Tag Archive for: Handeln

Oft liegen wir mit uns überquer. Haben uns anders verhalten, als gewollt. Haben nicht erreicht, was wir uns vorgenommen hatten. Haben etwas falsch gemacht. Wir lehnen uns selber ab. Weiterlesen

Der Brand der Pariser Kathedralen hat Quasimodo wieder in Erinnerung gebracht: jenen unförmigen Glöckner von Notre-Dame aus dem Roman von Victor Hugo. Weiterlesen

 

Eros und Sakramente

Himmel- und Höllenfahrt, Rückkehr ins Paradies, Seelenreise – seltsam sind die Titel in diesem Buch, als ob es einen Erwachsenen in die Kinderwelt der Fantasy verschlagen hätte. Aber zu einer Fantasy wurden diese Themen erst, als die Moderne Mythen und Tabus aufgehoben und Religion verabschiedet hatte. In der Entwicklungspsychologie leben solche antiken Traditionen teilweise weiter und in Alternativkulturen.

 

Die Drogenkultur erinnert sich an die alte Seelenreise. Heilige Speisen und Getränke weisen den Weg als Sakramente zur Unsterblichkeit. Am Tempeltor der alten Mysterienreligionen wächst der Schwellenbaum, der den Weg eröffnet. Wer sich mit Religion befasst, bewegt sich zwangsläufig in der Geisteswelt alter Kulturen. Lässt sich ernsthaft etwas daraus lernen?

 

Dieses Buch ist keine akademische Studie. Ein Pfarrer sucht seine Lebendigkeit. 2007 habe ich ein Sabbatical – fünf Monate freie Zeit! Und die Fragen kommen jetzt von innen, sie werden nicht mehr vom Alltag gestellt. Ich bin wie Robinson auf eine Insel gespült und darf sie erkunden: „jenes Land“, das sagenhafte Land, in dem Wünsche wahr werden! Schon im ersten Kapitel taucht das Paradies auf – oder ist es das Schlaraffenland? Gibt es eine erwachsene Variante für ein Dasein, wo Wünsche wahr werden?

 

Inhaltsverzeichnis

Vorwort 5

„Säb Land“ 8

Die Suche nach dem Paradies. 28

Himmel- und Höllenfahrt in Antike und Moderne. 44

Mysterien und Sakramente. 62

Mitte des Sabbaticals. 84

Das Sabbatical geht zu Ende. 110

«Säb Land» – was ist jetzt mit dem Paradies?. 126

Rückblick. 128

Nachweis der Texte. 148

Ausführliches Inhaltsverzeichnis. 149

 

 

 

Vorwort

 

„Ein Buch über Eros und Sakramente – das muss alle verärgern. Wer erotische Geschichten erwartet, stösst auf Kirchenthemen! Und wem Sakramente wichtig sind, wittert gotteslästerlichen Spott. Und doch stehen diese beiden Erfahrungen im Zentrum dieser Notizen aus dem Jahr 2007. Und sie haben ohne Zwang zusammengefunden.

 

Suchwege

Das Gerüst bilden Tagebuch-Notizen. Ich setze mich abends hin, um mir Rechenschaft zu geben über mein Leben und folge dem, was vor mir aufsteigt. Aus der Distanz betrachtet, zeigen sich darin unbewusste Suchprozesse. Es scheint, als ob etwas Form annehmen wollte in meinem Leben. Kann ich es wohl packen? Im Sabbatical hatte ich nun aber auch Zeit zum Lesen. So knüpfte ein bewusstes Suchen an diese Prozesse an.

Das Ganze wurde zu einem grossen Strom, von dem ich mitgerissen wurde. Von Zeit zu Zeit tauchte ich darauf aus. Ich liess die Bücher liegen und fragte mich, wo ich denn stehe. Das gibt kleine Absatzpunkte, kleine Zusammenfassungen im Text. Zu einer Art Bilanz kam es am Schluss des Sabbaticals. Da musste ich erzählen, was ich denn gemacht hätte in dieser Zeit. Neben dem offiziellen Arbeitsplan, den ich mit einem „Bericht“ abschloss, gab es ein „verstecktes Curriculum“:

 

Ein versteckter Bildungsgang

Das sind die Themen, die mich in meinem Pfarrerdasein und in meinem Leben zunehmend beschäftigt hatten und die jetzt endlich Zeit fanden, hervorzutreten. Bisher hatte das nur in versteckten Notizen gelebt, im Sabbatical konnte es sich entfalten und jetzt fand es zum ersten Mal offiziellen Ausdruck. So stehen am Schluss dieses Buches die Vorträge „Mit dem Knie glauben“ und „Lebenswege – Weg des Lebens“, sie können als eine Zusammenfassung gelten.

 

 

Hier fügen sich die Themen Eros und Sakrament zwanglos zusammen. So befragt, liegen sie alle an einem Weg. Und auch die Begriffe Kosmos und Chaos fügen sich ein.[1] Die Diskussion macht Anleihen bei der Sprache antiker Mythen, bei der Feier von Kultmysterien. Sie folgt der Rekonstruktion dieser Gehalte in der antiken Philosophie und in der modernen Psychologie, jedenfalls in einigen Beispielen.

 

Eros

Die Tradition zum Eros zeigt eine ganze Polyphonie von Stimmen, im Gegensatz zur heutigen Engführung auf Fragen der Sexualität. Der Missbrauch der Erotik wird sichtbar als Mittel der Angstabwehr. Das Bild eines Daseins zeichnet sich ab, wo die Menschen hinaustreten dürfen, in Bejahung, Unschuld und Getragen-Sein.

Mythologisch erscheint hier die Frage nach einer Rückkehr ins Paradies. Im Nachdenken kehrt es die Gangrichtung um und wird zu einem Vorwärtsgehen in das „Reich Gottes“ – keine Regression, sondern ein Wachsen und Heilen im Vertrauen auf das göttliche Entgegenkommen.

 

Sind Drogen die besseren Sakramente?

Heute sind viele interessiert an den alten Riten und Mythen der Mysterien-Religionen. Da kann man viele Funde machen, wenn man dem sagenhaften Kraut der Unsterblichkeit nachgeht. Rausch und Droge sind heute ein Grossthema der Kultur, mit Drogen lassen sich Türen öffnen, die dem Normalbewusstsein verborgen sind. Sind Drogen die besseren Sakramente?

Setzen sie uns instand, das zu tun, wovon der Glaube nur redet? Hat der Rausch, den sie in uns auslösen, eine Richtung, der sich unserem Verhalten mitteilt, wenn wir daraus erwachen? Helfen sie uns zu Glaube, Hoffnung, Liebe? Lässt sich das überhaupt in Handeln transformieren, was im Rausch erlebt wurde und hilft das dort Erfahrene auf dem Weg des Lebens, der ja wieder in den Alltag einmünden möchte?

 

 

Die Feiern der Antike

In der Antike finden sich sakramentale Feiern, die nicht das katechetische Lernen betonen, sondern das sinnliche Erfahren. Sie prägen das Körper-Gedächtnis und helfen dem Feiernden auf dem Weg der Nachfolge, denn über das Körper-Gedächtnis kann nicht nur ein Lerngehalt abgerufen werden, sondern eine ganze Haltung, ein Set von Verhaltensweisen. So kann das, was wir in Taufe und Abendmahl erleben, uns in der täglichen Nachfolge auf dem Weg Christi helfen. Und die Vergebung [2] hilft uns auf den Weg zurück, wenn wir ihn verloren haben.

 

Vom Esel der wieder ein Mensch werden will

Über allem steht die Frage, wie ich kann, was ich will und soll, nicht nur in den Lebensbereichen, die ich planvoll gestalten kann, sondern dort, wo es kein «Machen» gibt. Kann ich das Verhalten aufteilen in Fragen, die ich kontrollieren kann und andere, wo das versagt, die ich also ganz abschreiben muss? Oder gibt es auch hier ein sinnvolles Verhalten? Immerhin hängen die grössten Fragen davon ab. Das meiste, was mich umtreibt, was mich plagt oder glücklich macht, kommt aus diesem Bereich, der mir nicht zu Gebote steht. Ich kann es nicht in die Agenda schreiben und nach und nach erledigen.

Das ist die Frage, um die es in diesem Buche geht: Wie kann ich, was ich will und soll? Und wie werde ich dabei zu dem Menschen, den Gott in mir gemeint hat, den er in mir schon angelegt hat und der durch die Erfahrung von Leid und Abwehr verschüttet und verborgen ist. Die Antike gibt eine Antwort im Märchen von „Psyche und Amor“. Es ist eingebettet in die Geschichte vom Menschen, der in einem Esel verwandelt wurde. Er sucht seine wahre Gestalt.

 

 

„Säb Land“ [3]

 

Ambach, 2. April 2007

Die Sonne scheint zu allen Fenstern herein, die Kinder sind zur Schule gegangen. Es ist der erste Tag meines Sabbaticals. Es ist ähnlich, wie damals, als ich meine Stelle im Bundeshaus kündigte und für unbestimmte Zeit ins Ausland ging. Und es ist anders. Damals war mir die Angst zu oberst: Ob ich richtig gehandelt hatte, das alles aufzugeben und ins Ungewisse hinauszugehen. Jetzt sind es Gefühle, die mich überschwemmen. Der Beginn aber ist ähnlich, jetzt wie damals, weil ein eigener Bereich beginnt.

 

Träume aufräumen …

Es ist ein Aufräumen in den Hinterzimmern der Psyche. Wenn ich mir früher in Abwehr des Alltags Ziele vorstellte, die ich „eigentlich“ verfolgen möchte – „aber ich habe ja keine Zeit“ – jetzt ist die Zeit da. Jetzt muss ich zeigen, dass ich es kann, oder diese Ziele und Phantasie-Identitäten abbauen und mich endgültig mit dem Alltag und meinem Normal-Ich versöhnen. Andererseits – vielleicht ist ja etwas dran an diesen Phantasien. Das ist zu versuchen.

 

Säb Land“ – so hiess das Traumland von Antonia, wenn sie als Kind zusammen mit ihrem kleinen Bruder von einer Welt schwärmte, wo alles anders ist und wo die schönsten Träume in Erfüllung gehen. Und als der kleine Bruder sie drängte, sie solle ihm dieses Land jetzt endlich zeigen, da konnte sie ihn nicht mehr länger hinhalten. Aber herzaubern konnte sie es auch nicht.

So ging sie mit ihm dreimal um den Tisch. Dann machte sie die Türe zu, die immer offen gestanden hatte, und wies auf die Ecke hinter der Tür. Diese Ecke hatte man bisher nie angesehen (man war da höchstens mal hingelangt, wenn man Verstecken spielte.

 

 

Und die Atmosphäre hinter diesem Türflügel war noch geladen von jenem Wunsch, in diesem Dunkel versteckt und geborgen zu sein, und von der Angst, in diesem vergessenen Winkel vielleicht gar nicht gefunden zu werden und jetzt für immer da bleiben zu müssen). „Da!“, sagte sie, „da isch säb Land!“ [4]

Der kleine Bruder sperrte den Mund auf – vor Staunen und Enttäuschung. Dann ging er mit Fäusten auf sie los. Wo waren die Rutschbahnen, wo man fahren konnte und es hörte nicht auf? Wo die Buden mit den Süssigkeiten?! Sie wusste sich nicht zu helfen und musste seine Wut ertragen.

Heute, wenn sie die Anekdote erzählt, denkt sie, dass man „jenes Land“ hier so gut finden kann wie irgendwo. Das Dämmerdunkel regt die Phantasie an. Wunschbilder und Angstphantasien steigen auf, wie man es ja schon beim Versteckspiel erlebt, wodurch gerade der Winkel hinter der Tür zu einem geheimnisvollen Ort wird. Als Erwachsene würde sie aber fragen: wie man es hervorholt, wie man es macht, dass man das als Erwachsener erleben kann, mitten in dem Alltag, in dem man manchmal verloren geht.

 

… oder verwirklichen

Es ist ein Aufräumen in den Hinterzimmern der Psyche, sagte ich. Wenn ich mir früher Ziele vorstellte, die ich „eigentlich“ verfolgen möchte – „aber ich habe ja keine Zeit“ – jetzt ist die Zeit da. Jetzt muss ich zeigen, dass ich es kann oder diese Ziele und Phantasie-Identitäten abbauen und mich endgültig mit dem Alltag und meinem Normal-Ich versöhnen. Andererseits – vielleicht ist ja etwas dran an diesen Phantasien. Das ist zu versuchen.

Die Erotik gehört dazu. Ich zähle hier nicht auf, was es alles gibt in meinem Leben, das ich nicht in der Hand habe (die Erotik wäre dabei und die Dynamik in der Klasse, die ich gestern mit einer Konf-Feier abgeschlossen habe – es ging gut, Gott sei Dank). Es wäre viel zu viel.

 

 

Einteilung der Welt

Das ist eine beschränkte Sicht (so wie man die Dinge halt ordnet, wenn man im Alltag funktionieren muss), die Dinge einzuteilen in Sachen, die man in der Hand hat und angehen kann und in anderes, was einen bis in den Schlaf verfolgt, wo man mit allen möglichen Strategien aufläuft, und wo jeder neue Versuch einfach nicht weiter führt.

 

Was ich „nicht in der Hand habe“ – ist das nicht alles? Von Anfang des Lebens bis zum Ende? Sind das nicht verschwindend kleine Inseln des Erlebens, die mir das Gefühl geben, als hätte ich sie „in der Hand“? – Wenn ich dasitze und in die Tasten schreibe. Wenn ich für die Kinder das Frühstück richte und Sandra erinnere, dass sie in der Pause zum Schulzahnarzt gehen muss. Wenn ich die Agenda nachführe. Wenn ich all die Aktivitäten ausführe, die zu meinem Beruf oder zum Familienleben gehören. Wenn ich mein „Ehrenamt“ ausübe…

 

Was ich nicht in der Hand habe

Wenn ich mein Leben übersehen will, beginne ich besser wohl nicht bei dem, was ich in der Hand habe, sondern besser bei dem, was ich nicht in der Hand habe, was mich in der Hand hat (wenn es mir gelingt, es positiv zu denken), und dem ich mich gerne anvertraue, als an eine grosse Hand, die mich führt und behütet.

 

Mein Sabbatical beginnt mit einem Arbeitstag. Am 1. April hatte ich die Konfirmation. Typisch, kann man sagen, ich kann meinen Teil nicht abgrenzen, die Arbeit frisst wieder unter dem Zaun durch. Ich weiss mich nicht zu wehren, weder für mich noch für die, die mir anvertraut sind. Erst kommen immer die andern, erst kommt immer die „Pflicht“ oder das, was als Erwartung über mir schwebt. Aber in diesem Beruf ist alles ineinander verwoben, bis zur Unkenntlichkeit. Es gibt kein Privat-Ich, das ich vom Berufs-Ich trennen könnte. Ich kann keine Berufs-Rolle abtrennen von dem Menschen, der ich bin.

 

 

Drei Mal täglich

Ich stehe vor den Leuten, und sie nehmen mich wahr, so wie ich bin, auch in meinen privaten Teilen: mit den Haaren, die mir ausfallen (das sehen Konfirmanden sehr gut), mit den Zähnen, die auch nicht mehr schön sind. Sie sehen dieses und jenes, das ich vielleicht gern verstecken würde und was in jedem anderen Beruf als Privat-Sphäre respektiert würde. Aber hier ist nichts privat. Da wird die Ehe-Frau verhandelt in der Gemeinde, über die Kinder wird geredet. Und was die Leute sehen, darauf reagieren sie, ganz egal, ob ich das zu meiner Berufs-Identität zähle oder nicht.

 

So bleibt mir in diesem Beruf keine andere Wahl, als zu wachsen, mit meiner ganzen Identität. „Weiterbildung“ im Sinn des Erwerbs von bestimmten äusserlichen Fertigkeiten genügt hier nicht.

 

Ich stehe da – im negativen Fall wie am Pranger. Im positiven Fall, wenn ich es annehmen kann, ist es eine Begegnung mit meinen dunklen Seiten. Eine Einladung zum Wachsen, ein Kreuz, das „täglich“ anzunehmen ist. [5] Mein Sabbatical beginnt also mit der Konfirmation, mit der Pubertät, mit dem Hinaustreten in die Welt der Erwachsenen, es beginnt mit Dank und Segen. [6]

 

 

„Ich bin hässlich und lebe gern!“

 

Ambach, 2. April 2007

Ich bin zurück von einer Fahrrad-Tour. Ich habe jetzt Zeit für Ausflüge. Ich gehe Wege, die ich nie gegangen bin, auch wenn sie nicht weit wegführen. Auch hier, in der Nachbarschaft, ist Gegenwelt, ist Licht und Schatten, der ganze Kosmos. Ich halte immer mal wieder an auf dem Weg, mache Fotos und Notizen. Gedanken steigen auf. Eine Tour auch durch die Innenwelt.

 

„Ich bin hässlich und lebe gern!“

Ich wolle die „Erotik erproben im Sabbatical“, habe ich geschrieben. Klingt seltsam in dieser Planungs-Sprache. In der Aufzählung oben gehörte es zu den Dingen, die ich nicht in Hand habe.

Die Kids schmähen mein Alter und mein Aussehen. Sie wollen damit nicht erreichen, dass ich zornig werde oder mich klein fühle, im Gegenteil. Sie wünschten sich ein Lachen: „Ich bin hässlich, lebe gern!“

Das öffnet einen Weg für sie und gibt Erlaubnis auch für sie, die hyper-kritisch vor dem Spiegel stehen, mit Augen, geschult an Trend-Heftchen und an der Vorstellung, was die tonangebenden Figuren wohl dazu sagen würden. Und dann noch diese Pickel! – „Ha, ha, ha, ich bin hässlich und lebe gern!“

 

 

In der Passionszeit

 

Ambach, 4. April 2007

Es hört nicht auf mit Scham und Schande. Die Geschichte von Ambach geht immer weiter. Der Konf-Unti wird mir abgenommen. Es wäre besser gewesen, ich hätte mein Arbeitsfeld selber gestalten können, jetzt ist es verbunden mit Versagen, mit öffentlicher Blamage, mit Scham und Schande.

 

 

Die Vorkommnisse haben meine Selbstachtung gebrochen: So kann ich nicht auftreten in der Kirche (dass man es hören kann), in der Mitarbeiterschaft (dass das Wort Gewicht hat). Ich kann den Jugendlichen keine Grenzen setzen (wo ist da Autorität und Selbstachtung?). Und ich kann mich gegen Zumutungen und Übergriffe nicht wehren (wie jetzt, ich solle eine Woche des Sabbaticals hergeben). Auch die Erotik kann sich nicht entfalten. Ich kann beim Gedanken, dass alles immer neu entsteht heulendes Elend kriegen.

Andererseits – so fällt mir später ein – weiss ich, dass ich Christus nicht finden kann, ohne dass ich alles riskiere. Und jetzt steh ich wieder im Leben, jetzt bin ich wieder auf dem Seil, jetzt kann ich abstürzen. Jetzt ist wieder Gefahr, das Risiko, alles zu verlieren. Und ich fürchte darum, ich meine, das Gesicht zu verlieren, ich weiss nicht weiter. Ich sehe nicht, woher mir Hilfe kommen soll und was richtig zu tun wäre. Soll ich mich bewerben? Soll ich den Weg in Ambach weitergehen? Und hoffen, dass es sich regelt. – Oder durch die Schande hindurchgehen, weil es eben mein Weg ist…?

Ich muss auch vorwärts machen mit den geplanten Aktivitäten. Sie geben positive Erlebnisse.

 

Pläne und Bilder für das Sabbatical

Ich möchte mir ein Bild aufstellen, wie ich leben will, wie ein rechtes Leben für mich aussähe und das befolgen. Besuche gehören dazu. Unbefangenheit gehört dazu (sie fiele mir leichter an einem anderen Ort, wo ich nicht dauernd über das Alte stolperte). Neugier gehört dazu und Lebensfreude… Andererseits ist es Zeit, die „Nachfolge“ ernster anzusehen. Aber auch leichter.

«Wer mir nachfolgen will, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich», sagt Christus. (Mk 8,34ff)

Furchtbar – und doch ist es Evangelium: Es zeigt den rechten Weg, der zum Leben führt und zu allen Heilsgütern. Also muss ich es solange betrachten, bis es die Zusage aus sich entlässt, muss damit kämpfen wie Jakob mit dem Engel an der Furt. Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn.

 

 

Ich habe den positiven Sinn, den konkreten Weg-Weisungs-Sinn, noch nicht gefunden: was es heisst, sich zu verleugnen, niemanden mehr zu achten als Christus, auch die Nächsten nicht, und mein Kreuz täglich auf mich zu nehmen.

Ich will suchen, ohne in eine lebensfeindliche Spiritualität abzudriften, wie mir das früher manchmal geschah. Eine enthusiastische Karwochen-Stimmung, die das eigene Leben opfert – das verhält nicht, weil der Mensch, der sich da verschenkt, sich gar nie zu eigen hatte…

„Ich bin der Weg“ – alles auf diesem Weg ist positiv und lebensfreundlich.

 

 

Nach Ostern

Don Juan als Mysterienspiel

 

Gibt es die nicht-gespaltene Existenz? Das erlöste Leben? Lässt sich Eros und was damit zusammenhängt im individuellen und gesellschaftlichen Leben so gestalten, dass es in Harmonie mit allen anderen Daseins-Bestimmungen gelebt werden kann? Kann der Eros, statt als Medium der Verstrickung, auch als Medium der Erlösung gedacht werden?

 

Ambach, 10. April 2007

Ich will im Sabbatical über den Eros nachdenken. Vom Estrich habe ich ein Buch über den Don Juan-Mythos herunter geholt. [7]

Erlösung der Gerechten

In einer ersten Ausprägung des literarischen Stoffes ist Don Juan eine Art Mysterienspiel. Don Juan tötet den Komtur und erscheint lachend zum Gastmahl auf dem Friedhof, wo der Komtur als Geist erscheint. Das Spiel, das von Mönchen geschrieben wurde, zeigt, was mit „den andern“ geschieht, die nicht ins «Paradies eingehen.

 

 

Was jene erwartet, die sich von Jesus Christus abwenden und mit Hohn und Spott unter seinem Kreuze stehen. Es schärft den rechten Weg ein, indem es drastisch den falschen zeigt. Es nimmt die Qualen des schlechten Gewissens in seinen Dienst, um die Menschen auf den rechten Weg zu leiten.

 

Erlösung auch der Übeltäter

Seit dem 19. Jahrhundert gibt es in Spanien ein Don Juan-Spiel, das an Allerseelen aufgeführt wird, das zur seelsorgerlichen Hygiene des Kirchenjahres gehört. Es zeigt die Rettung auch der verlorenen Seelen. Es ergänzt die Erzählung vom Karsamstag, wo Christus in das Totenreich hinabsteigt, um die Gerechten des alten Bundes zu retten. Jetzt steigt er gewissermassen auch in die Hölle hinab, um die Verworfenen zu retten, wenn sie sich ihm denn zukehren.

Hier wird der Kreis der moralischen Vergeltung überschritten, Gott wird nicht nur als Richter, sondern auch als Schöpfer gesehen, der seinen Geschöpfen beisteht. Er weiss, dass sie nicht können, wie sie sollen, und begegnet ihnen in Gnade. Darum geschieht Erlösung. Davon kann nicht mehr moralisch-ethisch gesprochen werden; darum die mythologische Sprache von der Höllenfahrt.

 

Der Zyklus von Abfall und Vergebung

Das Drama von Don Juan richtet den Blick nicht nur auf die Opfer, sondern auch auf den Täter. Es sieht in Don Juan den Menschen, der sich nach Liebe sehnt, der sich ohne Ausweg in den Sackgassen seiner Möglichkeiten und Unmöglichkeiten dreht, und der nur durch Erlösung gerettet werden kann. Er richtet Unheil an, folgt dem, was ihn treibt, aber er wird am Ende nicht gerichtet, sondern bekennt seine Sünden, bereut sie und wird durch die göttliche Fürbitte einer Frau gerettet.

