auch nur einen Gott zu glauben. Man ist unfähig zum Glauben im Sinn einer Vertrauens-Haltung in der Lebensführung.

Man bleibt in der negativen Umkehr gefangen, ist kaum in der Lage, die von Johannes oder Jesus geforderte „Umkehr“ zu leisten. Die Kirche übersetzt das mit „Busse“ und gibt ihre Antwort in einem Sakrament, welches das in Jesus gewirkte Heil dem Betroffenen zuwenden soll. Aber die Frage wird so nicht ganz gelöst, die Unfähigkeit wiederholt sich u.U. als Unfähigkeit, an das Sakrament zu glauben.

Nicht zurückschauen
So bleibt das Rückschau-Verbot auch in der Verkündigung von Jesus erhalten. Er fordert zur Nachfolge auf und erklärt die für „ungeschickt“, die auf diesem Weg zurückschauen. Das ist keine völlige Absage, wie auch die Geschichte vom reichen Jüngling zeigt. Eher gehe ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher ins Reich Gottes komme, sagt dort Jesus. Und die Jünger entsetzen sich: „Wer soll dann gerettet werden? Jesus aber sah sie an und sprach zu ihnen: Bei den Menschen ist’s unmöglich; aber bei Gott sind alle Dinge möglich.“ (Mt 19,25f)

So auch hier. Er erklärt den Weg, er macht auf Schwierigkeiten aufmerksam, er hilft und fordert auf, trotzdem zu gehen, diesen Weg, auch wenn er anfangs unmöglich scheint. Aber er ist ihn auch gegangen, er beweist mit seinem Leben, dass er gangbar ist. So ist es für uns „Nachfolge“ auf seinem Weg. Für ihn war es der Weg, den Gott auf Erden gegangen ist, die Spur, die er hier gelegt hat.

So hilft er uns, vorwärts zu gehen und die Schrecken zu überwinden. Die alte Kirche drückt es mythologisch aus, indem sie ihn am Karsamstag in die Unterwelt steigen sieht, aus der er Adam und Eva herausführt und so die ganze Menschheit rettet, die die waren, die die jetzt sind und die die kommen.

 

Aus Notizen 2015

Bild: Christus in der Unterwelt, discesa al limbo, Maestro dell‘ osservanza

Das Rückschau-Verbot: Das Lukas-Evangelium berichtet von einem Menschen, der Christus „nachfolgen“ will. Im Gespräch klärt sich, was das heissen kann: «Jesus sprach zu ihm: Die Füchse haben Gruben und die Vögel unter dem Himmel haben Nester; aber der Menschensohn hat nichts, wo er sein Haupt hinlege. (…) Lass die Toten ihre Toten begraben; du aber geh hin und verkündige das Reich Gottes! (…) Wer die Hand an den Pflug legt und sieht zurück, der ist nicht geschickt für das Reich Gottes.» (Lk 9,57-62, Lesetext zum Sonntag Okuli)

In der Antike gab es die Deutung von Christus als dem wahren Orpheus, vgl. den Blogbeitrag „Ein Lied in dir“.