Hier wird der Erfahrungs-Weg, der in der frühen Kirche zur Ausbildung eines Buss-Sakraments neben der Taufe geführt hat, noch einmal abgeschritten und auch für diesen inneren Konflikt fruchtbar gemacht. Es gibt Umkehr, Abfall, Vergebung und neuen Anfang.

 

 

Versöhnte Wirklichkeit?

Das ist keine innere Versöhnung der Gegensätze, sondern nur das zyklische Geschehen von Absturz und Rückkehr, von Verfehlung und Vergebung, von Getrieben-Sein und Sich-Beherrschen-Wollen, von Trieb und Vernunft. Es ist das Buss-Drama vom Herausfallen aus dem Gnadenstand und Rückkehr durch das Buss-Sakrament. Das erfordert die Kirche und ihre Gnadenmacht.

Es ist aber die Frage, ob eine Integration auch wirklich gelingt, und das innerweltlich, in nützlicher Frist. Gibt es die nicht-gespaltene Existenz? Das erlöste Leben? Lässt sich Eros und was damit zusammenhängt im individuellen und gesellschaftlichen Leben so gestalten, dass es in Harmonie mit allen anderen Daseins-Bestimmungen gelebt werden kann?

 

Psychologisches Drama

In modernen Ausprägungen des Don Juan-Stoffes wird der Eros innerweltlich gedeutet. Konflikte werden nicht moralisch verstanden, sondern als ein inner-psychisches Geschehen zwischen „Es“ und „Über-Ich“. Leiden geschieht im Diesseits. Die Hölle wird internalisiert. [8]

Die Integration fehlt noch. Gibt es auch eine religiöse Bejahung des Eros?

Die Reformation akzeptiert die Säkularisation, sie hebt das Ehe-Sakrament auf, erklärt sie zu einem „weltlichen Ding“. Sie lässt Scheidung und Zweit-Ehe zu. Sexualität wird „kanalisiert“ in der Institution der Ehe.

Eine wirkliche Versöhnung und Integration ist das nicht. In der kirchlichen Seelsorge begegnet es als Zyklus aus Durchbruch und Vergebung (Busse). Erfahren wird es als ein quasi naturwüchsiges Geschehen, als Krise mit zwanghaften Verhaltens-Schlaufen, die an eine Sucht erinnern.

 

 

Hier gibt es keine Tempel-Prostitution wie in der Antike, keine Tantra-Spiritualität wie im Hinduismus. – Sind das denn Wege? Im Wirklichkeits-Modell des Alten und Neuen Testamentes (im Unterschied zu den Kulturen des Alten Orients) geht Gott nicht in die Schöpfung ein. Er ist wohl ihr Urheber, aber er bleibt von ihr geschieden.

Sie ist aber eine „gute“ Schöpfung. (Nicht so in gnostischen und neuplatonischen Sekten, die einen unheilbaren Graben zwischen Gott und Welt aufreissen, wo Askese, Entsagung, „Abtötung des Fleisches“ heilsnotwendig werden. Da ist der Mensch mit sich entzweit, solange er in der Welt lebt. Diese „Körperfeindlichkeit“ gibt es nicht in der Hauptströmung des Christentums. Aber es gibt auch nicht eine „Körperseligkeit“.)

 

 

Die Liebe, die mich rettet

 

Dafür habe ich mich doch entschieden, schon vor langer Zeit: dass ich das suchen möchte. Dass ich dem nachgehen möchte. Und es hatte nicht das Versprechen bei sich, dass es mich zu Ruhm und Ehren bringen wird. Es war nichts als Neugier, es war nichts als Risiko, es war nichts als die Lust, in das hineinzugehen, was mir Angst macht. Es war haargenau das, was ich jetzt erlebe. – Soll ich jetzt davon laufen?

 

Ambach, 11. April 2007 [9]

Ich wache auf nach schweren Träumen. Mein Blick fällt auf das Bild, das ich an die Wand gehängt habe, damit ich es jeden Tag sehen kann. [10] Es zeigt den Berg, zu dem ich unterwegs bin. Eine Quelle fliesst mir von dort entgegen. Wenn ich dieses Ziel wähle, kann jetzt schon in seiner Landschaft gehen.

 

 

Das Bild erinnert mich an mein Vorhaben: Wege zu Christus. Es ist kein Vorhaben für meinen Ehrgeiz. (Wenn es um mich ginge, gäbe es vielleicht einen kurzen Triumph auf dem Gipfel, aber alles andere wäre mühsam, mit Ehrgeiz verbunden, und Neid und Hass im Schlepptau.) Es ist etwas Grosses. Es macht schon Freude, wenn man es von ferne ansieht. Und es macht Freude auf dem Weg, bei jedem Schritt.

Ich suche nach einem Motto für den heutigen Tag. Etwas, was ich mitnehmen kann, was ich hin und her wenden kann in Gedanken, wenn ich aufstehe, wenn die dunklen Gedanken kommen, die Erinnerungen, die sich quer legen, die Schreck-Reaktionen, die aus den Knochen aufsteigen. Ich suche nach einer Weg-Beschreibung für den Ort, wo ich heute Morgen stehe.

 

„Wenn du mir nachfolgen willst, nimm dein Kreuz auf dich, täglich.“

Das fällt mir ein, und es schreckt mich, es verkörpert all das, vor dem ich davon laufe, um das ich mich drücke, um das ich einen Bogen mache – die Ängste meines Lebens, das Trauma im Nacken, das sagt „nie wieder!“ …

Dann fällt mir ein: es ist Evangelium. Es ist eine Hilfe. Jesus Christus ist der Helfer und Erlöser, selbst in dem, was schrecklich scheint. Selbst im Allerschlimmsten.

 

„Wer mir nachfolgen will, der verleugne sich selbst.“

Vielleicht ist das nicht der Verlust des allerletzten, was mir noch bleibt und ohne das ich nicht mehr leben kann? (Alles andere habe ich aufgegeben: Reputation, Stellung, eine Position unter den Menschen, Sicherheit für die Zukunft. Soll ich nun auch mich selbst noch verlieren?) Vielleicht ist es kein Verlust, vielleicht ist es ja eine Hilfe. Dann kann ich darauf vertrauen, wie auf eine Wegbeschreibung, die er mir gegeben hat, für den heutigen Tag!

 

 

Verleugne dich selbst und folge mir nach, geh meinen Weg.“

Es ist wie der „wunderbare Tausch“ [11]: Ich werfe meine Sorgen auf ihn, und er legt sein Joch auf mich…

„Alle eure Sorge werft auf ihn; denn er sorgt für euch.“ (1. Petr 5,7)

“Kommt her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken. Nehmt auf euch mein Joch und lernt von mir; denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig; so werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen. Denn mein Joch ist sanft, und meine Last ist leicht.“ (Mt 11, 28f)

 

Ich werde frei von der Angst um meine Geltung, und ob sie mich achten, oder ob sie ihren Neid an mir ausleben… Ich muss mich nicht mehr sorgen, ob mein Lebenslauf Respekt verdient oder ob ich in der Verachtung ende, in „Scham und Schande“.

Ich brauche keine Angst zu haben, ob ich auch das noch verspiele, was ich mit dem Berufswechsel zurückgelassen habe, den Respekt für mein altes Leben, nachdem ich mit meinem neuen Weg im Niemandsland gelandet bin, wo kein Staat zu machen ist, wo die Menschen mir ihre Geringschätzung zeigen und sich aufspielen…

Eigentlich habe ich mich ja von der „Karriere“ abgewendet, ich wollte diesen inneren Fragen nachgehen. Es kommt nur als Erinnerung zurück: „Ich war doch ein geachteter Berufsmann. Das bin ich mir schuldig, dass ich die Reputation hüte…“ Aber das Ziel hat sich verlagert. Wenn ich meiner Reputation nachtrauere und das hochhalten will, was niemand mehr in Erinnerung hat – sie haben mich ja so nicht gekannt, sie sehen nur, was sie jetzt vor Augen haben -, dann brauche ich zu viel Zeit und Energie dafür. Dann fehlt mir die Kraft für das, was ich eigentlich will und für das ich meine Karriere hinter mir gelassen habe.

 

 

So will ich jetzt lernen und akzeptieren: Ich kann nicht einen Beruf und eine Position hinter mir lassen und ewig von der Reputation zehren, die ich mal besessen habe. Die Leute verbeugen sich nicht ewig vor einem aufgestellten Hut. Es ist ein „alter Hut“. Aber ich bin jetzt da, sie sehen mich jetzt. Sie begegnen dem Menschen, der ich jetzt bin. Soll ich Respekt von ihnen fordern für das, was vorgestern war?

 

Es hatte kein Versprechen bei sich

Soll ich nicht lieber das Alte auch fortwerfen, mit leichter Hand – so wie man alte Hüte in die Alt-Kleider-Sammlung gibt – und meine Kraft für das einsetzen, was mir näher ist? Dafür habe ich mich doch schon entschieden, schon in dieser alten Zeit: Dass ich das suchen möchte. Dass ich dem nachgehen möchte. Und es hatte nicht das Versprechen bei sich, dass es mich zu Ruhm und Ehren bringen wird. Es war nichts als Neugier, es war nichts als Risiko, es war nichts als die Lust, in das hineinzugehen, was mir Angst macht. Es war haargenau das, was ich jetzt erlebe. Soll ich jetzt davon laufen?

Ich habe ja Hilfe gefunden. Ich bin ins Labyrinth gestiegen, und siehe, er hat mir den Ariadnefaden in die Hand gegeben. Da ist die Liebe, die mich rettet. Jetzt geh ich auch bis ins Zentrum, und begegne dem, was mich schreckt, was mich ein Leben lang verfolgt. Und ich finde meine Ruhe dort, sei es, dass es mich frisst oder dass etwas Unerwartetes geschieht, was ich mir jetzt noch nicht vorstellen kann. Aber nach allem, was ich auf dem Weg erfahren habe, wird das Wunder nicht fern sein.

So mache ich jetzt den Tausch, am Morgen des heutigen Tages. Da stehen all die Gepäckstücke vor mir, wie damals, als wir mit den Konfirmanden pilgern gingen. „Was lade ich mir auf?“, fragten wir uns am Morgen von jedem Tag. Nicht meine Sorgen, nicht meine Reputation, nicht meine Sicherheit. Sondern das Evangelium. Die Botschaft, dass das Leben gehalten ist. In diesem Vertrauen will ich auf die Menschen zugehen und auf das, was heute vor mir liegt.

Und in all dem will ich die Erfahrung machen von Jesus Christus auf dem Weg.[12]

 

 

Von Insel zu Insel

Lebensfreude und neue Unschuld

 

Je mehr ich verstehe, je mehr ich den Dingen ihren Platz geben kann, der ihnen gehört, desto weniger bin ich ihnen unterworfen. Dazu gehört Unschuld – nicht wie sie sich einstellt nach Vergebung. Sondern als neue Naivität, als neuer Vertrauens-Mut, als neue Harmlosigkeit, weil sie allen Harm hinter sich gelassen hat. Weil sie wieder lernt, sich anzuvertrauen. Unschuld, die das Trauma hinter sich gelassen hat und noch einmal ja sagt: Ja, ich will den Weg des Menschen gehen.

 

Ambach, 16. April 2007

Viele gegensätzliche Empfindungen. Da ist der Impuls: Ich kann auf den Tag zugehen, ich brauche nichts zu scheuen, auch wenn es Zeit kostet. Dann das Erschrecken: Schon zwei Wochen des Sabbaticals vorbei! Was habe ich mit der Zeit gemacht? Der Rückschlag kam beim Lesen eines Protokolls aus „Ambach“. Alle schlechten Lebensgeister stiegen wieder hoch.

Erotik? Ich bin nicht „abgestürzt“, aber auch nicht weiter gekommen. Sie ist, wenn wach, wie eine Sucht, ein Drang im Nacken. Alles andere wird weggeschoben. Alles wird auf einen Punkt gelenkt – Denken, Wollen, Fühlen. Alles will durch das Nadelöhr. Was links und rechts ist, wird abgestreift.

Spirituelles Suchen und Formulieren ist ähnlich. Man trägt es in sich, in einem Nebenbewusstsein, dreht es und wendet es, bis es sich rundet, bis es sich fügt, bis das befreiende Schreiben losgehen kann. Da ist das Alltags-Bewusstsein auch aufgehoben, suspendiert, bis der Drang vorbei ist. Erst dann stellt man sich wieder der Realität, schaut, was anliegt, macht Pläne, was zu erledigen ist und kehrt ins Dinge-Erledigen-Bewusstsein zurück.

 

Was will ich im Sabbatical?

  • Für das Wollen und Handeln?
  • Für das Suchen und Formulieren?
  • Für die Erotik?

 

 

Zunächst ist wenig da auf der Ebene Wollen. Daher habe ich das weggeschoben. Was ich suche: Ich will als Mensch wachsen. Und was ich dazu vor mir sehe, ist das Projekt „Wege mit Christus“. Dazu gehört der Gegenpol: das Ganz-Unten, die Erfahrung, das Nicht-Hohe. Beides ist vermittelt über das Niedersteigen und Erhöht-Werden Christi.

 

Aber die Lebensfreude, die Erlaubnis, das blosse Dasein, das fehlt mir noch, weil ich in Ambach immer wieder in den Tümpel eingetaucht werde. Dazu gehört dann auch die Erotik, die Freude am Leben. Das Leben, das sich rühren und zeigen darf. Das sich in Unbefangenheit bewegen darf, nicht stille stehen wie ein Käfer, auf den ein Schatten fällt und der sich totstellt, bis der vermutete Feind wieder weg ist.

Dazu gehört Unschuld – nicht wie sie sich einstellt nach Vergebung. Sondern als neue Naivität, als neuer Vertrauens-Mut, als neue Harmlosigkeit, weil sie allen Harm hinter sich gelassen hat. Weil sie wieder lernt, sich anzuvertrauen. Unschuld, die das Trauma hinter sich gelassen hat und noch einmal ja sagt: Ja, ich will den Weg des Menschen gehen. Ich will den „Rest des Lebens“ nicht verbringen hinter Barrikaden und mich schützen vor dem, was einmal war. (Das Leben lässt sich nicht aufteilen in Hauptsache und Rest. Es ist eine Hauptsache, so lange es dauert.)

 

Was will ich im Sabbatical? In der Liste steht wenig auf der Ebene des Wollens. Das meiste, was mir im Moment vorschwebt, versetzt mich in einen Zustand, in dem mir Planen und Handeln schwer fällt. Darum kommt periodisch das Erschrecken: Was schon zwei Wochen! Was habe ich erledigt? So hetze ich hin und her, mache Pläne, beginne dies und das, und wenn es auf ein Hindernis stösst, mache ich wieder etwas anderes… Es gibt ja so viel, was ich tun möchte, so kann ich vom einen zum andern hüpfen…

Was will ich im Sabbatical? Dass der Herrgott es Sabbat werden lässt für mich. Er ist der Herr des Sabbats! Ich kann nur die Erfahrung feiern, wenn er sie mir schenkt. Oder ich kann die Hoffnung feiern gegen alle Erfahrung: dass es gut kommt, das auch mein Leben ankommt…

 

 

Was will ich im Sabbatical? Das ist das erste, was man wissen muss, wenn man so was angeht. Ich weiss es jetzt noch nicht. Weil ich nicht geglaubt habe, dass man es mir zubilligt. Und als das Sabbatical bewilligt wurde, dass man mich damit leben lässt. Und nachdem ich leben gelassen werde, dass man mich nicht fertig macht, wenn ich zurückkehre. Und ich kann mir die Scham und Schande nicht vorstellen, wie es ist, wenn ich zurückkehre und mich wieder unter das Joch bücken muss. Ich muss unbedingt eine andere Stelle finden…!

Was will ich im Sabbatical? Ich weiss es noch nicht. Weil ich nicht weiss, was ich erreichen kann im Sabbatical und wie man ans Ziel kommt im Nicht-Machbaren.

 

Was will ich im Sabbatical?

Pläne, die nur auf der Willens-Ebene liegen, funktionieren nicht. Und das „andere“, was ich mir ersehnte, konnte ich nie als Plan vorlegen. Ich habe immer ein verstecktes Curriculum gehabt: was ich alles auch noch machen könnte, nachdem ich die Erwartung befriedigt habe. Ich habe „meine Sachen“ immer in den Untergrund versteckt. Dabei ist es das, was ich eigentlich machen will. Daher steigt es aus dem Keller empor wie das Gespenst eines Untoten, der nicht in Frieden begraben sein kann, weil er sein Leben nicht gelebt hat!

 

Ich muss einen „Plan“ machen für alle drei Ebenen [13]: für das Wollen und Handeln, für das Suchen und Formulieren, für die Erotik. Und da man es nicht planen kann, dafür Zeit-Inseln vorsehen. Sie anordnen. Nicht als „Agenda“, die immer auf der ersten Ebene bleibt (agere = handeln), sondern eher als „Topologie“: als Karte mit topoi = Orten, wo verschiedene Dinge stattfinden können, die aber einer ganz anderen Verlaufslogik gehorchen. Wo man sich z.B. einer Stimmung hingeben muss. Oder wo man aushalten muss ohne vorzeigbares Resultat.

 

 

Es gleicht der Heimkehr des Odysseus, der von Insel zu Insel fährt, und überall erlebt er ein anderes Abenteuer, je nach dem Gesetz, das auf dieser einen Insel herrscht. Das Ganze heisst dann wohl Odyssee, aber es ist keine Linie, keine Erzählung, sondern ein Nachhall, der unterschiedliche Erfahrungen noch nachbildet in dem Mix von Texten unterschiedlichster Gattung. Hier sind es Erlebnisse, dort Mythen, da denknotwendige Geschichten…

Je mehr ich verstehe, je mehr ich den Dingen ihren Platz geben kann, der ihnen gehört, desto weniger bin ich ihnen unterworfen. Hier müsste eigentlich das Bild eines Gartens stehen, eines Garten Eden, wo alles an seinem Platz ist. Darum ist hier Friede, darum das Paradies. Alles ist nach seinem Wert geachtet und gelebt.

So will ich mir einen Plan machen. Was ist bisher aufgestiegen an Wünschen und Beobachtungen? Ich lese dazu nochmals, was ich im Sabbatical geschrieben habe.

 

„Was bisher geschah“

Was ich will mit dem Sabbatical? – einige Sätze aus den Sabbatical-Notizen [14]:

 

  • „Es ist ein Aufräumen in den Hinterzimmern der Psyche.
  • Als Erwachsene würde sie sich fragen: wie man Säb Land hervorholt, wie man es macht, dass man das als Erwachsener erleben kann, mitten in dem Alltag, in dem man manchmal verloren geht.
  • Da ist auch Vertrauen in die Güte Gottes und die Güte des Lebens, gegen eine vorschnelle Unterwerfung unter eine angebliche „Realität“.
  • Die Erotik gehört dazu.
  • Wenn ich mein Leben übersehen will, beginne ich besser wohl nicht bei dem, was ich in der Hand habe, sondern bei dem, was ich nicht in der Hand habe.
  • So bleibt mir in diesem Beruf keine andere Wahl, als zu wachsen, mit meiner ganzen Identität. „Weiterbildung“ im Sinn des Erwerbs von bestimmten äusserlichen Fertigkeiten genügt hier nicht.
  • Im positiven Fall, wenn ich es annehmen kann (nach vielen Jahren, wo es mir einfach zu viel war) ist es eine Begegnung mit meinen dunklen Seiten.

 

 

  • Eine Einladung zum Wachsen, ein Kreuz, das „täglich“ zu übernehmen ist.
  • Es gibt Zeit für Ausflüge, ich gehe Wege, die ich nie gegangen bin, nicht weit. Auch hier ist Gegenwelt, hier ist Licht und Schatten, der ganze Kosmos.
  • Die Kids schmähen mein Alter und mein Aussehen. Sie wollen damit nicht erreichen, dass ich zornig werde oder mich klein fühle, im Gegenteil. Sie wünschten sich ein Lachen: „Ich bin hässlich, lebe gern!“
  • Gibt es überhaupt einen Neustart in Ambach, oder muss ich eine andere Stelle suchen?
  • Ich will mich endlich orientieren an dem, was ich eigentlich weiss, und mich danach verhalten.
  • Ich muss nicht mehr jede Meinung, die über mich gesagt wird, erfüllen.
  • Ich will mir ein Bild aufstellen, wie ich leben will, wie rechtes Leben für mich aussähe und das befolgen. Besuche gehören dazu, Unbefangenheit, Neugier, Lebensfreude…
  • Er spürt eine Verantwortung, als ob er sein Leben gestalten sollte, und kriegt es doch nicht in den Griff.
  • Es gibt keine Bedingung in der Welt, die zuerst erfüllt sein müsste, damit er so leben kann, wie er sich das vorstellt. Er lebt bedingungslos und frei. Er hat sein Leben auf Gott geworfen, der trägt die Welt. Er hat sein Leben ihm anvertraut. Er hat den Tod als Teil des Weges angenommen und nimmt das Leben aus seiner Hand.
  • Wie gut es tat, als ich krank war, als das „ICH KANN NICHT MEHR“ aufgeräumt hat im Estrich meiner Psyche.
  • Ich bin umgeben von der Liebe Gottes, scheint es zu sagen, ich kann nicht herausfallen.

 

  • Gibt es die nicht-gespaltene Existenz? Das erlöste Leben?
  • Lässt sich Eros und was damit zusammenhängt im individuellen und gesellschaftlichen Leben so gestalten, dass es in Harmonie mit allen anderen Daseinsbestimmungen gelebt werden kann?
  • Kann der Eros – statt als Medium der Verstrickung – auch als Medium der Erlösung gedacht werden? – Oder doch wenigstens neutral?
  • Ich suche nach einer Weg-Beschreibung für den Ort, wo ich heute Morgen stehe.

„Wenn du mir nachfolgen willst, nimm dein Kreuz auf dich, täglich.“ –

 

 

Das fällt mir ein, und es schreckt mich, es verkörpert all das, vor dem ich davon laufe, um das ich mich drücke: die Ängste meines Lebens, das Trauma im Nacken, das sagt „nie wieder!“ … Dann fällt mir ein: Es ist Evangelium. Es ist eine Hilfe. Jesus Christus ist der Helfer und Erlöser, selbst in dem, was schrecklich scheint. Selbst im Allerschlimmsten.

  • Es ist wie der „wunderbare Tausch“: ich werfe meine Sorgen auf ihn, und er legt sein Joch auf mich… Ich werde frei von der Angst um meine Geltung, und ob sie mich achten… Ich muss mich nicht mehr sorgen, ob mein Lebenslauf Respekt verdient, oder ob ich in Verachtung ende, in „Scham und Schande“.
  • Eigentlich habe ich mich ja von der „Karriere“ abgewendet, ich wollte diesen inneren Fragen nachgehen. Es kommt nur als Erinnerung zurück: Ich war doch ein geachteter Berufsmann. Das bin ich mir schuldig, dass ich die Reputation hüte…
  • Wenn ich meiner Reputation nachtrauere und das hochhalten will, was niemand mehr in Erinnerung hat, dann brauche ich zu viel Zeit und Energie dafür. Dann fehlen mir die Zeit und die Kraft für das, was ich eigentlich will und für das ich meine Karriere hinter mir gelassen habe.
  • Dafür habe ich mich doch schon entschieden, schon in dieser alten Zeit. Dass ich das suchen möchte. Dass ich dem nachgehen möchte.
  • Und es hatte nicht das Versprechen bei sich, dass es mich zu Ruhm und Ehren bringen wird. Es war nichts als Neugier, es war nichts als Risiko, es war nichts als die Lust, in das hineinzugehen, was mir Angst macht.

 

  • Darum geh ich bis ins Zentrum und begegne dem, was mich schreckt, was mich ein Leben lang verfolgt. Und ich finde meine Ruhe dort, sei es, dass es mich frisst oder dass etwas Unerwartetes geschieht, was ich mir jetzt noch nicht vorstellen kann. Aber nach allem, was ich auf dem Weg erfahren habe, wird das Wunder nicht fern sein.
  • So mache ich jetzt den Tausch, am Morgen des heutigen Tages. Da stehen all die Gepäckstücke vor uns, wie damals, als wir mit den Konfirmanden pilgern gingen. Was lade ich mir auf? – Nicht meine Sorgen, nicht meine Reputation, nicht meine Sicherheit. Sondern das Evangelium. Die Botschaft, dass das Leben gehalten ist. In diesem Vertrauen will ich auf die Menschen zugehen und auf das, was heute vor mir liegt.

 

 

  • Aber die Lebensfreude, die Erlaubnis, das blosse Dasein, das fehlt mir noch.
  • Dazu gehört dann auch die Erotik, die Freude am Leben. Das Leben, das sich rühren und zeigen darf. Unschuld, die das Trauma hinter sich gelassen hat und noch einmal ja sagt: „Ja, ich will den Weg des Menschen gehen.“
  • Was will ich im Sabbatical? Ich weiss es jetzt noch nicht. Weil ich nicht weiss, was ich erreichen kann im Sabbatical und wie man ans Ziel kommt im Nicht-Machbaren.
  • Ich will mich mehr in Gefahr bringen und solche Erfahrungen machen!
  • Ein Bild vor mich hinstellen, wie beim Berg, der das grosse Vorhaben für mich symbolisiert. Ein Bild, das Freude macht beim Ansehen und bei jedem Schritt auf dem Weg. Ein Bild, das zeigt, wie ich leben will. Wie rechtes Leben aussieht.
  • Hier müsste eigentlich das Bild eines Gartens stehen, eines Garten Eden, wo alles an seinem Platz ist. Darum ist hier Friede, darum das Paradies:

Alles wird nach seinem Wert geachtet und gelebt.

 

 

 

Jakobs Traum von der Himmels-Leiter (1.Mose 28,11ff)

 

Die Suche nach dem Paradies

 

Ich will das Nicht-Tun aufwerten, es gegen seine Verachtung retten, als Königsweg in jenen Bereichen, die ich nicht in Hand habe, die mich in Hand haben, wo ich mich anvertrauen darf.

 

Ambach, 17. April 2007

Ich will jetzt jenen Paradiesgarten skizzieren und die Elemente im Sinn einer Topologie aufzeichnen, anstelle einer Agenda, die eindimensional im Handeln bleibt.

Ich will das Nicht-Tun aufwerten, es gegen seine Verachtung retten, als Königsweg in jenen Bereichen, die ich nicht in Hand habe, die mich in der Hand haben, wo ich mich anvertrauen darf. Das ist nicht „Regression in frühkindliche Abhängigkeit und Verschmelzung“. Das ist Progression: sich tragen lassen auf einem Fluss, der den einzigen Eingang bildet in das Reich auf jener Insel, die Odysseus jetzt erforschen will. Odysseus ist nicht nur der paradigmatisch Leidende und Christus-Typus, er ist auch der Forscher, der Erprober, der Wegsucher, von da her mehr Mensch, weniger Gott.

 

 

Neue Unschuld

 

Ambach, 20. April 2007

Vor einigen Tagen stieg beim Aufwachen ein Satz in mir auf: «Lieber Gott, mach mich rein. Nimm Angst und Schuld von mir! Dann kann ich machen, was ich soll. [15] Das klingt grässlich beim Lesen. Aber es stimmt im Fühlen. Es geht um jene Wiedereinsetzung in den „Stand der Unschuld“, der den inneren Widerstand und die Blockaden wegräumt, die mich hindern. Die mich unfrei machen und wenn ich äusserlich noch so frei wäre. [16]

Die Widerstände kommen aus: Angst, Scham und Schuld. – So werden Vergangenheit und Zukunft als Gewicht empfunden, sie drücken nieder. Die Gegenwart ist aufgehoben. Ich kann nicht gegenwärtig sein.

Wenn Gott mich davon befreit, dann kann ich leicht und frei auf alles zugehen. Es ist alles neu, ohne den Rattenschwanz von „lebenslangen Versäumnissen“, ohne falsche Anpassungen und Niederducken… Es ist nur noch, was es ist – und nicht mehr ein alter Roman, wo das schlechte Ende schon festgeschrieben ist.

 

 

Verlust und Rückkehr ins Paradies

 

Ambach, 4. Mai 2007

Was ich im Tagebuch „Absturz“ nenne, hat mit Sexualität nichts zu tun, kann also nicht über Sexualität geheilt werden. Sexualität wird dort nur missbraucht. Die sexuelle Erregung, jene monomane Stimmung, der Drang, der alles Sein besetzt, der sich allem anderen verschliesst, bis dieser Weg gegangen ist – dieser ausschliessliche Bewusstseinszustand wird im „Absturz“ missbraucht.

 

 

Verlassenheitsgefühl

Er hat eine narkotisierende Wirkung, eine Intensität, die benutzt werden kann, um andere Empfindungen von ebenso grosser Intensität zu verdrängen, zu übertönen, vergessen zu machen. Wenn ich „abstürze“, bin ich in einem Zustand der Angst, der Ekstase. Es ist wie Sucht, ich biete alles auf, um jenem Gefühl von existentieller Einsamkeit und Ausgesetzt-Sein zu entfliehen.

Es ist wie das „Nina-Nina-Machen“ des Kleinkindes, als ich mich im Kinderbett hin und her warf, um nur überhaupt etwas fühlen zu können. Ich konnte so den Körper spüren, statt in die Leere abzudriften. Ich war so lange allein, dass ich mich selber verlor, ich fiel aus mir heraus und musste mich wiederfinden.

Wenn meine Mutter wieder kam, spürte ich, dass es das war, was ich vermisste: sie war nicht da, ich war allein. Und sie sagte: „Machst du Nina-Nina?“ Und es erhielt einen Namen, es war nicht mehr furchtbar und namenlos. Es war ja nur etwas, das damit endete, dass Mutter kam.

Gestern, in diesem Gefühl von Leere und Einsamkeit und Angst, habe ich es fertig gebracht, nicht abzustürzen. Unter Beten und in Furcht und Zittern, unter Heulen und Zähneklappern konnte ich arbeiten, und ich habe alles gemacht, was angestanden ist. Auch die Lager-Abrechnung, die ich lange vor mir hergeschoben habe, alles…

Das sexuelle Erleben in einem „Absturz“ hat mir Erotik nichts zu tun. Hier wird ein Aspekt der Erotik beigezogen, um Dämonen zu bekämpfen. Die Verzweiflung benutzt sie als Sucht, als Narkotikum, als Nina-Nina des Erwachsenen, der sich Empfindungen verschafft um dem Fall ins Empfindungslose zu entfliehen. Eine Pseudo-Himmelsleiter gegen den Sturz aus dem Paradies des Aufgehoben-Seins bei der Mutter, bei Mutter Erde, bei der Wirklichkeit als einem Umfeld, das bejaht und trägt und in die Mitte bringt.

Aber es schiebt den Sturz nur hinaus. Und an die Stelle der Angst, an die Stelle des Heulens und Zähneklapperns im Gefühl der Verlassenheit, tritt die Scham des Erwachsenen, der sich vorpubertären Lebensweisen überlassen hat. Bin ich das? Bin ich das wirklich? Die Lücke zum Selbstbild wird mit Scham geschlossen. Es ist der Zoll, der bezahlt werden muss beim Eintritt in den Tempel, den nur Gerechte betreten dürfen. Solche, die die Aufgabe der Entwicklung gelöst haben.

 

 

Die Scham Adams

Die Scham ist die Lücke zwischen realisiertem Selbst und idealem Selbst. Und sie bricht gewaltig auf, als Adam und Eva vom Baum der Erkenntnis essen. Sie wissen jetzt, was gut und böse ist. Sie wissen, was sie sollen. Sie haben ein Ideal und sie verschwinden vor ihm ins Nichts. So werden sie aus dem Paradies vertrieben, bis der, der sie vertrieb, ihnen die Tür wieder auftut, weil Er die Lücke schliesst,

  • nicht indem er die Erkenntnis aufhebt und beide wieder ins Reich der Natur zurückgehen. (Durch triebhafte Erotik gibt es keinen Weg zum Heil. Das zu der Frage in diesem Tagebuch, ob Erotik auch ein Weg zum Heil sein könne.)
  • Er schliesst die Lücke, weil er das Sollen erfüllt.

Das meint die Bibel mit dem Glauben, mit der Religion, mit dem Leben in Beziehung auf Gott, auf das Ganze, auf die Mitte. Das meint das Neue Testament mit Erlösung und Rechtfertigung, damit wir jenen Paradiesgarten wieder finden, damit wir neu in den Stand der Unschuld versetzt werden, nicht durch Rückgang in die Natur, sondern durch Eingang in den Tempel, indem er die Lücke schliesst zwischen Sein und Sollen. Indem er die Lücke schliesst zwischen realisiertem Selbst und idealem Selbst.

 

 

Der Bann ist gebrochen

 

Ambach, 5. Mai 2007

Nach einer langen, heissen Trockenphase hat es begonnen zu regnen. Es ist kühler geworden. Endlich regnet es. Es ist wie Durststillen. Heute kommen die Kinder zurück. Morgen ist mein Geburtstag. Heute waren Antonia und ich zusammen. Danach sind wir in der Umarmung eingeschlafen.

 

 

Der Bann ist durchbrochen. Die Lähmung ist vorbei. Ich wusste und spürte: „Sie geht nicht weg, wir sind zusammen. Egal wie es wird.“ So wurde die Welt mir freundlich. Die Wirklichkeit umgab mich und hielt mich fest.

 

 

Das Lebensgefühl beim Aufwachen

Die Abschaffung der Angst

 

Ambach, 11. Mai 2007

Gedanken beim Aufwachen: Welche Haltung vermittle ich meinen Kindern?

Was verkörpere ich für sie? – „Man hat nichts Schönes zu erwarten. Man muss froh sein, es unbeschadet hinter sich zu bringen.“ Das ist mein Lebensgefühl, mit dem ich aufwache, bevor ich es beschwatzt habe. Das ist der Ungläubige, der Heide, der immer noch in mir steckt. Das Evangelium ist immer noch nicht bis in meinen Körper vorgedrungen. Der Schreck sitzt mir immer noch in den Knochen. Die Angst hockt mir im Nacken. Der Schmetterling im Bauch, das Zittern in den Knien. Ganze Provinzen wären da noch zu missionieren. Ganzen Landstrichen wäre die Botschaft zu verkündigen. „Das Evangelium nur bis Eboli gekommen.“ (Cristo si è fermato a Eboli) [17]

 

Die Abschaffung der Angst

Dazu passt, was Michael Hampe sagt. [18] In Grenz-Situationen werde nicht die wahre Natur eines Menschen oder „des“ Menschen aufgedeckt. Es führe ihn einfach zu einem Grenz-Verhalten, wo er Dinge mache, die in „normalem“ Zustand nicht möglich wären.

 

 

(„Im Krieg wird die Kontinuität des Selbst zerstört. Eine ganz normale Person begeht Grausamkeiten, (…) die der Person selber später ganz unverständlich erscheinen. Auf diese Weise entsteht eine Diskontinuität. – Im Krieg wird also sichtbar, dass es keinen Wesenskern des Selbst gibt, sondern nur Lebensgeschichten.“)

 

Das Erschrecken vor den Menschen

Ich erinnere mich an mein Erschrecken vor Menschen, wenn sie sich zusammenrotten. Die Unberechenbarkeit, wenn die Verantwortung des Einzelnen ausfällt, seine Gewissens-Steuerung, seine Ansprechbarkeit, die Appellmöglichkeit an sein Gewissen, seine Verhaltenskontrolle. Und wenn die Dynamik der Gruppe das Verhalten bestimmt. Das grölende Bejahen des Grenzübertritts, das rauschhafte Begehen der Übel, die das Gewissen verbietet, die Seligkeit des Aufgehobenseins in einem Gruppen-Ja, auch wenn alle Verbotslinien übertreten werden – und gerade darum die Seligkeit.

Darum stolpere ich im Unterricht. Die Kindheitserfahrung mit einer solchen Gruppe steigt in mir auf, wenn in der Konf-Klasse eine solche Dynamik aufbricht: mein Erstarren, die Rückwirkung auf die Dynamik… Es ist wie ein Wirbelsturm. Er gewinnt weiter an Energie. Die Angst erzeugt ein Machtgefühl und steigert den Rausch. Das erzeugt wieder mehr Angst und das wiederum das Erleben von Macht – ein Teufelskreis, der den Namen verdient. So zieht der Hurrikan eine Schneise der Zerstörung – bis er sich auf dem Land abkühlt. Bis die Rückkoppelung aufhört. Bis der Vorrat an Angst und „Erschreckbarkeit“ erschöpft ist. Weil keiner mehr da ist, der Angst hat. – Oder weil einer eine neue Unschuld lernte. Er hat keine Angst und lacht den Burschen entgegen.

Der Schreck über die Menschen ist in mich eingebrannt. Das macht das Misstrauen aus, die Angst-Gefühle, wenn ich zu sehr im Zentrum stehe und wahrgenommen werde. Ich kann es mir aufgrund dieser Erfahrungen nur vorstellen als Wahrgenommen-Werden zum Ziel.

Das ist der „Antichrist“ in mir, der dem Christus widerstreitet und der mit seiner Angst die Welt, mein Welt-Erleben, beherrscht. Und er verlangt Tribut von mir, Zinsen und Abzahlungen und Beweise meiner Unterwerfung, ansonsten er mich heimsucht.

 

 

Er schickt mir seine Schläger, er lässt die Schulden eintreiben, er brennt meinen Laden ab, damit es mir nie wieder einfällt, mich zu verweigern, und damit alle andern eine Lehre daraus ziehen können, wie es denen geht, die Widerstand versuchen.

 

Gespensterjagd?

Mit Hampe könnte ich mich jetzt beruhigen: Es gibt gar kein „Selbst“, das sich in solchen Erlebnissen enthüllt und sein „wahres Gesicht“ zeigt: den Menschen als grausames Wesen. Das ist eine „Hypostasierung“ des Menschen aus der Erfahrung der Angst.

Was gewinne ich damit?

Ich könnte den Begriff des Menschen reinigen, ihn als besseres Wesen sehen. An meinem Misstrauen gegenüber den Menschen arbeiten. – Aber das „Böse“ wird dann nur aus dem Menschen hinausverlagert in die Umstände. Der Mensch wir reingewaschen, wird zu einem reaktiven Wesen, das aus den Umständen zu verstehen ist. Die Umstände werden dafür aufgeladen. Dorthin ist die Beweislast jetzt verlagert. Dort sind dieselben Probleme jetzt abzuhandeln, die die Kultur früher am Menschen diskutierte:

 

Was ist gut, was böse? Was ist Unglück und Glück? Warum gibt es Leid?

Wie ist Gerechtigkeit zu finden? Woher die Lust am Quälen? –

Gibt es Verantwortung und Zurechenbarkeit von Taten? Gibt es freien Willen?

Gibt es ein Gericht? Kann der Mensch sich ändern? Gibt es Heilung?

Gibt es ein Ankommen am Ende eines Lebens? Und wie? Aus eigenem Tun? Oder durch Erlösung? Ist die Welt ein finsteres Loch, das nicht zu retten ist? Vielleicht dass es eine Rettung „aus der“ Welt gäbe, aber nicht eine Rettung „der“ Welt. Dann ist alles Heil individuell. …

 

 

Hampe zitiert Spinoza. Nach ihm gibt es kein „Selbst“, das der Wirklichkeit entzogen wäre und der Welt gegenüberstünde. Das folgt bei Spinoza aus dem Einwohnen der Gottes-Ursache. Er kennt keinen weltüberlegenen Schöpfer. So gibt es auch keinen welt-überlegenen Kern des Menschen. Das entspricht nicht dem biblischen Bild, nicht der Hauptströmung des Alten und Neuen Testamentes.

 

Der neue Mythos

Es sieht aus wie die „Entmythologisierung“ des Menschen im Zug der hirnphysiologischen Abschaffung der „Seele“. Es ist aber nur ein anderer Mythos. Der der Immanenz. Jede Erzählung, die Fragen von diesem Umfang beantworten will, hat mythologischen Charakter, da sie den wissenschaftlichen Diskurs begründet und von ihm selber nicht mehr eingeholt werden kann. [19]

 

Die alten Fragen

So beruhigt sich mein Erschrecken über die Welt nicht. Das löst die Starre nicht, mit der sich das Kind angesichts der Angst totstellt. Das ist kein Argument gegen die Depressionen und Angst-Attacken, die ein Leben lang aus diesem Totstellen aufsteigen. Das ist kein Zuspruch, mit dem ich aufstehen, keine Haltung, mit der ich die Kinder in die Welt einführen kann.

So wird der „Mensch“ freigesprochen. Aber die „Welt“ wird dämonisiert. Das landet früher oder später bei einer neuen Gnosis. Nein, die Bibel, in Tausenden von Jahren, hat solche Konzepte zurückgewiesen. Sie hält fest am weltüberlegenen Gott, am Schöpfer, der nicht in der Schöpfung aufgeht. Und am Geschöpf, das einen Kern besitzt, der „in der Welt, aber nicht von der Welt“ ist. Es hat damit eine Würde über alle Bestimmungen der Umwelt hinaus, über alles In-Anspruch-Nehmen, über alles Relativieren und Funktionalisieren.

 

 

Es wird kaum mehr geglaubt. Heute wird immer von Individualismus gesprochen. Aber es ist nur ein Partikularismus. Familien sind der Funktion entledigt und zersprengt. Der einzelne wohnt allein, arbeitet allein, hockt allein im Auto. Er vermittelt sich über Markt und TV mit der Allgemeinheit. Und wenn er über die Beerdigung nachdenkt, möchte er als Asche unter einem Baum begraben oder im Meer oder „im All“ verteilt sein. Er möchte „zurückkehren in den Kreislauf des Lebens“. So werden wir Einzelne – aber nicht Individuen. Darum finden sich kaum noch starke Charaktere.

 

Seele als Beziehung

Der Individualismus alten Stils setzt eine Seele voraus, eine unmittelbare Beziehung zu etwas Absolutem. Das ist nicht nur die Frage, ob nach dem Tod „etwas vom Menschen“ übrig bleibe. Es ist auch eine Frage des Lebens vor dem Tod. Gegenüber dem Absoluten gibt es ein Einkehren, ein Sich-Einfinden in der Mitte. Es gibt das Gebet.

Vor dem Einschlafen bete ich ein Gut-Nacht-Gebet mit Sandra:

 

Manchmal sind wir müde.

Dann ist es gut, sich in den Schlaf sinken zu lassen und zu wissen,

dass da Antwort ist.

Manchmal wissen wir nichts vom Leben.

Dann ist es gut, zu wissen, dass Du da bist und uns führst und begleitest.

 

„In der Welt habt ihr Angst, aber fürchtet euch nicht, ich habe die Welt überwunden.“ So spricht Christus im Evangelium. Er ist der Mensch, der die neue Unschuld gefunden hat. Er ist es, der ohne Angst auf Menschen zugehen kann (und der dazu nicht die Hölle der historischen Erfahrung auf die Umstände auslagern muss).

Er ist der, der Frieden stiftet, weil er es annimmt, bis ins Äusserste seiner negativen Möglichkeiten. Und der dann sagt: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ (Lk 23, 34) Frieden gibt es erst nach dem Kreuz. Und dass es da Frieden gibt, das hilft mir im Leben.

 

 

Warten auf die Katastrophe

 

Ambach, 11. Mai 2007

Am liebsten würde ich jetzt, so empfinde ich es beim Aufwachen, nicht „tun“, nicht meiner Agenda nachrennen – sondern mich der Schönheit ergeben, mich verlieren. Und einfach „da sein“.

Doch ist das vielleicht nur eine Flucht in die Ästhetik, ein Missbrauch der kontemplativen Stimmung. Das aus sich selbst herausgetretene Kind erlebt die Ekstase, das Ausser-Sich-Sein. Es verliert sich im Schauen. Es kippt hinüber, vereinigt sich mit dem Geschauten. Alles ist gleichwertig, alles ist schön, auch das Hässlichste. Nichts tut mehr weh, alles ist schön…

 

Das Warten auf die Katastrophe

In meinem Befinden beim Aufwachen steckt auch etwas von Warten: Endlich ist die Klima-Veränderung von Interessengruppen und Meinungsführern akzeptiert. Die Presse berichtet in bejahendem Sinn darüber. Die Allgemeinheit nimmt es auf.

Bald ist kein Spinner mehr, wer sein Auto verkauft und mit dem Fahrrad fährt… Vorgestern ist eine ganze Kleinstadt in den USA von einem Tornado von der Karte gewischt worden. Aber es ist immer noch seltsam fern. Wir erwarten, dass es kommt. Aber wann? – „Drôle de Guerre“.

Im Wartezustand, dass es uns einholt, verbündet sich das offiziell zugelassene Erschrecken mit den Katastrophen-Ängsten aus der Biographie. Endlich ist es erlaubt, Angst zu haben… Die Schleusen öffnen sich.

Aber die biographisch begründeten Katastrophen- Ängste sind auch durch die grosse Geschichte entstanden. Es sind nicht nur Projektionen. Es stammt nicht alles aus einem privaten Abfallsack, der über einer unbescholtenen Allgemeinheit ausgeleert würde.

 

 

Das Trauma von zwei Weltkriegen, von Terrorismus und Totalitarismus, von Shoa und Völkermord, von Grausamkeiten unvorstellbarer Art wird von diesen Nachrichten berührt und entlässt Gespenster aus der Unterwelt, wo sie lange eingesperrt waren, im vergeblichen Versuch, sie zu verdrängen.

 

Tristesse

Die Tristesse holt mich ein, die ich sonst mit einem „Absturz“ vertreibe. Der Rausch, der alles zudeckt, fehlt mir. Die Flucht in das Schöne, verbiete ich mir. Das ist ein Nachteil der Gesundung, auch wenn diese nur in kleinen Schritten vor sich geht. Es sind die Kosten der Gesundung. Sie sind gleich gross wie der Profit, den ich aus der Krankheit zog. (…) Das Weggehen aus dem Alten, das weckt den Widerstand, weil das Alte nicht nur schlimm war, es hatte auch die schönen Seiten.

Das Leben in der Sklaverei in Ägypten war ganz erträglich. Da gab es den Rausch, der das Schlimme vergessen half. Da gab es die Ekstase, die sich in Schönheit verlor, wenn die Welt gar nicht mehr auszuhalten war. Da gab es die Unterwerfung, die Selbst-Auslöschung, das Erfüllen des von mir Erwarteten, da gab es die Todessehnsucht und die Selbstmord-Gedanken. Und das Sterben schien viel einfacher als das Leben.

Gott, hilf mir. Schenk mir Mut und Freude. Hilf unseren Kindern! Amen

 

 

Aushalten in schlechter Zeit

Der „Schatz“ als Unterpfand einer neuen Heilszeit

 

Ambach, 11. Mai 2007

„Wo ist mein Schatz?“, frage ich mich nach dem Aufstehen.

Ich habe gestern die Baruch-Apokalypse gelesen. Da wird erst deutlich, was die Vorstellung von einem Schatz beinhaltet: Die Geräte des zerstörten Tempels werden in der Erde vergraben. Das ist nicht nur ein Tempelschatz, das sind nicht nur Becher aus Gold und Silber. Sie sind ein Unterpfand, dass es einen neuen Tempel geben wird, eine neue Heilszeit.

Aber wir überwintern, bis diese eintritt. Das ist Aushalten in schlechter Zeit, wo das Leben nicht gelebt werden kann, wie es nach seinem Vollsinn gemeint ist. Wo wir zwar symbolisch teilhaben am Ganzen, wo diese Teilhabe aber nicht real erlebt wird, höchstens in Teilen, in Momenten. Da wandeln sich die Elemente auf dem Altar, aber die Wandlung greift nie auf die Welt über – wie ein Feuer, das um sich greift, damit diese lebensfreundlicher werde.

 

Da ist die Teilhabe am neuen Äon ganz in die Hoffnung gesetzt, und die jetzige Generation hat kaum Hoffnung, es je erleben zu können. Daran ist der Kommunismus gescheitert, dass er die Spannkraft der Hoffnung überforderte: die symbolische Vermittlung wurde nicht zur realen Versöhnung. So wurde er zu einer Religion im schlechten Sinn, zu einem Opium für das Volk, das vertröstet.

 

 

Ein Pfand für kommendes Heil – die Baruch-Apokalypse [20]

Baruch sitzt auf den Trümmern des Tempelberges und empfängt eine Offenbarung über die Zukunft. Es kommt neues Unglück. Doch sind es Engel, die Jerusalem und den Tempel zerstören. Rom ist nur ein Werkzeug. Damit erweist sich Gott als Herr der Geschichte.

Dann sagt der Engel: „Erde! Erde! Erde! Höre das Wort des allmächtigen Gottes und nimm diese Dinge in Empfang, die ich dir nun anvertrauen will! Hüte sie und bewahre sie bis zu den letzten Zeiten, und schütze sie vor den Fremden, und halte dich bereit, sie herzugeben, wenn es dir befohlen wird. Denn die Stunde ist gekommen, da Jerusalem preisgegeben wird für eine Weile, bis sie wieder hergestellt wird nach dem Wort für immer. Und die Erde tat ihr Maul auf und verschlang sie.“ (BA 4)

 

Im Himmel ist bereits das Modell eines neuen Jerusalems und eines neuen Tempels. Sie werden herabkommen zur gegebenen Zeit. (Kap 3) Aber die Geräte sind als Schatz in der Erde verborgen. Die Erde selbst bewacht sie und gibt sie zur gegebenen Zeit hervor. Sie gebärt sie wie aus einem Samen.

Es ist nicht Reichtum und Gold allein, was den Schatz ausmacht und seine Kostbarkeit. Als Tempelgeräte sind es Vorbilder des Heiligen Grals[21], es ist ein Unterpfand für das Reich Gottes, die neuen Heilszeit, wie das Abendmahl, wie das Passamahl.

 

 

Analogiezauber

Das Buch Baruch und die Baruch-Apokalypse beziehen sich auf den historischen Baruch, der zur Zeit des ersten Exils lebte. Hier lässt sich etwas lernen über Pseudepigraphie [22]: Es nimmt die Autorität Baruchs in Anspruch, um beim Leser Glauben zu wecken. Vor allem ist es eine Art historischer Analogiezauber:

Baruch lebte im Exil und es gab eine Heimkehr. Auch wir sind im Exil, ich schreibe in seinem Namen. Auch für uns wird es eine Rückkehr geben. Gott wird alle sammeln von Ost und West und Nord und Süd und er wird sie heimführen ins Gelobte Land!

Die Verwendung seines Namens stellt alles in einen Kontext: in den Kontext des grössten Leids, das das Volk bisher erlitten hat, und in den Kontext der grössten historischen Rettungserfahrung, die das Volk bisher erlebt hat.

Unter dem Namen des alten Propheten schreiben heisst: Unsere Zeit ist wie die Leidenszeit im Exil; unsere Zeit ist wie die Erlösungszeit, als die Vorväter aus dem Exil zurückkamen. Und die Texte von der Rückkehr bilden auch das Grundgerüst des Jubels im Christentum. „Tröstet, tröstet mein Volk!“ heisst es im Advent. „In der Wüste bahnt einen Weg dem Herrn…“

 

 

Über die letzte Grenze

 

„Er nahm mich und brachte mich dahin, wo der Himmel befestigt ist und wo ein Strom war, den niemand zu überschreiten vermag.“

So erzählt die griechische Baruch-Apokalypse. Ein Strom trennt diese und die andere Welt und niemand kann ihn überschreiten. Es ist die Lebensgrenze, die nur im Tod überschritten wird.

 

 

Was in der mythologischen Erzählung eine Grenze zwischen Himmel und Erde, zwischen Leben und Tod darstellt, ist in der Erkenntnis-Theorie die Grenze zwischen dem sinnlich Erfahrbaren und dem nur geistig Erkennbaren. Das kann man nicht „erleben“, aber man kann davon „wissen“. Man findet es in den Intuitionen, die wir zum Leben-Können brauchen.

Dass es leichter zu leben ist, wenn es gerecht zugeht an einem Ort – das erfahren wir ansatzweise immer wieder im Leben. Aber in einer Situation, in der es nicht gerecht zu und her geht, stirbt die Intuition deswegen nicht ab, sie lebt umso stärker auf. So sind es oft Leid- und Katastrophen-Erfahrungen, die jenes Wissen hell aufstrahlen lassen. Das Leben soll sich entfalten, es soll nicht in Krankheit dahinsiechen oder zur Unzeit abgebrochen werden. Menschen sollen in Recht und Gerechtigkeit zusammenleben und darum im Frieden, ohne Angst vor ihresgleichen. Viele solcher Intuitionen lassen sich ausmachen, die zu einem rechten und vollen Leben gehören.

 

Ein grösseres Bild von Wirklichkeit

In der christlichen Mythologie werden sie am Weg Christi veranschaulicht. An Weihnachten kommt Gott zur Welt. Das Kind ist da, man kann es sehen. Es ist eine Zeit der Freude. Im Glück spüren wir, wie das Leben „eigentlich“ gemeint ist.

In der Passion ist nichts davon zu spüren. Als der Konflikt sich verschärft, verlassen Christus auch die Getreuen. Er wird zu Unrecht hingerichtet. Der Karfreitag ist das Gegenteil von all dem, was wir uns ersehnen. Da ist keine Menschlichkeit zu spüren und Gott wird vermisst in dieser Welt. Umso heller strahlt das Wissen auf, wie es sein sollte.

Die Intuition von Recht und Gerechtigkeit hat einen Anhaltspunkt im Erleben von Glück, aber zur Gewissheit kommt sie erst im Unglück. Wenn das Recht fehlt, strahlt es auf. Wir brauchen diese Solidarität, wonach „einer des andern Last“ mittragen soll – das wird jetzt so gewiss, dass man sein Leben darauf abstellt. Auf dieser Basis steht das neue Leben, wenn es nach der Katastrophe ein solches geben soll.

Das kontrafaktische Bewusstwerden der denk- und lebensnotwendigen Intuitionen am Karfreitag – das ist der Brückenschlag über den Graben zum Osterglauben.

 

 

Es ist nicht ein Wunder, das die Naturgesetze aushebelt. Es ist ein Wunder, das die Intuition bestätigt, das Recht gegen das Erleben, das Wissen gegen die blosse Empirie. Da wird ein grösserer Begriff von Wirklichkeit gezeichnet, gegen die beschädigte Realität.

 

Es ist auch ein Wissen von unten. Den Oberen reichen die Rechtsbegriffe, wo der Mächtige siegt, wo der Reiche das Sagen hat. Es gibt aber auch Wirklichkeits-Entwürfe „von unten“. Sie leben im Protest, werden bei Revolte und Revolution vorgetragen. Das Christentum geht den Weg unten durch. Es nimmt das Kreuz an und deutet es um. Es ist nicht mehr ein «Schandmal», das allen zeigen soll, wer hier das Sagen hat im Reich. Es ist ein «Siegesmal», das zeigt, wie Gott siegt. Aus Vergebung wächst neue Kraft. Gott schenkt das Leben, der Mensch kann es nur entgegennehmen. Der Mensch kann zwar töten, aber nicht Leben schaffen. Seine Macht ist asymmetrisch. Gott ist der Herr des Lebens.

 

 

 

Duccio: Christus rettet Adam und Eva aus der Unterwelt

 

Himmel- und Höllenfahrt in Antike und Moderne

 

Ich höre das antike Märchen von „Amor und Psyche“, es löst ein Nachdenken aus. Hier wird das Leben nicht nur zwischen Geburt und Tod betrachtet, sondern zwischen „Anfang von allem“ und „Vollendung“. Es schildert den Weg der Seele. Das erfordert eine „Geschichte von allem“, der Anteil des einzelnen am Absoluten wird traditionell an der Seele festgemacht.

 

Zwei moderne Seelenlehren, die hier betrachtet werden, nehmen die Anregung der Antike auf und rekonstruieren den Weg der Seele. E.H. Erikson bleibt im Rahmen empirischen Redens. Stanislav Grof überschreitet die Erfahrungsgrenze und spekuliert auf das Ganze. Ein Überschreiten der Erfahrungsgrenze erfordert ein mythologisches Reden.

 

 

Die Mischung von biographischem und mythologischem Reden, wie es in der Antike bei Apulejus und Augustinus begegnet, findet man auch heute, sogar im Alltag. Es geschieht immer, wenn ein Mensch sich aus einer religiösen Tradition versteht: er bezieht sich auf Gott, auf ein absolutes Ziel. Er macht sich auf einen „Nachfolgeweg“, hofft auf ein „Ankommen“. So ist auch das Selbstverständnis des Gläubigen heute „mythologisch“ verfasst.

 

Auch eine Grabrede, die das Leben des Verstorbenen nicht nur zwischen Geburt und Tod betrachtet, überschreitet diese Grenze. [23] So ist der Weg der Seele in religiöser Rede auch heute präsent.

 

Ambach, 15. Mai 2007

Aufwachen nach vielen Träumen, an die ich mich nicht erinnere. Los, aufstehen! – So geht der Impuls. Nein, ich darf noch mal hinabsinken und schauen, was kommt.

Ich habe vor dem Einschlafen Amor und Psyche gehört (ein antikes Märchen in dem Buch „Der goldene Esel“ von Apulejus). Das setzt einiges in Gang. Viele Themen scheinen auf, die auch in diesen Notizen begegnen: Der Weg der Seele, der Weg zu Gott, Wege mit Christus, Erotik.

 

Eine spezielle Rede für eine spezielle Sache

Wenn „Seele“ der Ausdruck für den Anteil am Absoluten ist – dann führt der Weg der Seele über die Grenzen der Empirie hinaus, dann braucht es eine mythologische Redeweise. So macht es Apuleius in seinem „Goldenen Esel“ (dem ersten vollständig erhaltenen Roman der Literaturgeschichte). So machte es Augustinus in seinen „Bekenntnissen“, wo er bewusst nach dem Vorbild von Apuleius seinen Weg dargestellt hat in einer Mischung von Autobiographie und Götterlehre. Er bringt das Modell ins christliche Denken ein.

 

 

Diese Mischform des Redens in Erfahrungs-Kategorien und mythischen Ganzheits-Aussagen gab es früher in Sagen von Halbgöttern, die zwischen menschlicher und göttlicher Welt changieren. [24]

 

Metamorphose

Wird nicht nur die Biographie betrachtet zwischen Geburt und Tod, sondern der Weg der Seele von Gott her und zu Gott hin, so erfordert dieser Weg eine Wandlung, eine Metamorphose. Selbst der heutige Sprachgebrauch, der die Metamorphose auf den Gestaltwandel von Amphibien oder Insekten anwendet, enthält noch die antike Erinnerung. „Psyche“ heisst Atem, Hauch, Seele. Die Seele wurde in der Antike als Schmetterling dargestellt, um die Metamorphose im Weg des Menschen anzudeuten. (Schmetterlinge wandeln sich vom Ei über die Raupe zur Puppe und zum Schmetterling.)

 

Rekonstruktion in der Entwicklungs-Psychologie

Wir Menschen machen keine Insekten-Metamorphose durch. Aber das Werden der Insekten zeigt den gewaltigen Weg, den es zu durchschreiten gilt, bis ein Lebewesen, und gar ein Mensch, „fertig“ ist (früher hätte man gesagt: am Ziel). Das ist beim Menschen nicht nur die Entwicklung im Mutterleib, nicht nur in der Pubertät, wo der Organismus, das Fühlen und Denken, völlig umgebaut werden. Das betrifft das ganze Leben, wofür Erik Homburger Erikson mit seiner Entwicklungs-Psychologie ein Modell vorgelegt hat. [25]

Das ist eine Art inner-empirischer Metamorphose, die von Stufe zu Stufe schreitet, bis zur Integrität, zur Ganzheit, zum vollen Menschsein. Viele Bezüge sind da verarbeitet, von der Antike bis zum Christentum.

 

 

Die über-empirische Ausweitung des psychoanalytischen Modells folgte auf dem Fuss, und damit die Überschreitung der Grenze von empirischer Psychologie zu einer quasi-mythologischen Seelenlehre in der „Transpersonalen Psychologie“. Diesen Schritt geht Stanislav Grof in „Das Abenteuer der Selbstentdeckung“.

Er verlängert den von Freud, Jung und Erikson geschilderten Entwicklungsweg rückwärts in den Mutterbauch. (Das nennt er die „perinatale Phase“. Erinnerungen an diese Zeit können durch Drogen, durch Atemtechnik oder durch Lebenskrisen aktiviert werden, was Bilder und Mythen aus dem kollektiven Gedächtnis hervorbringt.)

 

Und er geht noch weiter zurück, bis zu einer „holographischen“ Erinnerung. Dort macht nicht nur der Fötus im Mutterleib eine Metamorphose im Sinn der Evolution durch und bewahrt daran eine Erinnerung (wenn diese auch nicht im aktiven Wach-Bewusstsein abgelegt ist). Auch die Zellen, auch die Atome bewahren ihren Werdegang aus der Kosmogonie noch in sich, in einer Form von nicht-mentaler „Erinnerung“, auch wenn diese kaum mehr bewusst zu machen ist und nur noch „holographisch“ als Form-Erinnerung in der Materie liegt. [26]

 

Erfahrung und Spekulation

(Grof meint aber, dass diese Erinnerung durch Drogen-Reisen etc. bewusst gemacht werden könne. Er versteht alle psychedelischen Erfahrungen als Abbilder einer Realität, als Erinnerungen an eine Metamorphose, an eine Seelenreise. [27]

 

 

Er nennt das „beobachten“ und möchte den Nimbus der empirischen Wissenschaft, welche nicht spekuliert, sondern beobachtet, auf solche Phänomene übertragen, auf die Introspektion und auf Erlebnisse, die andere als Wahnvorstellungen in einem Drogenrausch abtun würden, oder mehr philosophisch: als „spontane Synthesen“ des menschlichen Geistes, denen keine empirische Wirklichkeit entspricht. Also doch Spekulation, angeleitet von Erfahrungen im Rausch-Zustand, in nicht-alltäglichen Bewusstseins-Zuständen.

 

Vergleiche dazu die Traumdeutung in Antike und Altem Orient. Der Gott in „Amor und Psyche“ steigt nachts die Jakobsleiter herunter wie die Engel im Alten Testament und offenbart der schlafenden Psyche göttliche Erfahrung. Der Autor Apulejus war Priester des Äskulap-Kultes, wo Praktiken wie Tempel-Schlaf und Inkubations-Traum gepflegt wurden.)

 

Aufstieg bis zur Einheitserfahrung

Hier jedenfalls liegt eine moderne Form der „Metamorphosen“ des Ovid vor: in der „transpersonalen Psychologie“. Hier übersteigt die Erinnerung die Grenzen der empirischen Identität und klettert den dialektischen Stammbaum hoch. Hier kommt es zu Identitäts-Erfahrungen [28]: Das ist zunächst die Einheits-Erfahrung mit anderen Menschen, mit Tieren, mit Pflanzen, mit Substanzen auf der Erde, über der Erde, mit dem ganzen physikalischen Universum (Überschreiten der Raum-Grenzen).

Ebenso wird hier unserer individuellen Zeit-Erfahrung überschritten: über den Rahmen der eigenen Biographie hinaus auf die Ahnen, auf angebliche frühere Inkarnationen, auf die Phylogenese, auf die Evolution, auf die Kosmogonie.

(So wie Ovid bei seiner Reise zum Ursprung immer weiter zurückgeht bis zum „Ursprung von allem“ in der Kosmogonie).

 

 

Ein Schlüssel für alles

Damit nicht genug, überschreitet er spekulativ auch die Grenzen der raumzeitlichen Welt. In der Begeisterung nach der Entdeckung seiner neuen Methode denkt er, er könne alle Phänomene der Religion, der Esoterik, der Magie, und was immer in der Kultur tradiert wurde, in seiner neuen, erst geplanten Wissenschaft „einholen“.

So will er „spiritistische und mediumistische Erfahrungen“ von seiner Wissenschaft her rekonstruieren, Begegnungen mit Geistern, Besuche in anderen Universen, Begegnungen mit Gottheiten. Dann auch „transpersonale Erfahrungen psychoider Natur“. Die neue Wissenschaft klärt, was Krankheit und Gesundheit ist, sie hebt den Schatz des kranken Erlebens, sie zeigt einen Weg der Gesundung. Sie erklärt übernormale körperliche Leistungen, Psychokinese, Poltergeist-Phänomene, Heilen und Hexen. [29] (Es wäre unverständlich, wenn er das nicht versucht hätte.)

 

Die Sehnsucht nach einer Neuen Mythologie

Was Apuleius und Augustinus getan haben, die Mischung von Mythologie und „realistisch-autobiographischem“ Schreiben, gibt es auch in der heutigen Literatur, z.B. bei jener indischen Autorin, die sich über die Tabus der europäischen Schriftstellerzunft hinwegsetzt bzw. sie nicht kennt. (All die Schlagworte von „Entmythologisierung“, „Ende der „grossen Erzählung“, nach-modern, nach-metaphysisch, alle diese Selbstverortungen mit dem Präfix „post-…“.) [30]

 

 

Die Metamorphose beschreibt einen Wandlungsweg. Sie verfolgt den Gegenstand über den Bereich hinaus, der dem normalen Bewusstsein zugänglich ist, also über die Grenzen von Geburt und Tod hinaus, so dass es in Kontakt kommt mit grösseren Entitäten als dem individuellen Ich, so dass es teilhat an der Entstehung und Wandlung der ganzen Welt, so dass man wie Ovid bei der Schöpfung beginnen muss… – [31]

 

Entstehen und Vergehen

Die Metamorphose ist Teil der Kosmogonie. – Die Kosmogonie [32] der alten Welt hat sich gebildet unter der Erfahrung des Lebens in Flusstälern (alle alten Hoch-Kulturen sind in Flusstälern entstanden). Alles Leben verdankt sich hier der jährlichen Überflutung. Diese bewässert und düngt die Felder. Bald geht das Wasser zurück. Aus dem „Urmeer“, dem Wasser, das alles bedeckt, tauchen die ersten Spitzen hervor, dann das Land. Die Pflanzen beginnen zu keimen etc.

 

 

Das Viele entsteht aus dem Einen und kehrt jährlich mit der neuen Überflutung in dieses zurück. So entfaltet sich das Eine in die Gegensätze (z.B. Mann und Frau, Yin und Yang) und es vereinigt umgekehrt die Gegensätze in sich.

So folgt die Schöpfung dem Werde-Weg hinab, bis alles zur Frucht entfaltet ist. Darauf steigt sie den Rückweg hinauf, über Tod und Verfall, bis zum obersten Ursprung, sie steigt den Berg hinan bis zur Quelle, bis zum Chaos, in dem alle Gegensätze vereinigt sind, wo alle Keime ungeschieden in einer Ursuppe liegen. Bis wieder eine neue Schöpfung erfolgt aus der Arché, dem Prinzip, dem Ursprung.)

 

Abstieg und Aufstieg

Die Metamorphose folgt der Dialektik von Auf- und Abstieg.

Das wird bei Platon zu einem abstrakten Geschehen. Im Alten Orient ist es noch anschaulich zu erleben: Der Mensch in Ägypten sieht jedes Jahr, wie der Nil kommt und alles überschwemmt. In den Tempeln ist der „Urhügel“ dargestellt, der aus dem Chaoswasser auftaucht, der Ursprung. In den Pyramiden ist er im Grab nachgebaut, als Unterpfand für die Teilhabe am Weg des Lebens.

Auch im Lauf der Sonne zeigt sich dieser Weg. Jeden Tag geht sie auf und unter, jedes Jahr macht sie ihren Lauf, der mal hoch in den Himmel führt, mal tief. So hält sie die Jahreszeiten in Gang, erweckt die Vegetation zu neuem Leben. Die Sterne zeigen diesen Lauf. Er zeigt sich in allem Lebenden, das entsteht, vergeht, sich vereinigt und neues Leben aus sich hervorbringt.

Der Mensch sieht und versteht. Er merkt sich den Gang der Sterne, lernt sie berechnen. So weiss er auch, was er nicht sieht, lernt das Wissen höher schätzen als das Sehen. Er vertraut auf die Vernunft, die sich Dinge erschliesst, die das Auge nicht sieht. Er vertraut auf die Grosse Wirklichkeit, die nur in kleinsten Teilen sichtbar wird, und die doch alles durchwirkt.

 

 

So beginnt die Philosophie die Mythen zu befragen. Aus den Riten der Kosmogonie entsteht die Philosophie des Einen und Vielen, die Dialektik. Mit dieser Denkfigur bleibt die Philosophie für Jahrhundert im Modell der antiken Kosmogonie. [33]

 

Die Liebe kommt ins Spiel

Was ist das Prinzip, das alles auslöst? – Es gibt ein Movens, das die Bewegung auslöst und in Bewegung hält: das ist die Erotik, der Eros, die Liebe. Sie vereinigt das Getrennte, führt es zur Einheit, so dass daraus neues Leben entsteht und das Eine sich wiederum zum Vielen entfaltet. Sie ist das dialektische Prinzip.

Im Erleben der Liebe haben wir Teil an diesem Weg. Im Festhalten an der Liebe finden wir den rechten Weg. Sie weist den Weg im Labyrinth zum Zentrum und wieder zurück zum Ausgang. Sie führt im kosmogonischen Lauf von Werden und Vergehen zum Zentrum und wieder zurück zu „Auferstehung“ und neuer Schöpfung. Sie verwandelt auch uns und führt uns auf dem Weg. Sie ist Vergil und Beatrice in einem, die Dante auf dem Weg hinab und hinauf begleiten. Sie ist das, was Christus verkörpert, der von sich sagt: Ich bin der Weg.

Die Liebe macht die Vereinigung „erfahrbar“: zwischen Menschen, aber auch als Verbindung mit Gott. Er ist das gemeinte Du, an dem wir selber werden, wer wir eigentlich sind. Nach ihm sehnen wir uns, wenn wir ihn verloren haben, in ihm freuen wir uns, wenn wir ihn gefunden haben. [34]

 

 

In der Verbindung mit Gott erfährt die Seele ihre Apotheose. Wie in einer Mesalliance wird sie durch die Vereinigung mit einem höherstehenden Geliebten geadelt und hinaufgehoben. Sie verwandelt sich, erhält neue Kleider und Würdenzeichen, sie wird überformt von einer neuen Identität. Aschenputtel wird Königsfrau. [35] Das ist das Ziel des Seelenweges, die Erlösung.

Das ist die Erfahrung, die man in der Liebe machen kann. Das ist die Lehre vieler Mythen und Sagen. Das lebt in Archetypen und Träumen. Das ist die Auskunft der Bibel, das ist das „Kernstück der Mystik aller Zeiten“, wie ein Autor formulierte. [36]

 

Lust und Liebe

Das Kind von Amor und Psyche ist Voluptas, die Lust, die Kraft zwischen Mann und Frau. Sie wird zur Ehre der Altäre erhoben, Psyche wird unsterblich, eine Göttin. Sie trinkt Ambrosia [37], die Seele kommt an ihr unsterbliches Ziel. Aber auch die Lust transformiert sich. Sie ist damit nicht nur eine Kraft, die auf Erden ihr Wesen treibt, sie wird ein himmlisches Prinzip. Sie erklärt in einem Bild, in der Analogie einer menschlichen Erfahrung, was die Kraft ist, die alles zusammenführt und die ein neues Leben aus sich entlässt.

 

 

Erotik

Was ist zu lernen für den Umgang mit Sexualität? – Sie steht zwischen asketischer Verachtung und esoterischer Verehrung, zwischen pornographischer Vermarktung und religiöser Heimholung. Was ist zu lernen in heutiger Liebes- und Sexualnot? – Sie entfaltet sich im Konflikt zwischen Trieb-Regungen, Ansprüchen von Über-Ich-Instanzen, Modetrends, sozialen Codes und Zugehörigkeits-Bedingungen … – und der Sehnsucht nach einem vollen, eigentlichen Leben.

 

Die Antwort des Märchens

Das Märchen „Amor und Psyche“ hat die europäische Kultur für Jahrhunderte beeinflusst. Meine Zusammenfassung kommt zu folgender Schlussfolgerung:

 

Das Leben hat eine Lösung.

Die Lösung kommt nicht durch ein „Machen“, aber durch „Nachfolge“ auf einem Weg. Dieser Weg führt wie die Bahn der Gestirne „hinauf“ und „hinab“. Er erfolgt mit zwingender Notwendigkeit. Auch das Hinab gehört dazu, das Dunkle ist ein Teil des Hinauf. „Psychisch“ gesprochen (im Erleben der Psyche) muss auch das Dunkle zur Lösung beitragen. [38]

 

Die Rolle der Liebe ist geklärt.

Sie hat Bezug zum Weg. Aber nicht der Rausch ist der Heilsweg. Und die Verzweiflung verschmähter Liebe bedeutet nicht den Untergang.

Die Liebe ist nicht nur ein Empfinden der Psyche. In diesem Empfinden hat sie Zugang zu einer Kraft, die die obere und untere Welt beherrscht.

Ihre Kraft zu verbinden und zu trennen, wird zum Bild für den kosmogonischen Prozess, durch den das Eine in das Viele strömt und das Viele in das Eine zurückkehrt.

 

 

Die Wirklichkeit ist kein „finsteres Loch“. „Gott liebt die Menschen.“

Die Wirklichkeit antwortet auf dessen Intuitionen. Sie hat eine „Asymmetrie“ zugunsten der Gnade. Die Welt hat ein Gefälle zum Glück.

Es gibt „Erlösung“ – ein Ankommen auf dem Weg, das nicht aus dem Machen kommt, sondern aus dem Nachfolgen auf einem Weg.

Da werden die Gäste mit Gott zu Tische sitzen. „Alle“ sind dabei, weil Gott sie sucht. Gott tauscht die Trauergewänder gegen Hochzeitsgewänder. Und es wird Hochzeit gefeiert.

 

 

Die Quelle des Lebens

 

Ambach, 15. Mai 2007

Die Bibel teilt viele Vorstellungen mit ihrer altorientalischen Umwelt. Auch sie kennt die kosmogonische Verwandlung als Modell, um den Fall und die Heilung des Menschen zu denken. Sie teilt mit der Antike das Bild der verschiedenen Weltzeitalter, in denen das Dasein mehr und mehr an Qualität verliert. (Das goldene, silberne, eherne und eiserne Zeitalter nach den Autoren der Antike.)

Das erste Buch Mose zeigt den Abstieg und Verfall der guten Schöpfung bis zur totalen Korruption, bis Gott sagt: „Es reut mich, dass ich den Menschen geschaffen habe.“ Und er rottet das Leben in der Sintflut aus.

Ähnlich der Aufstieg, die Heilung: Als die Offenbarung des Gesetzes nicht reicht (weil die Menschen nicht können, wie sie sollen), lässt er die Propheten eine neue Schöpfung verkünden. Der „neue Mensch“ trägt das Gesetz nicht mehr nur auf der Stirn, damit er sich an das Gebot erinnern soll, nicht als Gebetsriemen am Arm, damit er sich die Verpflichtung auf die Arme schreibt, sondern „im Herzen“. In der neuen Schöpfung neigt der Mensch schon „von Natur aus“, dem Rechten zu. Der Widerstreit von Natur und Geist ist aufgehoben.

 

 

Wie kann ich, was ich soll?

Heute aber, bevor die neue Schöpfung kommt, geht ein Riss durch die Schöpfung. Ich kann nicht, was ich soll. Das Alte Testament schildert das anhand der zwei Bäume im Paradies: der eine zeigt, was wir sollen, der andere gibt ewiges Leben. Da Adam und Eva nur vom einen gegessen haben, wissen wir Menschen, was wir sollen, aber wir können es nicht voll verwirklichen, da wir sterblich und begrenzt sind.

Die Früchte vom zweiten Baum sind uns erst „am Ende der Zeit“ zugänglich, wenn wir wieder ins Paradies eingehen. (Off. 22). Dann spricht Gott ein neues „Werde!“ Im Reich Gottes, in der Neuen Schöpfung können wir, was wir sollen. Sein und Sollen entsprechen sich. Das ist der Neue Äon, am Ende der Zeit. In Christus haben wir „schon jetzt“ einen Zugang, so sagt das Neue Testament. Die Taufe verweist in einem Ritual auf den Weg, den wir gehen und den Christus schon vorausgegangen ist: durch Tod zur Neuen Schöpfung. In der Antike wurden Rituale so gefeiert, dass sie auf dem Weg helfen sollten.[39]

 

Die drei Aufgaben

Einen Hinweis gibt die antike Tradition in den „drei Aufgaben der Seele auf dem Weg“, vgl. „Amor und Psyche“. [40]

  • Psyche soll einen Haufen von Weizen, Gerste etc. verlesen.
  • Sie soll Flocken von der Wolle der Schafe pflücken, die in einem dunklen Wald weiden.
  • Sie soll Wasser aus der Quelle holen, wo der Unterweltsfluss Styx entspringt.

 

Dazu gehört auch der „kleine Dienst“, welchen Venus am Schluss noch von ihr erbittet: Psyche soll mit einer Büchse in die Unterwelt gehen und die Göttin Persephone um ein bisschen von ihrer (unsterblichen) Schönheit bitten. [41]

 

 

Die Reise in die Unterwelt

Die dritte Aufgabe betrifft den Tod und das scheint nicht unsere Lebensaufgabe zu sein. Doch gibt es auch zu Lebzeiten Seelenreisen in die Unterwelt – im Traum, in psychedelischen Erlebnissen, in krankhaften Durchbrüchen nicht-bewusster Erfahrungen, als psychische Reaktion bei traumatischer Verletzung, als Wiederbelebung perinataler Erfahrung in bestimmten Situationen… [42]

Es ist ein häufiges Motiv in antiken Sagen und Mythen. (Platon hat es als Erkenntnisweg der Vernunft rekonstruiert, die „zu Lebezeiten“ den dialektischen Baum hinauf und hinunter klettert, auch wenn sie dabei auf ein Vorwissen zurückgreift, das Platon mythologisch durch ein Vorleben der Seele erklärt.)

 

Tod und Leben – und die Sakramente

Es geht nicht ohne diese „Reisen“, denn dort geht es um die Unsterblichkeit, um das „Wassers des Lebens“. Das ist das Ziel dieser Aufgaben. Die drei Aufgaben sind nicht zu addieren, als ob sie verschieden wären. Sie erläutern sich gegenseitig.

Wir brauchen schon zu Lebzeiten Zugang zum „Wasser des Lebens“. Darum das Wasser, die Äpfel und was in den Märchen als Varianten zu den drei Aufgaben der Psyche immer aufgezählt wird. Es geht um das Manna und das Wasser in der Wüste: das Abendmahl.

Es geht darum, dass wir Anschluss finden an die Quelle des Lebens. Nur so finden wir immer wieder neue Kraft auf dem Weg, wie der Prophet Elia, der in die Wüste flieht und am Moses-Berg Gott schaut. Als er sterben will, wird er von einem Engel gesättigt.

Das alles ist für die Zeitgenossen verstellt bis zur Abwehr: „Es wird mir eng, wenn ich mir das nur schon vorstelle.“ Was Sakramente meinen, muss neu gedacht und gefühlt werden.

 

 

Ausblick auf die Sakramente

Die antike Seelenreise endet am „Tisch der Götter“, wo die Sterblichen den „Kelch des Heils“ trinken. Damit tauchen die Sakramente auf: sinnliche Zeichen, die etwas Geistiges ausdrücken, körperliche Symbole, die eine Heilserfahrung vermitteln. Und der „Weg der Seele“, der zum Himmel führte, richtet sich zur Erde zurück.

Der Körper scheint geeignet, das, was der Geist meint, in sinnliches Erfahren umzusetzen. So steht er auch in Bezug zum „Eros“, was beim ersten Hören vielleicht skandalös wirken mag.

Die Feier der christlichen Sakramente hat sich weit von solchen Ursprüngen entfernt. Die antiken Mysterien-Feiern zeigen einen Umgang mit solchen Symbol-Handlungen, der auf einem langen Erfahrungsweg verfeinert und vertieft worden ist. Er kann Anregung geben für eine neue Sakramenten-Praxis auch in der Kirche.

Körperliche Symbole markieren die Mitte zwischen Körper und Geist. Sie „bedeuten“ etwas und gehören doch der sinnlichen Welt an. Sie können die Kluft zwischen Wollen und Tun überspringen. Die Antike feierte die „Taufe“ so, dass der Gläubige nicht nur ein neues Weltbild und ein neues Selbstverständnis erhielt. Er wurde auch instand gesetzt, nach diesem Glauben zu leben und seinem Gott nachzufolgen.

Es ist eine Antwort auf den Skandal, dass der Glaube immer nur im Kopf sitzt, aber nie auf den Körper übergreifen kann. Denn dort, im Nacken sitzt immer noch die Angst, und der Schreck hockt in den Gliedern. Und der Gläubige erfährt jeden Tag, dass er will und nicht kann. Im Kopf ist er ein Christ. Aber mit dem Knie noch ein Heide. Es braucht nicht eine Missionierung aller Kontinente, aber eine Verkündigung bis in die Knochen. Bis wir mit dem Knie glauben können, mit dem Bein, das aufsteht und mit der Hand, die sich zum Tag rüstet. Damit die „Hand“-lungen gelingen mögen. [43]

 

 

Zu dumm für das Leben

 

Ambach, 21. Mai 2007

Mein Montagmorgen-Weh ist ein Weh aus früher Kindheit. Es ist die Verlassenheits-Angst, die aufsteigt. Sie macht mich fremd in dieser Welt. Die Welt strahlt in einem gleissenden Licht, und ich tappe darin herum wie geblendet. Ich verstehe die Welt in ihrem Innersten nicht. Ich verstehe die Zeit nicht, die vergeht und alles verzaubert.

In meinem Innern ist alles noch da. Ich möchte den Ort aufsuchen, wo meine Eltern leben und ihnen einen Besuch abstatten, aber der Ort hat sich verändert, das Haus ist kaum wiederzufinden, es wohnen fremde Leute dort, das Grab meiner Eltern ist auf dem Friedhof.

So geschieht es jetzt auch mit meiner Familie, die Zeit schwingt ihren Zauberstab über sie. Eben waren es noch Kinder, schon sind sie gross. Und „klack!“ macht die Türe und weg sind sie. Ja, es ist leicht, darüber zu lachen und über die Schwäche. Aber so lebe ich, ich werde älter und verstehe es nicht. Das Leben vergeht, und ich verstehe es nicht. Eine Zukunft kommt, und ich verstehe sie nicht.

Ich bin zu dumm für das Leben.

 

 

Studien in Scham

 

Ambach, 25. Mai 2007

Antonia und die Kinder verbringen Pfingsten mit befreundeten Familien auf einem Bauernhof. Auf dem Weg zum Bahnhof gehen Deborah und Sandra einen anderen Weg als wir Eltern, sie wollen nicht mit uns zusammengezählt werden. Antonia meint, so fühlten sie sich freier. Ich denke: Sie schämen sich.

Die Scham spricht Verbote aus, zwingt andere Wege auf. Man wünscht sich eine Tarnkappe oder den Schutz der Nacht. Sonst muss man Orte und Menschen meiden. Frei ist nur, wer durch die Scham hindurchgegangen ist. Er lässt sich von ihr keinen Zwang mehr auferlegen.

Durch die Scham hindurchgegangen – das bin ich noch nicht, wenn das heissen soll, dass ich jetzt zu allen Zeiten an alle Orte hingehen könnte.

Hindurchgehen heisst: sich mit dem Bedrohlichen anfreunden, mit dem Feindseligen Frieden schliessen, auch mit dem an mir, was ich selbst ablehne. Dann erwarte ich diese Ablehnung nicht mehr von den andern. Dann muss ich mich nicht mehr verbergen und ich kann mich zeigen.

 

Die Nachtfahrt der Seele

Hindurchgehen heisst: mich bei Licht betrachten und sehen, was an mir ist, und es schön finden. Das kommt aber erst nach dem Hässlichen. Es kommt nach dem Furchtbaren, das es für mich bedeutet, mich in diesem Spiegel zu sehen. Es kommt nach der Scham, dem Herabgeholt-Werden von meinem Selbstbild. Es kommt erst, nachdem ich das annehmen lerne, was ist, und wenn ich den selbst-identifizierenden Satz ausspreche: Das bin ich, Peter W.

„Ego eimi“ – „das bin ich“. Christus spricht das immer wieder aus im Evangelium des Johannes. Es ist der Selbstoffenbarungs-Satz der Gottheit in den antiken Mysterien. Aber zuerst spricht er es aus in der Passion. Als Judas ihn verrät, als die Kriegsknechte in den Garten kommen, geht er ihnen entgegen: Wen sucht ihr? Sie antworteten ihm: Jesus von Nazareth.

 

 

Er spricht zu ihnen: Ich bin‘s. Da wichen sie zurück und fielen zu Boden. (Joh 18,4ff) – Dass sie zu Boden fallen zeigt den Offenbarungs-Charakter dieser Worte. Aber zuerst identifiziert sich Jesus in diesem Satz nicht mit einer Gottheit, sondern mit dem Gesuchten, der ans Kreuz geführt wird.

Vor dem Beginn des neuen Weges braucht es das Weggehen vom Alten. Es ist paradox, aber der Schritt ins Neue fällt mit dem Annehmen des Alten zusammen. Es ist mit einem Wort: Demut. Mich schön finden, mich hässlich finden – die Demut macht leer, sie trägt die Last, ausgestellt zu sein. Dann erst bin ich frei, ich kann mich neu verstehen von dem Gott her, der da kommt und sagt: „Ich bin… – und du, folge mir nach.“ Und das Bild Gottes, das verdunkelt war, kann von neuem erstrahlen.

Es ist die Nachtfahrt der Seele, die erst ans Ziel kommt, wenn das alte Selbstbild stirbt und das neue geboren werden kann. Ich wehre mich immer noch, zu sterben.

 

 

 

Mysterien und Sakramente

Suchwege in dieser Zeit

 

Das „Sabbatical“ gab mir Zeit im Pfarramt. Ich stand nicht mehr unter Produktionsdruck. Was sich innerlich angestaut hatte, brach jetzt hervor. Einige Wege habe ich bewusst eingeschlagen. Anderes konnte ich einfach geschehen lassen, weil es freie Bahn suchte.

Eros ist ein Stichwort für meine persönliche Entwicklung. Es meint nicht nur die Sexualität, sondern die ganze Lebendigkeit, die bei mir in der Kindheit „eingefroren“ war. Es meint eine Unbefangenheit, eine Erlaubnis zum Dasein, die bei mir immer wieder aufgehoben scheint und die ich auch meinen Kindern nicht vermitteln kann, was mich besonders schmerzt.

Darum ist es auch ein Stichwort in meinem Nachdenken zum Glauben. Im Glauben will ich wieder neu vertrauen lernen. Gerade diese Suche muss auf die Widerstände stossen, auf all das, das „verhockt“ und blockiert ist, was sich aktiv gegen Vertrauen wehrt. Mein Glauben muss den Weg durch den Körper nehmen, das wird mir klar. Dann klärt sich nicht nur meine Beziehung zu Gott, sondern auch zu den Menschen und zu mir selbst.

Das sind die Suchwege dieser Zeit. Ich will das Vertrauen auch in meinem Körper verankern, damit ich mich unbefangener verhalten kann, damit ich mich weniger im Zwangs-Korsett gelernter Mechanismen drehe. Entwicklungen, die sich bereits abzeichnen, die in meinen Träumen aufsteigen, sollen sich auch äusserlich in meinem Leben konstellieren können. Ich will die Schritte tun, für die die Zeit „reif“ geworden ist.

In dieser Zeit lese ich intensiv in der Bibel. Im Neuen Testament finde ich nicht nur die Nachwirkung des „alten“ Testamentes, sondern auch Motive aus der antiken Umwelt. [44] In der griechischen Antike kam dem Eros eine zentrale Stellung zu. Er ist das bewegende Prinzip in der Kosmogonie, er bringt das Viele zusammen und lässt das Eine in das Viele auseinandertreten.

 

 

Er bewegt die Menschen und führt sie auf ihrer Bahn, er lässt sie zum Himmel steigen und begleitet sie in der Unterwelt.

Das Märchen Amor und Psyche zeigt den Weg der «Psyche» (Seele) durch all ihre leidvollen Verirrungen bis zur Ankunft im „Himmel“, wo sie am Tisch der Götter sitzt und aus dem „Becher der Unsterblichkeit“ trinkt.

Das Märchen stützt sich auf Erzählungen in antiken Mysterien-Kulten. Der „Kelch des Heils“ wird dort nicht nur im „Himmel“ ausgeschenkt. Er wird auch in den Feiern gereicht. Es ist ein Sakrament, das dazu dienen soll, dass der Angehörige dieses Kults nach der Weise leben kann, die er hier kennengelernt hat. Dabei helfen ihm auch die Feier und die Gemeinschaft der Kultgenossen. Sakramente helfen auf dem Weg der Nachfolge, damit die Eingeweihten auch „können, was sie sollen“. Es sind Bindeglieder zwischen Körper und Geist, die die Motivationskräfte stärken.

Das Sakrament ist eine Antwort auf die Frage, warum der Glaube immer wieder hilflos vor den Widerständen steht, die aus dem eigenen Inneren aufsteigen. Kein Wunder, haben moderne Entwicklungspsychologen sich auf die Kult-Mysterien bezogen, auf den Weg der Seele, der dort gezeichnet wird und auf die Frage der Motivationskräfte für das Verhalten. Das wird für mich zu einer spannenden Lektüre in dieser Zeit, den „Weg der Seele“ in Antike und Moderne zu verfolgen.

Was mich interessierte, war die Frage, wie wir in der christlichen Kirche heute Sakramente feiern können, die dem Feiernden helfen, das zu tun, was er feiert. Die Sakramentenfeier hat sich in manchen Kirchen veräusserlicht und erreicht die Menschen nicht mehr in ihren zentralen Fragen. Sie neu feiern zu lernen, das ist eine Lebensfrage für die Kirche.[45]

 

 

Die Sakramente

 

In dieser Zeit las mir unsere kleine Tochter ein Märchen vor. Es berührte mich wie ein Traum. Es handelte davon, wie Quellen austrocknen, und wie der Mensch auf einer Reise zu den Quellen den Anschluss wieder finden kann. Dieses Märchen beschäftige mich lange. Und ich begriff, dass es von denselben Dingen handelte wie das Abendmahl.

 

Ambach, 31. Mai 2007

Ich möchte mal hinsitzen und ohne langes Zusammenstellen einfach aus dem Kopf aufschreiben, was mir zu den Sakramenten einfällt. Und zwar nicht als Pfarrer, der Auskunft gibt, sondern als Mensch, der sein Leben gestalten soll und der für sich die Sakramente „entdeckt“ hat, weil er ahnt, dass sie Antworten geben auf solche Fragen.

Taufe und Abendmahl sind mit einem Bild des Lebensweges verbunden, ich habe angefangen, mich damit zu beschäftigen, weil ich hier auch einen Weg für mein eigenes Leben zu finden glaube. Es hat wenig mit Wissen, viel mit Ahnung zu tun, mit dem, was in Träumen aufscheint. Ich habe immer wieder erlebt, dass Träume mich durch etwas hindurch geleitet haben. Das macht mich hellhörig für solche Ahnungen, für das Wissen der Träume, für solche Landkarten des Lebensweges. Es ist, als ob es Schatzkarten gäbe, die den Weg zeigen zu ungehobenen Schätzen. Das elektrisiert mich, es verspricht mir Zugang zu Dingen, die ich auf andere Weise nicht finden kann.

Ob es nun Schätze sind, die ich zu finden hoffe, oder Fallgruben, denen ich entgehen möchte. Es sind Dinge der Art, die ich nicht in die Agenda schreibe, weil ich sie gar nicht nach üblicher Art erledigen kann. Sie stehen an in meinem Leben, sie erfordern eine Antwort, aber ich kann sie nicht einfach machen, denn das zu tun, steht nicht in meiner Macht. Es steht mir nicht zu Gebot, jedenfalls nicht so, dass ich davon wüsste.

Ich will eine Schraube anziehen, aber in dem Werkzeugkoffer, der mir für meine Alltagsfragen hilft, ist der Schraubenzieher nicht zu finden, der diese Schraube anziehen kann. Es ist überhaupt weniger eine Aufgabe für die Hände als für… –

 

 

Es ist ein Gehen auf einem Weg, ein Hinüberschreiten über eine Brücke. Und manchmal ist da kein Weg und keine Brücke – da ist nur Wasser, und ich soll über Wasser gehen…

 

Taufe

Es geht um Fragen, von denen ich spüre, dass sie im Leben anstehen, und doch kann ich sie nicht einfach beantworten. In diesen Bereichen habe ich den Zugang zur Taufe gefunden. Um Wandlung geht es, um Heraustreten aus etwas Altem, das mehr und mehr als Last empfunden wird. Aber es ist nicht leicht. Das Alte, das war bisher mein Leben. Das war das, was mir geholfen hat. Ich ahne etwas Neues vor mir, aber für das Gefühl ist es, als ob ich in die Tiefe springen müsste. Es weckt grosse Ängste, ich weiche zurück. Ich bleibe beim Alten.

Mit dem Zurückweichen bin ich die Ängste los. Dafür ist jetzt etwas da wie ein Schuldgefühl. Es ist, als ob ich eine Pflicht versäumte. Aber wenn ich in der Agenda nachsehe: Da ist keine Pflicht, die ich nicht erfüllt hätte. Und doch mahnt mich mein Gewissen. (Ist es das Gewissen, was mich auf diese Dinge hinweist?) Es ist wie eine Pflicht, die ich meinem eigenen Leben schulde, und sie ist irgendwo aufgeschrieben. Aber mit dem Alltagsbewusstsein habe ich keinen Zugang. Dieses sagt mir nur „es ist ok“. Ich schaue in die Agenda: ich habe alles erledigt. Ich schaue auf das Pult: da sind noch viele Aufgaben, aber dabei ist keine, die mein Gewissen auf diese Art berühren kann. So ist das mit diesem Weg, den ich gehen muss – will ich vorwärts, macht es mir Angst, weiche ich zurück, bleibt diese Unruhe.

In diesen Wechselbädern stand ich, als ich einen Traum hatte: Ich sah mich und ging einen Weg. Der Weg hatte viele Stationen, und er führte bis ans Ziel. Als ich später über den Traum nachdachte, stiegen viele Bilder in mir auf. Und ich sah: das entspricht dem Weg der Taufe. Taufe ist nicht nur ein Ritual in der Kindheit. Darin steckt mehr, darin steckt ein Wissen über den Menschen und seinen Weg.

 

 

Abendmahl

In einer anderen Zeit – es war vielleicht zehn Jahre später – fühlte ich mich in meinem Leben seltsam blockiert. Wenn ich anderen Menschen zuschaute, so schien es in ihrem Leben viel mehr zu „fliessen“. Sie nahmen etwas in die Hände, begannen etwas Neues, und es entstand etwas daraus. Das geschah ohne Plan, es entwickelte sich einfach, es war ein Hin und Her von Tun und Sich-Entwickeln. Und ihr Leben veränderte sich dadurch. Im Nachhinein wurde sichtbar, dass sie auf einen neuen Weg kamen. Was ein persönliches Interesse war, wurde zu einem neuen Beruf. Was im Kleinen begann, brachte später Geld ein, so dass sie ihr ganzes Dasein auf eine neue Grundlage stellen konnten.

Ich dagegen fühlte mich leer. Mir wollte nichts gelingen. Was ich nach aussen einbrachte, stiess auf keinen Widerhall. Ich fühlte mich wie ein Baum, dem das Wasser ausgeht. Ich war nicht verwurzelt, hatte keinen Zugang zur Quelle.

In dieser Zeit las mir unsere kleine Tochter ein Märchen vor. Es berührte mich wie ein Traum. Es handelte davon, wie Quellen austrocknen, und wie der Mensch auf einer Reise zu den Quellen den Anschluss wieder finden kann. Dieses Märchen beschäftige mich lange. Und ich begriff, dass es von denselben Dingen handelte wie das Abendmahl.

Dieser Name ist für viele heute fremd, sie verbinden wenig Positives damit, wenden sich eher davon ab. Das Abendmahl ist nicht nur eine Feier für die „Frommen“. Darin steckt mehr, darin steckt eine Auskunft, wie man wieder an die Quelle gelangen kann. So dass man säen kann – und die Saat geht auf, so dass man handeln kann – und es „fliesst“.

 

 

Der Körper

Eine Zusammenfassung

 

Ambach, 9. Juni 2007

Ich habe schon lange nicht mehr Tagebuch geschrieben. Ich habe den Einstieg gefunden in die Fragestellung. Eines zog das andere nach sich. So kam ich vom hundertsten ins tausendste. [46]

 

Die Frage

Im Hintergrund all dieser Suchwege steht die grosse Frage: Wie man den „Weg“ gehen kann, was die Kraftquellen sind, die dabei helfen. Die Kultmysterien geben einen Hinweis: Sie kannten eine Initationsfeier (initiatio), die bewusst nicht auf den Intellekt wirkte, sondern tiefere Schichten im Menschen ansprach. So prägte sich das in der Feier Geschaute tiefer ein. Und die Erinnerung half später auf dem Weg (ordinatio). Sei es, dass es darum ging, es in Handlung umzusetzen, sei es, dass es Vertrauen brauchte, um eine Entscheidung zu fällen, auch in jenen Dingen, die man nicht vorhersehen kann.

Diese in die Körpererfahrung eingeprägte Erinnerung half auch, wenn die Entwicklung verlangte, dass man einen Schritt wagte und auf etwas zuging, das man nicht selber in der Hand hielt. Das ist etwas, das man nicht deutlich weiss, es steht nicht in der Agenda, es zeichnet sich in Träumen ab, es meldet sich diffus an in Unruhe, Sehnsucht etc. Aber ein Schritt in diese Richtung weckt Angst und Gegenkräfte. So lässt man es ruhen. Und doch spürt man, dass es ganz wesentlich zum Leben gehört.

 

 

Es sind Wandlungsprozesse, die nicht bewusst gesteuert werden können. Sie öffnen erst wieder einen neuen Handlungsraum, wo das bewusste Verhalten sich Ziele setzen und diese anstreben kann. [47] Solche Wandlungsprozesse sind z.B. die Pubertät, die Wechseljahre, das Altern. Es kann aber auch individuell verschieden sein: wenn immer eine neue Lebensaufgabe vor uns steht, die wir in der alten Charakter-Ausstattung nicht bewältigen können.

Nach Jung müssen wir ein Stück vom „Schatten“ integrieren, um das Instrumentarium zu finden, das uns hilft. Nach Erikson können wir nur das in uns zur Integrität bringen, was wir auch durch unser Verhalten in die Gemeinschaft einbringen. Selbst-Integration und soziale Integration verlaufen spiegelbildlich.

So bringt uns auch das Wachstum am Arbeitsplatz, die simple Karriere, an die Grenzen unseres Charakters. Sie verlangt, dass wir uns immer wieder grundsätzlich neu organisieren, wenn das Wachstum vorwärts gehen soll. (So gibt es eine Berührung zwischen „Karriere“ und „Weg“).

 

 

Nachdenken im Gefolge von Platon

Im Kultmysterium geht es um pathein, nicht mathein. Es braucht die „Erschütterung“, der Mensch muss berührt werden, wenn er das Geschaute behalten soll. [48]

Deutsch und deutlich sagt man: sich etwas hinter die Ohren schreiben. Gemeint ist die Ohrfeige. Wenn Kinder früher eine Grenze überschritten haben, ist Erwachsenen manchmal „die Hand ausgerutscht“. Und die Kinder wussten jetzt und haben sich erinnert, dass sie das nicht tun dürfen. Die frühere Pädagogik (ohne Plädoyer für diesen Weg) hat den Kindern etwas „eingebleut“, indem sie ihnen manchmal auch etwas „hinter die Löffel“ gab. Damit schrieb man das Gehörte nicht nur „in“, sondern auch „hinter“ die Ohren.

 

 

Körperliche Erinnerung

Gemeint ist das körperliche Erlebnis, das mit dem Gesagten einhergeht und das dieses nicht nur im kognitiven Gedächtnis abspeichert, sondern auch in einer Art Körper-Gedächtnis. Manchmal erinnert man sich genau an die Seite, wo ein Lehrstoff im Lehrbuch steht, aber nicht mehr an den Inhalt. So kann man nachschlagen. Das Ortsgedächtnis hilft. Es hat nicht nur die Nervenverknüpfungen im Gehirn als Hilfen, sondern auch die assoziativ wirkenden Eselbrücken in der Umwelt.

So findet der Reiter den Weg wieder, den er ein Jahr lang nicht mehr eingeschlagen hat: im Lauf des Vordringens wird er Schritt um Schritt erinnert und weitergeleitet. So lernt ein Klavierspieler die Noten auswendig. So kann ich blind auf der Tastatur schreiben. Wenn ich es angeben müsste, welcher Finger welchen Buchstaben betätigt, wüsste ich es nicht. Im Schreiben „weiss“ ich es aber. So habe ich als Konditorlehrling gelernt, „Schoggi-S“ mit dem Dressiersack auf das Blech zu pressen. Es braucht Übung, bis es „aus der Hand“ fliesst und nicht mehr aus dem Kopf.

Der Körper hat ein eigenes Gedächtnis und die Umwelt ist eine Art Erinnerungs-Speicher, der als assoziative Eselsbrücke wirkt, sobald man den Weg durch diese Umwelt geht. Es ist eine Art Landkarte für die Erinnerung, wie eine Auslagerung der Erinnerungsfunktion in einen „externen Speicher“.

Nicht nur die räumliche Umwelt kann assoziativ Erinnerungen speichern und wiederbeleben, alle Umstände beim Lernen gehören dazu: Das Licht, wenn es damals besonders war, die Geräusche, Musik. Ein besonderes Lied kann sich einprägen, und v. a. auch Gerüche. (Auf dem Estrich bei meinen Eltern fand ich eine alte Tauchmaske. Als ich sie aufsetzte und ihren Gummi-Geruch einatmete, überfiel mich fast schockartig die Erinnerung an die Badeanstalt meiner Kindheit.)

Alle sinnlichen Eindrücke können mitwirken, wenn sich eine Empfindung der Erinnerung einprägt. Das macht die Erschütterung aus, den Unterschied des pathein zum blossen mathein.

So lernen Kinder mit Hilfe von rhythmischem Singsang und im Wiegen der Körper den ganzen Talmud oder Koran auswendig, sogar wenn sie die Sprache nicht verstehen. So haben wir selbst als Kinder noch Dinge auswendig gelernt, indem wir sie in einen Merk-Vers fassten.

 

 

Erinnerung vermittelt Kompetenzen

Was die Erinnerung wiederbelebt, ist nicht nur der abstrakte Lerninhalt. Die Erinnerung an bestimmte Lebensphasen kann auch die Gefühle wiederbeleben, die wir damals empfanden. Für mich war es eine Aufbruch-Zeit, als ich im ersten Studium für eine Zeitung zu arbeiten begann. Viele Dinge haben sich damals geordnet: endlich Erfolg haben, Geld verdienen, unabhängig werden von den Eltern, Selbstachtung entwickeln, eine Beziehung eingehen.

Ich habe mich später an diese Zeit erinnert, in einer Phase grosser Demütigungen, die sich von jener Zeit abhob wie Schwarz und Weiss. Aber die Erinnerung weckte nicht Bedauern, was ich verloren hatte. Die Erinnerung weckte die Empfindungen in mir aufs Neue. So dass ich wirklich besser auftreten konnte auf der Strasse. Ich hatte ein besseres Auftreten vor den Menschen. Ich konnte mich besser achten, als ich es eben noch tat.

Nicht nur die Gefühle wurden also wiederbelebt, sogar die Haltung, die ich damals im Leben empfand, konnte ich wieder neu aktivieren und als Quelle für die Bewältigung meines Alltags heute anzapfen. (Und es ist eine Möglichkeit, die ich bewusst in der Seelsorge mit alten Menschen einsetze.)

Dass der Aufstieg zu den höchsten Prinzipien durch die sinnliche Welt führt, ist also kein Nachteil, wie man nach der Lektüre von Platon meinen könnte. Das Sinnliche ist eine Hilfe, der Körper verfügt über Erinnerungen, von denen das Bewusstsein nichts weiss. Und diese Erinnerungen können abgerufen werden, sie können in Dienst gestellt werden für die Aufgabe, den Weg zu gehen. [49] Jetzt nach dem Aufstieg und der Initiatio geht es zurück in den Alltag (ordinatio). Das Geschaute soll uns helfen bei der Bewältigung der Aufgaben. [50]

 

 

Auf dem Weg im Alltag kann mir das helfen, was ich sinnlich bei der initiatio erfahren habe. Was immer diese Qualität einer Initiations-Erfahrung hatte in meinem Leben, auch wenn es nicht so hiess (es war vielleicht der erste Kuss oder der erste Lohn, das „Aha!“ beim Lernen, eine Melodie, die sich mir einprägte, als ich verliebt war…) – es hilft mir jetzt dank der sinnlichen Einkleidung. Denn diese ist es, die auch den Weg zurück zu den Sinnen weiss.

 

Was die Romantiker suchten, nach der Katastrophe der Revolution

(Das ist die „Vermittlung“, die die Romantiker suchten, der Weg zur „schönen Seele“ Schillers. Das ist die Versöhnung von „Pflicht und Neigung“ bei Kant. Das ist jene gesuchte „Gemütskraft der Seele“, die zwischen Geist und Körper steht. Sie löst die Blockierung, baut eine Brücke vom Denken zum Handeln und wird eine Hilfe zur Willensfreiheit. Und jetzt wird das Gesetz befolgt, als ob es „ins Herz geschrieben“ wäre und nicht nur auf die Stirn…

Es hat Teil am Sakrament, es wirkt, was die Feier versprochen hat, schon hier in diesem Leben. Es ist ein Stück imitatio Dei, ein Stück Versöhnung zwischen Gott-Natur und Mensch-Natur, wie es Jesus Christus verkörpert. Und die Initiation, wo immer sie geschah, ob im ersten Kuss oder im ersten „Aha!“ – es ist sein Geschenk. Denn initiatio geschieht in Begegnung. Es gehört zur Gnade, es kommt uns zu von jenem „andern“ und Umfassenden, das uns voraus liegt.

Es ist nicht nur so, dass ich „mich selber neu verstehen lerne aus diesem andern“, es ist nicht nur ein hermeneutisches Geschehen, ich trete vielmehr in eine Beziehung zu ihm. Jesus Christus zeigt sich in einem Beziehungsgeschehen, er zeigt sich auf dem Weg, wenn ich ihm nachfolge. Darum handelt Platon von der Liebe. Und er allegorisiert sie nicht völlig zu einer Idee, die der Vernunft einleuchtet. Es ist eine Leidenschaft, die die Seele bewegt. Die Liebe ist das bewegende Prinzip in all diesen kosmogonischen Spekulationen, die Liebesmystik ist ihr Erbe an das Christentum.)

 

 

Aus der Symbolhandlung wird ein Nachfolgehandeln im Alltag

So versteht es auch das Kultmysterium. Schon in der Feier wird der Adept berufen und in die Prozession der Nachfolgenden aufgenommen. Nach der Feier wird diese Symbolhandlung übersetzt in das Nachfolgehandeln im Alltag.

Das erfordert den Schwellenübergang vom Tempel in den Alltag, von der einen Sphäre in die andere. Das erfordert eine Metamorphose. Was vorher nur symbolisch geschaut wurde, muss jetzt sinnlich gelebt werden. Und der Erfahrungsschatz des Lebens, der in sinnlich-körperlichen Erfahrungen erinnert wird, hilft bei dieser Überführung. [51]

Der Köper mit seinen Erfahrungen ist eine Hilfe.[52] Das ist der Lernerfolg der Frömmigkeits-Geschichte der letzten 20 Jahre, die sich auf so vielfältige Weise mit Körperarbeit befasst hat. Alles Sinnliche, in welches initiatorische Erfahrungen eingekleidet waren, hat diese Kraft, dass es nicht nur die Erinnerung daran wiederbeleben kann, sondern auch die Gefühle, die dabei mitschwangen und sogar die Haltungen, die damit verbunden waren, damit wir auch können, was wir sollen.[53]

 

 

Drogen als Mittel zur Seelenreise?

Darum sprachen die antiken Kulte alle Sinne an. Es geht nicht um die Enträtselung jenes Krauts, das dem Becher beigemischt war, ob es jetzt Lorbeer vom „Schwellenbaum“ war oder Mutterkorn. Der Rausch bei seinem Genuss führt zwar zu aussergewöhnlichen Bewusstseins-Zuständen und eröffnet den Weg zu Erfahrungen, die nicht im Wachbewusstsein abgerufen werden können, er allein ist aber nicht die Kraft, die es fertigbringt, dass der Adept nachher ein anders Leben führten kann. Die Diskussion um das Mutterkorn kann zwar von modernen Erfahrungen her plausibel machen, wie man tiefe Seelenbereiche ansprechen kann.

 

Die interessantere Frage ist aber, wie dieses Erlebnis bei der initiatio nachher transformiert werden kann in Alltagshandeln. [54] Dabei helfen die unschuldigen Beimengungen des antiken Mythos vielleicht mehr als das Mutterkorn. Und die Frage, ob die äusseren Elemente der Sakramente, Brot und Wein, vielleicht wirkmächtige Substanzen enthielten, die wir heute vermissen und wieder finden sollten, führt am Ziel vorbei.

Das Lied, das damals erklang, hat auch geholfen. So geschieht es heute noch alten Ehepaaren, wenn sie ein Lied am Radio wieder hören: Es übt einen mächtigen Zauber auf sie aus, denn das war „ihr Lied“. Das haben sie damals immer gehört, als sie verliebt waren. Und mit dem Lied steigen alle Gefühle wieder auf. Das Licht war wichtig. Alles war wichtig, darum zogen die Kultmysterien alle Sinne bei im Sinn eines Gesamtkunstwerkes. [55]

 

 

Handeln wo man nichts machen kann

Stanislav Grof hat mit dem Mutterkorn-Extrakt LSD experimentiert. Er hat damit Zugang gefunden zu Erfahrungen, die bei der Geburt gemacht und tief in die körperliche Erinnerung eingeprägt werden (er nennt sie „perinatalen Erfahrungen“). Er hat sie beschrieben als ein Set von „Matrixen“, welche nicht nur die Erinnerungen büscheln, sondern ganze Verfahrensabläufe organisieren. Besonders wertvoll:

Es sind Erfahrungen, die nicht beim autonomen Handeln gewonnen werden, sondern in jenen Bereichen, die nicht unserer bewussten Verhaltenssteuerung unterstehen, die wir also nur geschehen lassen können, so wie eben die Geburt. [56]

 

Das sind Schwellenübergänge, wie in der Antike. Da geschieht eine Metamorphose, wie in den Kultmysterien der Antike. Da geht es um die Begegnung mit dem Andern, das sich erst zeigt, wenn wir die autonome Steuerung aufgeben. Und wir dürfen uns dem andern überlassen, es führt uns hinüber. Da sind die „Autopiloten“ jenes Weges, der zu Wachstum und Wandel führt. Das ist das, was wir suchen, wenn wir im Leben anstehen. Das ist der Schritt über eine Brücke, die wir mit aller Anstrengung nicht begehen können, weil wir uns selbst auf diesem Weg aufgeben müssen, weil uns die Flossen für den Wasserweg erst wachsen müssen…

 

Zusammenfassung

Ich halte das bisherige Ergebnis fest: Weil wir im Leben immer wieder eine Wandlung durchmachen, ist immer wieder gefordert, dass wir etwas zurücklassen (separatio), dass wir uns vergewissern in dem, was uns Bestand gibt (initiatio) und dass wir wieder neu in den Alltag zurückgehen, ausgerüstet jetzt mit dem, was uns helfen kann (ordinatio). So schreiten wir immer wieder den Weg der Taufe ab, brauchen immer wieder Essen und Trinken auf dem Weg (Eucharistie).

 

 

Wir müssen etwas davon mit uns führen, damit es jederzeit verfügbar ist, so wie der Wanderer das Picknick bei sich trägt.

Oder besser, wir dürfen vertrauen, dass es immer wieder geschieht: Wir finden, was wir brauchen. [57] Wir dürfen vertrauen, dass wir zu einem Brunnen kommen, an dem Rahel sitzt; dass dort, wo wir schlafen, das Tor des Himmels ist und Engel auf und ab steigen. Wir brauchen weniger ein „Tischlein deck dich!“ als diese bewusste innere Haltung: Ich finde, was ich brauche. Gott führt und behütet mich. Er lässt Manna vom Himmel regnen. Es reicht für einen Tag. Und wenn ich in der Wüste auf einen Stein stosse, muss ich so lange auf ihn schlagen, bis er die Quelle hergibt, die er verbirgt. „Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn!“

 

Platons Wagen

Soweit die Zitate. Sie zeigen das Körperliche als Hilfe auf dem Weg. Gegen eine lange Tradition, die es als Hindernis empfand (gnostisierende Unterströmungen im Christentum). In der antiken Seelenlehre ist das Körperliche zwei-wertig, vgl. das Wagen-Gleichnis bei Platon: der Mensch ist auf dem Nachfolgeweg, den Gott gebahnt hat. Die Vernunft mit ihrem Planen und ihrer Fähigkeit, die willkürlichen Muskeln zu betätigen, will den Wagen lenken.

 

Was ich in der Hand habe und was widerstrebt

Es hat zwei Pferde, die den Wagen ziehen: eines, das der Lenkung folgt und bewusste Entscheidungen in Handlungen umsetzt, und eines, das manchmal der Lenkung folgt, das aber auch eigene Impulse hat. Wenn der Lenker nicht „gerecht“ ist und nicht jedem das Seine gibt, dann bricht dieses Pferd aus und holt sich, was ihm verweigert wird. Es folgt dem Bedürfnis nach Essen, Trinken, Fortpflanzung. Diese Bestrebungen sind dann im Widerspruch zu den Zielen des Vernunft-Lenkers, beide Pferde ziehen in verschiedene Richtungen. Der Wagen ist dann blockiert und man kann noch so viel Kraft aufwenden, der Wagen kommt nicht vom Fleck.

 

 

Wenn es da gelänge, beide Pferde in die selber Richtung zu lenken, dann ginge der Wagen ab wie die Post. Dazu muss der Lenker aber auch in die Tiefe lenken, damit auch das andere Pferd gemäss der Tugend der Gerechtigkeit zu dem Seinen kommt, der Körper und seine Bedürfnisse müssen geachtet und beachtet werden.

 

Die Institutionen des Aristoteles

Die Kräfte, die in dem dunklen Pferd wirken, sind aber nicht nur die „natürlichen Bedürfnisse“. Es gibt auch biographisch erworbene Neigungen, die den Wagen in Richtung auf das Gefälle ziehen. Das sind Gewohnheiten, daher nimmt Aristoteles auch das in sein Nachdenken auf. (…)

Der Mensch erhält im Lauf der Kindheit nicht nur Normen vorgesetzt, sondern eine ganze Lebensweise. Die ist verankert in seinem Gewissen, aber auch in seinen Gewohnheiten. Und wer sich als Kind nicht daran gewöhnt, nach jedem Essen die Zähne zu putzen, der wird es wohl auch als Erwachsener nicht tun. So bildet sich ein individuelles Gewohnheits-Kleid in Form eines „Charakters“. Dazu gehören auch die äusseren Institutionen der Kultur in Staat und Gesellschaft. Diese binden die Bestrebungen der Individuen zusammen, vereinigen die Kräfte und bauen so Werke, die die Kraft des einzelnen übersteigen.

 

Trauma als Blockierung

Noch etwas, und auf das will ich jetzt hinaus: In dem „Charakter“ stecken nicht nur die Gewohnheiten aus der Kindheit. Er ist nicht nur das verkrustete Verhalten, nicht nur das Bachbett, welches der Fluss des Handelns sich durch wiederholtes Fliessen in dieselbe Richtung gegraben hat, sodass er jetzt seinerseits das Handeln anleitet und den Weg erleichtert. Darin stecken auch die Körper-Erfahrungen aus der Kindheit. Das ist der Punkt meiner Überlegungen: wie der Körper wieder ins Spiel gebracht werden kann. Wie man ihm Ehre antut, wie man ihn versöhnt, dass er zu seinem Recht kommt, wie man Blockaden überwindet, wie man das Gefährt tüchtig macht für den Weg.

 

 

Grofs Matrizen und Lowens Körper-Therapie

Stanislav Grof hat gezeigt, dass der „Körper“ über Verhaltens-Matrizen verfügt, durch die er auch komplexe Geschehnisse organisiert: nicht nur Blutdruck und Atmung, nicht nur Verdauung und Fortpflanzung, nicht nur Reifungsvorgänge wie Zahnen, Sprechen etc., sondern auch Vorgänge der Wandlung und Anpassung an neue Lebensphasen, von der Geburt bis zum Tod, die man traditionell eher der bewussten Lebensführung zuordnet und der Weisheit.

Hier ist der Weg nicht so fest gesteuert wie beim Zahnen. Er läuft nicht einfach vor-bewusst ab. Das bewusste Verhalten wird in Dienst genommen. Atem und Muskulatur sind beteiligt, viele körperliche Funktionen. Aber es kommt auch zu starken Gefühlen. Nachts steigen Träume auf, sie erinnern an die Symbole, die auch in der Kultur erinnert werden, in religiösen Mythen und Erzählungen. Das Verhalten des Menschen, sofern er diesen Symbolen folgt, geht in dieselbe Richtung, die der Körper schon weist. Der religiöse Weg und der in den Körper eingeprägte Weg sind sich nicht einfach feind, sie sind befreundet, sie weisen einen Pilgerweg zum selben Ziel.

 

Das meint auch Alexander Lowen mit seinem Titel „Der Verrat am Körper“. [58] „Körper“ und „Geist“ sind nicht von Natur aus getrennt oder in Gegensatz, wie gnostisierende Tendenzen in der Kulturgeschichte meinen, sie sind grundsätzlich befreundet. Und erworbene Feindschaft kann behoben werden, die Kraft des Körpers kann für den „Weg“ in Dienst genommen werden.

 

Rhetorik als Seelenführung

Damit bin ich wieder bei den alten Kult-Mysterien angelangt, die das antike Wissen bezüglich der „Seelenführung“ zusammenfassen.

Dieses Wissen ist von Platon später in seiner Rhetorik zu einer lernbaren Methode an seiner Akademie gemacht worden. Er hat dieses Priesterwissen säkularisiert.

 

 

Er hat das Arbeiten am Weg der Seele, das damals ein Einbruch war in die geordnete Welt des Alltags, zu einem kontinuierlichen zivilisierenden Prozess im Rahmen der Bildung der nächsten Generation gemacht. (Wobei dieser Einbruch einer anderen Dimension bereits mit den jährlichen Kult-Mysterien eine erste Zähmung erfahren hatte. Die Bürger Athens liessen jedes Jahr zweimal die Arbeit ruhen und pilgerten nach Eleusis.) Die Überführung des religiösen Festes in einen akademischen Bildungsweg ist ein weiterer Schritt.

 

Was bei der Verschulung auf der Strecke bleibt

Wie bei jeder Transformation bleibt aber auch hier etwas auf der Strecke. Kinder stehen an einem anderen Ort als Erwachsene. Wer von gewissen „Fragen der Seele“ nie etwas gehört hat, der kann auch mit den Antworten nichts anfangen. Durch die Verschulung wird der Weg der religiösen Einführung auf den Kopf gestellt: Die Antworten sind vor den Fragen da. Das führt zu Langeweile, zu Verkennung des Werts der religiösen Tradition, zu Abwehr – oft für lange Zeit. [59]

 

(Die Tradition – begierig, sich an die nächste Generation weiterzugeben – bricht ab, gerade weil sie keine Geduld hatte, zu warten, bis die Fragen bei den Kindern da sind. Und weil die Kirche so mit Unterricht beschäftigt ist, hat sie keine Zeit mehr für die Erwachsenen, die mit ihren Fragen herumgehen, so dass sie dann ihre Zuflucht zur Esoterik auf dem Buchmarkt nehmen.)

 

 

Die Rhetorik allein ist zu schwach, um Seelenführung zu leisten. Die Erneuerung einer kultischen Mystagogie mit Feiern, Musik und Gebeten allein ist zu schwach, um das von den Alten Gewusste wieder zu beleben. [60]

 

Das Ursakrament

Die Erfahrung der Körperarbeit der letzten 50 Jahre muss einbezogen werden. Im Sinn des obigen Mottos: Der Körper gehört dazu, der Körper ist das andere Element im Sakrament. Jesus Christus als das Ursakrament ist wahrer Mensch und wahrer Gott.

Seine Herabkunft ist nicht nur theologisch, sondern auch praktisch wahrzunehmen. Und zwar die Herabkunft bis ans Kreuz, bis zu dem Ort der Scham und Schande draussen vor Jerusalem, dem unreinen Ort, wo er hingerichtet wurde, denn er wurde zu den Verbrechern gezählt. [61] Ohne Kreuz kein Heil, ohne Herabkunft keine Auffahrt. Ohne Körper und Welt kein Himmel.

Scham und Schande sind geheiligt, es ist der Ort, wo Christus bei den verletzten Menschen ankommt und sie heilt. Es ist der Ort der Ankunft, wo das Heil geschieht.

 

Verkrümmt

Der Körper bewahrt in sich die Erinnerung an Verletzungen und er verkrümmt sich so, dass diese nicht mehr ins Bewusstsein aufsteigen. Damit verewigt er sie aber im Gegenteil.

 

 

Das Kind hat sich totgestellt, es hat den Atem angehalten, die Glieder eingezogen. So spürt es nichts. Wenn immer etwas an seine schmerzhafte Erinnerung rührt, nimmt dieser Mensch unwillkürlich diese Haltung wieder ein, der Atem stockt, der Körper erstarrt, die Empfindungen werden nicht mehr verspürt. – Das Kind fühlt sich wie tot.

Es hat für das Überleben die Lebendigkeit geopfert, sagt Lowen, damit aber auch die Spontaneität, das Verfügen-Können über jene selbstverständlichen Verhaltens-Matrizen, die es uns erlauben, uns zu bewegen, uns in ein Verhältnis mit uns selbst zu setzen und mit den Menschen rund herum.

 

Sexualität

Das Kind verkrümmt sich, habe ich oben gesagt. Das Wort bezeichnet in der theologischen Tradition die Erbsünde („incurbatum in se ipsum“). Das hat hier aber nichts mit Sexualität zu tun, aus der oben geschilderten Erfahrung ist es eher eine in der Kindheit eingeübte Haltung, die für das Überleben alles andere opfert. Das ist eine Art Kinderfresser-Religion, die dringend zu christianisieren ist. [62]

In dieser Verkrampfung, in der das Kind sich wie tot stellt, gerät die Sexualität in Feindschaft zum denkenden ängstlichen Ich. Es gehört zu den Empfindungen, die geopfert werden, die, wenn sie durchbrechen Angst und Scham auslösen, weil die Deckung verlassen ist.

 

 

Ein Bericht

[63]

 

Ambach, 19. September 2007

Sakramente sind Hilfen auf dem Weg. Sie haben ursprünglich eine grosse praktische Bedeutung für den Alltag und das Leben, auch wenn man das heute vielleicht nicht mehr glauben kann und das Gefühl hat, das seien altertümliche Relikte in Sonder-Gottesdiensten.

 

Sakramente – richtig feiern

Wie können wir sie feiern, dass sie wieder helfen auf dem Weg? Wie können Sakramente schon jetzt Anteil geben an dem, was sie dem Feiernden zusagen: die Gemeinschaft mit Gott?

Die archaische Zeit kannte Riten, wo ein Mensch durch Trinken und Essen eine „Seelenreise“ antrat zum Ursprung der Welt und zum Ziel des Lebens. Von dort kam das „Wasser des Lebens“, dort war der Zugang zur „Quelle“, aus der das Leben stammt, wo es unverlierbar gehalten ist. Dort fand er Unterstützung auf dem Weg. Die Antike kannte einen „Göttertrank“, der Unsterblichkeit verleiht und einen Ritus, der den Feiernden aufnimmt in eine Gemeinschaft, wo er nicht mehr verloren geht, wo er neue Identität gewinnt.

Die Mysterienkulte der Antike zeigen, wie Adepten in eine religiöse Gemeinschaft eingeführt werden. Dabei wird das Fühlen betont, nicht das Lernen. Dadurch soll sich das Neue, was der Glaube vermittelt, ins Körpergedächtnis einprägen, damit es hilft auf dem Weg. Das wirft ein Licht auf das Verhältnis von Körper und Spiritualität und zeigt einen Weg für die Feier von Sakramenten.

 

Körper und Spiritualität

Die christliche Spiritualität hat in den letzten 20 Jahren die Diskussion innerhalb der Therapie-Bewegung aufgenommen. Dort wollte man weg von einer blossen „Rede-Kur“.

 

 

Diese wird als ohnmächtig erlebt, sie bleibt nur im „Kopf“, während das Fühlen und Verhalten den alten Erfahrungen folgen, die im Körpergedächtnis abgespeichert sind. (Der Schreck sitzt einem noch „in den Knochen“. Man unterdrückt das Atmen, stellt sich tot – eine Haltung, aus der sich eine Depression entwickeln kann.)

Die im Körper gespeicherten Erfahrungen bestimmen die Haltung schon beim Aufstehen und sie haben Folgen für den ganzen Tag. Und man realisiert, „Christ“ ist man erst im Kopf, während der Unglaube noch in den Knien hockt. Vertrauen zu lernen, das muss durch den ganzen Körper gehen! Die Kontinente, die von der Mission noch nicht erreicht sind, liegen im eigenen Körper. Dabei helfen die Sakramente als Bindeglieder zwischen Fühlen und Denken, Kopf und Körper.

Hier ist das Vorgehen der Mysterienkulte interessant. Und das Christentum hat sich in der Antike in Formen aus den Mysterienkulten gekleidet. So wurde eine Taufe gefeiert als Ritual für die Aufnahme und ein Abendmahl für die Feier der Gemeinschaft. Die Gegenwart Gottes erlebte man im Gottesdienst.

Hier ist vieles zu lernen.

 

 

 

Aus „36 Ansichten des Berges Fuji“ von Ando Hiroshige

 

Mitte des Sabbaticals

 

Ich kann gegen aussen nicht auftreten, weil ich mich irgendwo tief in mir für unwert halte. So mag ich mich nicht zeigen, es erfüllt mich mit Scham, mit einer tiefen, existentiellen Scham, die nicht nur an einem Tun hängt, sondern an meinem ganzen So-Sein. Dieser Scham kann ich nur entgehen, wenn ich „anders“ werde.

 

Vieles in der Arbeit kann ich „machen“, in immer neuen Versuchen und Anläufen. Aber die Befreiung von der Scham – das ist ein Stück „Seelenweg“. Ich gehe ihn unbewusst. Im Traum kann ich einen Zipfel davon erhaschen. Dieser „Seelenweg“ ist keine Karte, die ich bewusst abschreiten könnte. Aber es gibt mir doch Vertrauen, es stillt meine Verzweiflung, indem es mir sagt: Das Schiff ist unterwegs, und es ist auf gutem Kurs.

 

 

Ambach, 10. Juni 2007

Ich will einen Halt einlegen, am Freitag ist Halbzeit im Sabbatical.

Ich will diese Zeit nutzen! Sei es bewusst, indem ich mir Ziele setze, sei es indem ich Räume freihalte, wo etwas geschehen kann. Ich will Freude haben am Sabbatical, nicht irgendwas abspulen und mich hinterher betrogen vorkommen.

Was ich nicht will: „ein Buch schreiben“ in dem Sinn, wie das früher in den Hinterzimmern meiner Psyche herumgeisterte. Vielleicht entsteht etwas, wenn ich mich jenem anderen Bild überlasse, das ich im Sabbatical gefunden habe. Ich habe das Bild eines Berges an die Wand gehängt, und ich kann es immer beim Aufstehen ansehen.

 

Der Berg

Es ist „das Grosse“ vor mir. Es ist nicht eine grosse Anstrengung, die aus mir kommt, sondern wie ein grosser, schöner Berg, auf den ich zugehe. Schon der Weg macht Freude. Es ist ein Weg, der ans Ziel führt, er stammt nicht von mir, er ist vorgeprägt.  [64]

„Nachfolgen ist eine besondere Art des Gehens. Wer Christus nachfolgt, der macht eigene Schritte, er geht seinen Lebensweg und kommt dabei doch zu einem Ziel, das er aus eigener Kraft nie erreichen könnte. Denn Einer ist vorausgegangen, er hat den Weg gebahnt, er hat einen Weg aufgemacht, wo vorher keiner war.

 

Das Ziel unseres Lebens, das steht vor uns, wie der Berg am Horizont. Mächtig steht er da, er verbindet Himmel und Erde.

Wir sind auf dem Weg dazu. Und der Weg gelingt uns nur, wenn wir jetzt schon von dem leben, was wir anstreben.

Das ist der Glaube. Er ist ein Stück vom Ziel, während wir noch auf dem Weg sind.

 

 

Wer glaubt ist wie ein Wanderer in der Natur.

Vor sich sieht er den Berg, er macht ihn nicht, er steht da, mächtig und wunderbar, wie eine Achse im Kosmos.

Wenn der Wanderer sich auf den Weg macht, tritt er in diese Landschaft ein. Wer sich den Berg zum Ziel nimmt, der ist schon mit dem ersten Schritt in der Landschaft, die zu diesem Berg gehört:

Er lässt die Häuser und Strassen hinter sich, den Lärm. Er tritt in die Stille ein, Vögel singen, Blumen blühen am Weg.

 

Wer Augen hat dafür, der sieht das Grosse auch im Kleinen. Es ist ja nicht klein, es ist von derselben Art wie der Berg, der da vorne in den Himmel ragt.

Und vom Berg her kommt uns der Fluss entgegen. Erst ist es nur eine Quelle, dann wird sie grösser. Sie bringt das Wasser bis zu uns, die wir noch auf dem Weg sind.

So können wir jetzt schon unseren Durst stillen, an dieser Quelle, auch wenn wir noch unterwegs sind. Im Gebet, im Glauben, erfahren wir immer neue Kraft. Wir können uns anschliessen an der Quelle.

So gehen wir unsern Weg.

 

Ein Vor-Bild

Das Bild vom Berg ist eine andere und neue Form, mir etwas vorzunehmen. Nicht als „die grosse Leistung“, die aus mir kommt und die sogleich zwischen die Mühlsteine von Motivation und Selbstachtung gerät: mal ist das Selbstbild zerknirscht, weil man das Ziel nicht zu erreichen meint, mal fühlt man sich grandios, weil etwas gelungen ist.

 

 

Der „Weg der Seele“ in einer bürgerlichen Biographie

 

Ambach, 14. Juni 2007

Morgen ist Mitte des Sabbaticals. Gestern Abend habe ich die Unterlagen für mein Ehrenamt übergeben, das Kapitel ist abgeschlossen. Ich möchte Bilanz ziehen, wo ich stehe.

 

Ich träume zweimal in dieser Nacht:

Ich spiele. Vor einem Laden male ich mit Wasser Buchstaben auf den Boden. Es geht, aber bald sind sie verlaufen. Ich soll hier nicht mehr spielen. Ich soll hinaus auf die Strassen, aber diese sind voller Leute. Da geniere ich mich. Ich realisiere, dass ich schon gross bin; wie kann ich da spielen?! Zweiter Traum: Ich bin in der Konditorei meiner Lehrzeit. Aber die Lehre ist vorbei.

Wenn ich die Träume in ein paar Sätze zusammenfasse: Ich gehe nicht hinaus auf die Strasse zu den Leuten. Ich spiele nur. Ich getraue mich nicht, mich mit jener Arbeit einzubringen, die ich ernst meine. Ich geniere mich, weil ich mich unwert fühle. So fühle ich mich unfrei, abhängig von den Leuten, die mir Wert zusprechen sollen. Aber ich bin frei. Ich habe es nur noch nicht bemerkt. Ich darf es jetzt realisieren. Und es ist wie ein grosses „Aha“, das wie ein Ruck durch meinen Körper geht. Und ich verlasse den Ort meiner Lehrzeit.

 

Wie ich Träume umsetzen kann

Wenn ich das als Hinweis nehme, was ich tun soll, dann wäre das:

Nicht mehr nur spielen. Meine Freiheit in Anspruch nehmen. Nicht auf Beachtung, Wertschätzung oder Abwertung von aussen schielen. Mich einbringen, eine ernst gemeinte Arbeit unternehmen, zu meiner Arbeit stehen.

Das Umsetzen von Träumen geschieht nie durch bewusstes Verhalten. Ich kann das nicht in die „Agenda“ schreiben. Aber das „agere“ gehört dazu. Das „Handeln“ in meinem Leben ist blockiert, weil ich mich irgendwo tief in mir für unwert halte.

 

 

So mag ich mich nicht zeigen, es erfüllt mich mit Scham, mit einer tiefen, existentiellen Scham, die nicht nur an einem Tun hängt, sondern an meinem ganzen So-Sein. Dieser Scham kann ich nur entgehen, wenn ich anders werde. Das aber kann ich nicht „machen“ (agere). Aber es verändert sich etwas in den Grundlagen. Der Traum erzählt von einer Wandlung, die in Gange ist.

Vieles in der Arbeit kann ich „machen“, in immer neuen Versuchen und Anläufen. Aber die Befreiung von der Scham – das ist ein Stück „Seelenweg“. Ich gehe ihn unbewusst. Im Traum kann ich einen Zipfel davon erhaschen. Dieser „Seelenweg“ ist keine Landkarte, die ich bewusst abschreiten könnte. Aber es gibt mir doch Vertrauen, es stillt meine Verzweiflung, indem es mir sagt: Das Schiff ist unterwegs, und es ist auf gutem Kurs.

 

Wer die Bahn nicht verlässt

Der Psalm 23 ist wie ein Pilgerführer auf der Seelenreise, auf der Bahn, die Gott gebahnt hat. Darum kommt ans Ziel, wer die Bahn nicht verlässt. Er macht eigene Schritte aber kommt doch an ein Ziel, das er aus eigener Kraft nie erreichen könnte.

So ist die Nachfolge jene gesuchte Art des Handelns, das weder ein blosses Machen ist noch ein untätiges Warten, bis das Neue, sich von selbst einstellt.

Nachfolge ist ein Tun, das nicht auf die eigene Kraft vertraut. Es ist kein blosses Geschehenlassen, weil hier nur Gott helfen kann. Es ist Nachfolge auf dem Weg Gottes, den er gebahnt hat und auf dem er gegenwärtig ist.

Es ist der Weg, der auch durch solche Wandlungen führt, die wir nicht selber verantworten können, so wie Geburt und Tod, weil hier die Grundlagen unseres Seins selbst verändert werden.

 

 

Noch einmal die Träume

Nach all diesen Erinnerungen lese ich aus den Träumen:

Ich freue mich über den Wandel, der im Gange ist. Ich danke dafür.  Ich bin wach für alles, was sich konstelliert. Vielleicht bricht der Damm der Blockierung und ich kann aus dem Spiel ausbrechen und das tun, was mit meinem Leben gemeint ist.

 

 

Herabfallen vom Weg

Das Sakrament als Rückkehr-Hilfe

 

Darüber darf man nicht zu harmlos nachdenken. Was „Busse“ meint, kann man nicht verstehen ohne die Erfahrung einer zu Tode erschrocken Seele.

 

Das meint „Reinigung“: sich wieder unschuldig fühlen dürfen, einen neuen Anfang machen dürfen, ohne die Zentnerlast der Vorwürfe an sich selbst, ohne das bittere Gefühl, aus eigener Schuld alles verdorben zu haben, ohne diese Bitterkeit im Leben, die nicht mehr mit etwas Gutem rechnet, die nicht mehr hoffen kann, dass es noch gut wird mit dem eigenen Leben!

 

Ambach, 21. Juni 2007

Sommer-Sonnenwende, bald ist Johannistag, Halbzeit auf dem Weg zur Winter-Sonnenwende und zu Weihnachten. „Ich muss abnehmen, er muss zunehmen.“ [65]

Die Mitte-Daten häufen sich: Es ist Mitte des Sabbaticals. Ich will Bilanz ziehen über meinen Weg. Das Ehrenamt habe ich abgegeben, auch das ist eine Art Mitte in meinem Weg. Von hier aus laufen die Wege anders weiter. Die Unterlagen habe ich alle übergeben. Dadurch ist in meinem Büro-Schrank ein ganzes Fach frei geworden.

 

 

Dort kann ich jetzt die Ordner für meine Schreiberei hinstellen. Bisher standen sie unten, bei den Zeitschriften für den Unterricht, eingeklemmt im Krimskram, ohne rechten Platz in meinem Schrank, in meiner Zeit und in meinem Leben. Ich nehme es als Sinnbild für das Neue, das kommt (auch wenn es nur darin besteht, dass etwas Neues Platz bekommt. Der Platz wird neu verteilt. Etwas anderes darf sich jetzt entfalten, das alte hat seine Zeit gehabt.).

 

Abgestürzt

Am Montag wieder „Absturz“. Ich bin aus meiner Bahn gekippt. Eine wochenlange Phase des Lesens und Schreibens, in der mir die Dinge nur so zufielen, ist damit zu Ende gegangen. (Ich bin immer noch blockiert, kann kaum schreiben. Der Gedankenfluss stockt. Der Zugang ist verschüttet. Die Motivation ist nahe am Kippen, es braucht nur wenig, so bricht sie ein.)

Klar, ursprünglich war geplant, dass ich um diese Zeit wegfahre (mit dem Fahrrad der Donau entlang). Ich hätte in der Zeit also ohnehin nicht geschrieben. Aber dann lief es so gut, die Zeit reute mich. Nun ist die Fahrrad-Tour ins Wasser gefallen: Es regnet und stürmt. Es kommt zu Überschwemmungen, es ist kein Wetter für eine wochenlange Tour. So ist es typisch für Blockierungen – ich habe keines von beidem: weder bin ich unterwegs, noch kann ich schreiben.

 

Der Weg zurück

In der Scham nach dem Absturz denke ich, ich hätte mich aus eigener Schuld herausgekippt, ich hätte mich und seine Gnade verachtet, ich würde jetzt nie mehr auf den Weg zurück finden… Die Erfahrung sagt aber, dass es immer so ist in dieser Phase. So hat es fast sein Gutes, dass ich das nicht zum ersten Mal erlebe. Es gibt einen Weg zurück (ohne das wäre Seelsorge ein höllisches Geschäft). Dank der Erfahrung denke ich: Ich darf wieder zurück, ich werde wieder angenommen.

 

 

Zu Tode erschrocken

Aber ich denke zu harmlos über das nach, was ich erfahren habe. Die Erfahrung, dass es immer wieder in Ordnung kommt, relativiert es und macht es zu etwas Belanglosem.

Gerade jetzt jagt ein Gewittersturm über das Haus und lässt Fenster und Türen knallen. Was «Busse» meint, kann man nicht verstehen ohne die Erfahrung und die Erinnerung daran, wie es ist, wenn die Seele zu Tode erschrocken ist. Und wenn sie die Schuld bei sich sucht (und findet, schuldlos ist kein Leben).

 

Das meint Reinigung: sich wieder unschuldig fühlen dürfen, einen neuen Anfang machen dürfen, ohne die Zentnerlast der Vorwürfe an sich selbst, ohne das bittere Gefühl, aus eigener Schuld alles verdorben zu haben, ohne diese Bitterkeit im Leben, die nicht mehr mit etwas Gutem rechnet, die nicht mehr hoffen kann, dass es noch gut wird mit dem eigenen Leben! Denn es ist selbst verspielt, die Chance war da, das Geschenk war da. Aber ich habe es nicht respektiert und für wert geachtet. Ich kann niemandem einen Vorwurf machen als mir selber Und jetzt ist es zu spät.

Über «Busse» [66] kann nicht leichtfertig geschrieben werden. Nicht ohne diesen Schrecken in der Seele und ohne diesen Jubel über das Evangelium.

 

 

Zorn und Selbstverlust

Das Gewitter verbindet die innere mit der äusseren Welt. Die Furcht vor dem, was sich drohend über dem Kopf zusammenbraut, erinnert an den Vater und seinen Zorn. (Dieser Zorn mag „jähzornig“ hervorgebrochen sein, durch langes Anstauen besonders heftig und überraschend, aber er hatte doch auch zu tun mit dem Gewissen, mit der inneren Stimme, die einen mit sich selbst entzweit, weil man sich im Widerspruch weiss).

Der Vater und das Gewissen – das muss man nicht entmythologisieren, so als ob jetzt alles aufgeklärt und erledigt wäre. Es macht aufmerksam auf etwas, was da ist, mit und ohne Gewitter. Es geht um das Gewissen bzw. um die Selbst-Integration mit den Normen des Richtigen – die Auseinandersetzung mit Stimmen, die beanspruchen, das Richtige zu vertreten, die Stimme des Vaters, die Codes der Familie und der „peer group“, das Über-Ich, die Normen und Werte der verschiedenen Subkulturen, in denen man lebte…

 

Die Freude am Gesetz

Während des Gewitters musste ich den PC abstellen. Ich konnte nicht schreiben, ich benutzte die Zeit, um die Bibel aufzuschlagen. Und ich schlug sie zufällig auf beim Psalm 119: „Die Freude am Gesetz.“

Das ist der Weg: nicht die Furcht, nicht das Ducken unter einen Moloch, der Kinderopfer verlangt, nicht das Ducken unter einen Dämon, der das Leben verneint und Lebensopfer fordert, keine Selbstbeschneidung, kein Kriechen auf dem Boden und sich mit Staub zudecken, weil die Scham am liebsten in den Boden kriechen würde, kein Fallen ins Bodenlose wie die „Rotte Korach“. Keine von all diesen Riten der Busse, die die Religionsgeschichte hervorgebracht hat. [67]

Sondern Freude ist der Weg, Freude am Gebot, das nicht lebensfeindlich ist, Freude am Weg, auf dem er uns entgegen kommt. Und er reicht uns die Hand, er hilft uns, er gibt uns das Gleichgewicht, so dass wir gehen können.

 

 

Jetzt ist das Gewitter verzogen, ich kann wieder schreiben. Ich öffne die Fenster, die ich gegen den Platzregen geschlossen hatte. Die Wolken, die den Himmel verdunkelten und es im Haus fast Nacht werden liessen, haben sich verzogen. Der Garten ist nass, die drückende Schwüle, die sich über Wochen aufgebaut hatte, hat einer herrlichen Frische Platz gemacht. Die Atmosphäre ist gereinigt.

 

Ich lese den Psalm, wo ich ihn aufgeschlagen hatte:

«Ich habe Freude an deinen Geboten, sie sind mir sehr lieb,

und hebe meine Hände auf zu deinen Geboten, die mir lieb sind, und rede von deinen Weisungen.

 

Die Stolzen treiben ihren Spott mit mir; dennoch weiche ich nicht von deinem Gesetz.

 

Herr, wenn ich an deine ewigen Ordnungen denke, so werde ich getröstet. Herr, ich denke des Nachts an deinen Namen und halte dein Gesetz. Das ist mein Schatz, dass ich mich an deine Befehle halte.» (Ps 119,47ff)

 

 

Katastrophen-Angst

 

Unsere Kinder werden die Welt nicht mehr so erleben, wie wir das noch durften. Das hat mir lange am meisten zu schaffen gemacht. Es macht mir Angst, in die Zukunft zu gehen und die Kinder auf diesem Weg allein lassen zu müssen. Wer behütet sie?

 

Auch der Tod hat sein Gesicht verändert. Alles ist unbekannt und unerprobt. Wer könnte hier Führer sein, wer hat das schon erlebt? Wer könnte die Worte sprechen, die Trost und Vertrauen geben, weil er weiss, dass es einen Weg hindurch gibt?

 

Ambach, 4. Juli 2007

Mein „neues Leben“, in der zweiten Hälfte des Sabbaticals. Ich habe gestern angefangen, das Büchergestell aufzuräumen. Vieles wandert in den Abfall. Ich schnüre dicke Bündel Altpapier. Beim Abendessen Hochstimmung, als ob ein neues Kapitel angefangen und ich eine neue Stelle angetreten hätte und darum das Alte „verlese“. Aber das ist nicht der Fall, darum wundert es mich, dass dieses simple Aufräumen so viel Hochstimmung erzeugen kann. Gibt es den Neuanfang mitten im Alten?

Beim Frühstück ist es finster im Esszimmer, wir müssen das Licht anzünden, obwohl es Juli ist, mitten im Sommer. Es ist oft so dunkel jetzt. Die neue Wetterlage, an die wir uns mittlerweile schon fast gewöhnt haben, bringt oft Regen, Gewitter, verbunden mit dunkeln Wolken. Einmal, vor einigen Wochen, war es am Tag so finster, als ob die Sonne untergegangen wäre. Es war aussergewöhnlich, niemand konnte sich an ein ähnliches Erlebnis erinnern. Anderntags stand es in allen Zeitungen.

 

Zeichen am Himmel

Aufbruch nach dem Frühstück. Sandra geht zur Schule. Deborah ist schon weg. Antonia macht ihre Übungen. Ich gönne mir noch ein paar Minuten. Ich setze mich auf das Sofa und blättere die Zeitung durch, während ich den Rest Kaffee trinke. Da ruft mich Antonia: „Schau mal aus dem Fenster!“ Es ist hell geworden und ein wunderbarer Regenbogen steht am Himmel.

 

 

Es berührt mich. Es ist – es klingt kitschig – als ob Gott zu mir spräche. Ich fühle mich im Innersten erkannt, in dem, was mich beschäftigt. Ich wusste es selbst nicht, bis ich es sah. Wie finster meine Gedanken waren, sehe ich erst in der Antwort, die Gott mir gibt. Und diese ist überraschend, völlig anders, überwältigend:

Dass es gut kommt, dass der Fluss der Ereignisse nicht einfach in seinem Bette läuft. Dass es etwas ganz anderes gibt, eine Kraft, mit der ich nicht gerechnet habe und niemand von uns. Er vertreibt die Wolken, hebt die Finsternis auf und setzt ein Zeichen in den Himmel …

Ich kann es nicht richtig wiedergeben. Es erinnert mich, wie ich als Kind einmal einen Regenbogen sah. Ich will darüber nichts sagen, weil Worte alles klein machen. Als ich damals nach Hause zurückkam, war ich so glücklich, dass ich mich nach bald 50 Jahren noch daran erinnere.

 

Hinausgehen

Ich gehe hinaus. Ich kann wieder gehen. Ich danke Gott dafür. Vielleicht bin ich wirklich auf einem neuen Weg. Hat sich nicht vieles verändert? Hatte ich mich nicht schon eingerichtet in dem Gedanken, ich würde nie wieder richtig gehen können, nachdem ich mir beim „Pilgern“ mit den Konfirmanden eine Gelenkentzündung geholt hatte und seit etwa drei Jahren nur mit Schmerzen gehen konnte? Ich kann wieder gehen! Ist das nichts? Es ist mehr als ich gedacht hätte! Es ist eine Absage an die Resignation, mit der ich den Verlust schon akzeptiert hatte. Es ist eine Absage an die Resignation, mit der ich mein Leben schon abgeschrieben hatte.

Auf dem Weg begegnen mir Menschen, Jugendliche, die zur Schule gehen. Sie erinnern mich an Erlebnisse, die mit Misserfolg und Scham behaftet sind. Wegen solcher Begegnungen, gehe ich wenig hinaus. Darum isoliere ich mich, habe wenige Kontakte. Darum gehe ich im Sabbatical kaum hinaus. Darum laufe ich Gefahr, mich zu einem Eintopf einzukochen. Darum versinke ich in vorzeitiger Resignation.

 

 

Nach den häufigen Regenfällen der vergangenen Tage sieht der Bach verwüstet aus. Und die Mauer beim Schwimmbad, mit der das Bachbett gesichert werden sollte, hat sich etwa einen Meter abgesenkt. Es zeigt, wie schnell Berechnungen ungültig werden, wie das Wetter uns alle überrascht, obwohl wir schon lange darauf vorbereitet sein sollten. Ich mache einen Bogen, um wieder nach Hause zu kommen, und gehe über das grosse Kies-Feld bei der Stadthalle. Grosse Pfützen stehen darauf. Aus meinen Gedanken steigt der Satz auf: Es ist kein Untergang, es ist eine neue Ära. Das klingt ärgerlich banal, wenn es so dasteht, für mich in meinem Brüten war es etwas Neues. Es ist ein Stück Abfinden darin, ein Akzeptieren, dass sich vieles verändert hat:

 

Unsere Kinder werden die Welt nicht mehr so erleben, wie wir das noch durften. Das hat mir lange am meisten zu schaffen gemacht. Ich hätte ihnen gern die Welt meiner Kindheit gezeigt. Aber sie hatten auch ihre Kindheit, und der Zauber gehört dazu, sie haben ihn wohl an einem anderen Ort erfahren, als ich damals.

Ja, das Klima hat sich verändert. Die Wetterlagen sind anders, die Windsysteme haben sich teils verlagert. Immer mal wieder berichten die Zeitungen, dass sich die Meeresströmungen verändern könnten. Vor wenigen Jahren, als noch kaum jemand davon sprach, war das eine Schreck-Vorstellung für mich, als ich mit Karl darüber sprach, dass der Golfstrom kippen könnte. Das würde das Klima in ganz Europa verändern.

Wie auch immer, ob mit oder ohne Mitwirkung des Menschen, die ökologischen Räume verändern sich. Und mit ihnen ihre Besiedlung, die Tier- und Pflanzenarten, die Mikroben, die Krankheitserreger, die Insekten, die Überträger von Krankheiten. Der Mix der Arten wird sich verändern und bei einem neuen Gleichgewicht einpendeln.

 

Wir Menschen haben Angst. Es macht mir Angst, in die Zukunft zu gehen und die Kinder auf diesem Weg zunehmend allein lassen zu müssen. Wer behütet sie? Auch der Tod hat sein Gesicht verändert. Alles ist unbekannt und unerprobt. Wer könnte hier Führer sein, wer hat das schon mal erlebt? Wer könnte die Worte sprechen, die Trost und Vertrauen geben, weil er weiss, dass es einen Weg hindurch gibt?

 

 

Auch wir hatten früher Angst, als wir Kinder waren. Wir hatten Angst vor der Atombombe, dass die Mächte im kalten Krieg die Welt auslöschen könnten. Jetzt ist eine andere Epoche. Nicht mehr der Atompilz steht als Fanal über dem Horizont, nicht mehr der atomare Winter, aber dass die Vögel verstummen, dass die Stürme unerhörte Gewalt erlangen, dass das Wasser in die Häuser steigt, dass die Ernten vernichtet werden und Hunger und Krankheit und Krieg wieder kommen…

Es ist nicht der Untergang, es ist nur eine neue Ära – so tönt es in meinem Innern. Der Gedanke ist tröstlich, als ob der Schrecken damit eingeebnet wäre. Als ob er auf jene Stufe gebracht wäre von Abenteuern, die wir schon erlebt und durchlitten haben – und überlebt. Es ist, als ob das Leben auch das meistern könnte. Der Schrecken wird beruhigt.

Die Erde kennt das, nicht auf diese Art, aber auf analoge Weise. Das Leben kennt das, hat Ähnliches durchgestanden. Es ist in den Tod getaucht und hat eine Metamorphose durchgemacht. Krisenzeiten waren immer schöpferische Zeiten. Nach einer Katastrophe entstanden neue ökologische Räume, die Zahl der neu entstandenen Arten ist jeweils geradezu explodiert. Die schöpferische Kraft ist nicht erloschen.

Die Welt hat schon viele Zustände erlebt, die Biosphäre hat sich oft neu ausgerichtet. Die „Seele der Welt“, das Leben, kennt das aus ihrer Geschichte, und trägt das Wissen in sich. Das ist niedergelegt in der „Nachtfahrt der Seele“, von der wir Bilder und Symbole in uns tragen. Diese Fahrt führt ins Chaos, in den Tod, sogar in den Tod der Arten, und sie führt zu einer neuen Schöpfung.

 

Als ich nach Hause gehe, habe ich aber andere Gedanken. Ich spürte das Herz klopfen. Und ich erinnere mich an das Bild von der Madonna mit dem Kind, das einen kleinen Vogel in seiner Hand hält. Eigentlich berichtet das Bild von der Erlösung des Menschen: weil Gott aus dem Himmel auf die Erde herabgestiegen ist, hat er den Weg aufgetan. Der Mensch hat Flügel bekommen und kann in den Himmel steigen wie ein Vogel.

 

 

Mir ist das Bild eingefallen, weil ich mich fühle wie ein kleiner Vogel in seiner Hand. Mein Herz klopft gegen seine Hand. Er kann es spüren. So ist es, wenn ich selber einen Vogel in die Hand nehme, z.B. weil er sich in einem Schutzzaun verfangen hat, der über die Reben gespannt ist. Auf der Wanderung sehe ich ihn und löse ihn aus den Schnüren. Und ich spüre das kleine Leben in meiner Hand. Es zittert und hat Angst, aber ich will ihm nur helfen. So zittert auch das Herz des Menschen in der Hand Gottes. Er hat Angst, aber Er ist schon dabei, ihm zu helfen.

 

Und das Bild von der Madonna mit dem Kind hat nicht unrecht: Er steigt herab zu uns. Er durchsteigt Abgrund um Abgrund, bis er uns gefunden hat. Er lässt nicht davon ab, bis er bei uns ist, und wenn wir noch so tief gefallen wären.

Unser Herz flattert vor Angst, wenn wir in den dunkel verhangenen Himmel schauen. Aber er kommt auf dem Regenbogen, und dieser erinnert uns: dass er die Welt nicht mehr in einer Sintflut ersäufen will, weil ihn die Schöpfung reut. [68] Der Mensch ist so, wie er ist, aber er will es sich nicht mehr gereuen lassen. „Ich will hinfort nicht mehr die Erde verfluchen um der Menschen willen; denn das Dichten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf.“

Ich darf unsere Kinder in die Zukunft gehen lassen und – wenn es soweit ist – sagen wie Simeon: „Ich kann in Frieden gehen, denn ich habe Dein Heil gesehen, das du uns bereitet hast.“ [69]

 

 

Weltfremd

 

Ambach, 9. Juli 2007

Nachdem Deborah angefangen hat, mir ganze Bücher vorzulesen, hat nun auch Sandra damit angefangen.

 

Höllenfahrt für das erste Lesealter

Sandra liest eine Hexengeschichte. Da interessiert sich ein Mädchen für „Atlantis“ und geht die „Orpheus-Treppe“ hinunter. Das ist der Abstieg ins Dunkle schon für das erste Lebensalter!

Ich muss mir nicht einbilden, dass das irgendetwas Neues sei, wenn ich mich mit der „Nachtfahrt“ der Seele beschäftige – 100 Jahre, nachdem C. G. Jung das längs und quer durchpflügt und als Steinbruch für seine Theorien verwendet hat; 50 Jahre nachdem Campbell in den USA populär wurde und seine mythische Heldenreise nicht nur neue Therapie-Konzepte anregte, sondern auch in die Handbücher zum Verfassen von erfolgreichen Drehbüchern eingegangen ist.

Die Religions-Geschichte ist ausgelutscht. Das Reflexiv-Werden der Religion, ihr Sich-mit-sich-selbst-Beschäftigen und sich über ihre Geschichte beugen, ist vollzogen. Es ist heute konsumierbares Kulturgut, es ist Anwendungswissen für die Herstellung verschiedenster Gattungen der Fantasy-Literatur.

Da wird im Vorabendprogramm am TV für die Kleinen jeden Abend die Welt gerettet. Da kommt ein Erlöser. Es ist in jedem Programm wieder ein anderer. Die mythischen Elemente sind drin. Das spricht die Phantasie an, und es stumpft sie zugleich ab. Was Jesus Christus einmal brachte, was die Faszination seiner Geschichte ausmacht, ist hundertmal ausgelaugt, bevor die Kinder zum ersten Mal von ihm hören.

 

 

Höllenfahrt für Erwachsene

Trotzdem ist es etwas anderes, wenn man sich „stellt“ und selber hinabsteigt in die Abgründe des eigenen Lebens. Denn das heisst, sich dem stellen, was man nicht in der Hand hat. Dem, was einen ausbremst, ins Schleudern bringt, aus der Ruhe reisst, beelendet, bis zum Überdruss enerviert. Was einen zur Verzweiflung bringt.

 

Nachts habe ich dunkle Gedanken. In stecke in der Sackgasse mit meiner Lebensführung. Ich bin unduldsam, es gibt einen Zusammenstoss mit den Kindern. Darauf überhocke ich am TV. Im Bett mache ich mir Vorwürfe: ich hätte auf der ganzen Linie versagt, als Pfarrer, als Ehemann, als Vater und als Mensch.

Am Morgen denke ich: Vielleicht ist es auch nur ein Aufbegehren gegen die Zuschreibungen in all diesen Rollen und Funktionen. Und ich frage mich, was ich denn tun würde, wenn das Leben mir selbst gehörte? – Reisen!

Ich möchte mir, obwohl die Zeit des Sabbaticals zu Ende geht und ich jetzt den Pflicht-Stoff erledigen sollte, noch mal Zeit nehmen für einen solchen „Abstieg“. Auch das ist eine Reise. Ich möchte dem Thema „Sucht“ in meinem Leben nachgehen und dazu die Lesenotizen zu Sloterdijk (Weltfremdheit) zusammenstellen.[70]

Später träumte ich. Nach vielen Selbstvorwürfen und in verzweifelter Angst, dass ich mein Leben zerstört hätte, sah ich beim Einnicken eine riesige Blume vor mir. Ein prächtiger Garten mit langstieligen Blumen und ausladende Blüten.

 

 

Das Widerfahrnis und seine Kultivierung in Religion

Ich habe durch dieses Tagebuch eine Sicht von aussen auf mich gewonnen. [71] Ich habe Mechanismen durchschaut, die mich vordergründig leiden machen, die aber hintergründig von mir gewollt sind. Hinter der scheinbaren Ohnmacht der Psyche taucht ihre Macht auf. Sie setzt die Ohnmacht ein, um noch Schlimmeres abzuwenden.

 

Erotik

„Erotik“ wird missbraucht, um die Angst vor Verlassenheit zu überdecken. Als Kind schon habe ich gelernt, „aus dem Körper zu fliehen“. Hier wird das Schöne missbraucht. Kontemplation geschieht naturwüchsig, wie ein Angstabwehr-Mechanismus. Eine ähnliche Funktion haben Suizid-Gedanken, die mir eine letzte Ausweich-Möglichkeit vorgaukeln. Sie verhindern aber eine wirklich „Einwohnung“ ins Leben. Ich muss damit besser zu Rande kommen. Vielleicht hilft es mir, das bewusster zu machen.

 

Religion

Religion so scheint es, hat einen bewussten Umgang mit diesen Dingen entwickelt, die bei mir unwillkürlich durchbrechen. Ist da ein Weg, auch diese im Körper verankerten Verhaltensweisen aufzubrechen?

Religion gibt Meditation – statt wilder Kontemplation, Begeisterung – statt wilder Ekstase. In ihr lebt die Sehnsucht nach „Mehr“ in den religiösen Bildern einer langen Tradition – statt in privaten Suchtwegen. Sie kennt diese Erfahrungen: wie ich an einem „Ganzen“ teilhabe, wie ich mich in die „Mitte“ stellen kann, wie ich Freude erfahre im Gebet – statt diesem reaktiven Aus-der-Welt-Gleiten und Hinüber-Träumen.

 

 

Sprachlos

Die Sucht mit ihrem alles erfüllenden Zwangs-Erleben ist geeignet, andere Dinge, die noch viel schlimmer sind, zu überdecken, z.B. Verlassenheitsängste, die in früher Kindheit angelegt wurden und dadurch eine vorsprachliche Dimension annehmen, so dass sie sich durch Sprache und sprachlich vermittelte Kultur-Inhalte nicht beschwichtigen lassen. Hier ist das Ende aller sprachlichen Therapie und Seelsorge. Das Ende der Verkündigung.

 

Das Sakrament

Darum muss sie die Sprache wechseln und Körpersprache reden. Darum bin ich in diesem Buch auf der Suche nach dem Sakrament, das die Verwandlung und Teilhabe „körperlich“ erfahren lässt – statt der individuellen Flucht in Gegenwelten.

 

 

Dornröschen und der 100-jährige Schlaf

[72]

Vor einigen Monaten hatte ich die Empfindung, als ob ich im „Wiederholen“ meiner Entwicklung allmählich in der Pubertät angelangt sei. Wer Kinder hat wird durch sie an seine eigene Kindheit erinnert. Vieles steigt auf und wird erinnert, was verbal nicht verfügbar und nicht einmal bewusst ist. So ist Kinder-Haben wie eine Chance auf Nachreifung.

Ich erinnere mich, wie Sandra als Kleinkind Magenkrämpfe hatte und wie mich ihr Schreien „verrückt“ machte. Mein Zorn stand in einem derart krassen Missverhältnis zu seinem Anlass, dass ich begriff: In ihrem Schreien wurde mein eigenes Kinderschreien wiederbelebt – ein Gefühl von äusserster Ohnmacht und Ausgeliefertsein, das mir noch in den Gliedern steckte. (…)

 

 

Die Ohrfeige des Kochs

Mit dem Antritt der Lehre ging es um die Frage, wie ich aus dem Elternhaus weggehen kann, wie ich mich in der Lehre behaupte, ohne täglichen Rückhalt in der eigenen Familie. Woher nehme ich die Kräfte, um fester und bestimmter aufzutreten? Woher nehme ich das Selbstvertrauen und die körperliche Sicherheit, um einer Frau entgegen zu treten, mich auf eine körperliche Begegnung einzulassen?

Bin ich „ansehnlich“, dass ich mich zeigen kann? Bin ich wert und liebenswürdig, dass ich mich zumuten kann? Bin ich sicher in meinem Verhalten? Vertraue ich darauf, dass es „ankommt“, so dass die angefangene Geste nicht in der Luft stehen bleibt wie die Ohrfeige des Kochs in dem Moment, als Dornröschen sich mit der Spindel sticht?

 

Mitte des Daseins

Die Erotik sticht nicht nur ins Fleisch, der Stich der Spindel meint nicht nur den Genital-Akt. Die Erotik trifft in die Mitte unseres Daseins. Und dort finden sich entweder Kräfte und sie kommen ins Fliessen und begleiten uns in den Aufgaben dieser neuen Lebensperiode, oder die Kräfte sind blockiert und entmutigt, sie bergen die Erinnerung an Verletzung und Verlassenheit. (…)

Wo die Fremdheit gegenüber dem Körper und seinen Impulsen also in der Pubertät auftaucht, da hat dieser Mensch sich schon als kleines Kind fremd in seinem Körper gefühlt. Obwohl neugeboren, ist er nie wirklich eingetaucht in diese Welt. Kaum angekommen, hat der sich wieder zurückgenommen, den Atem angehalten. Er wollte unsichtbar sein, hat sich totgestellt.

 

Fremd im Körper

Die Ursache ist nicht primär sexueller Natur, geschwächt ist die ganze Kraft, der Wille zum Dasein, die Lust am Vorhandensein, die Freude sich zu regen und zu bewegen. Nicht vorhanden ist die Sicherheit, wie ich mich mit andern austausche, wie ich eine Geste anfange und vertrauen kann, dass sie verstanden und angenommen wird.

 

 

Darum ist auch die Erlösung nicht primär sexuell. Gemeint ist die ganz Inkarnation, die Weise, wie ich zur Welt komme, wie ich in dieser Welt Gestalt gewinne, wie ich Boden unter die Füsse kriege, wie ich einen Ort finde zwischen den Armen eines geliebten Menschen und unter seinem Blick und wie mein Blick und meine Arme Zwiesprache halten.

 

 

Weltflucht oder Verwirklichung des wahren Lebens?

 

Ambach, 9. Juli 2007

Die Erlebnisse in meinem Tagebuch zeigen mein Kämpfen um einen Weltzugang, um volles Geborenwerden. Sie zeigen aber auch immer wieder mein Hinüber-Rutschen über den Zaun, mein Grenzgängertum, mit dem ich mir die Flucht offenhalte.

 

Naturwüchsige Religion

Da ist der kleine Grenzverkehr mit dem Nicht-Geboren-Sein, was mir das Heimisch-Werden in dieser Welt erschwert. Es ist wie nach meinem Weggang von Zürich, als ich in Bern nicht richtig heimisch werden konnte, solange ich meine Wohnung in Zürich behielt und immer wieder dorthin floh. Wage ich es, mich ganz ins Leben zu stürzen und all die Folgen zu tragen, die das haben mag?

 

Religion als Kultur

Von einer anderen Seite ist es die Frage, wie ich das besser kultivieren kann, was ich naturwüchsig immer schon praktizierte, seit ich mich als Säugling in der Wiege hin und her warf. Ich wollte mir Körperempfindungen verschaffen und suchte so den Zugang zu dieser Welt, ich kämpfte gegen das Versinken in jenem „Loch“, wo die Welt keine Antwort gibt, wo das Grauen der Verlassenheit haust und von wo ich nur entfliehen konnte, wenn ich aus meinem Körper austrat und gar nichts mehr spürte. – Eine höllische Ekstase. Mit dem „Nina-Nina“ war ich ein Anti-Ekstatiker. Ich versuchte, mich schon in der Wiege zu entwöhnen von der Droge der Körperflucht.

 

 

Religion und Körpersprache

Es ist die Frage nach einer religiösen Praxis, die körperliche Empfindungen vermittelt, die das Sakrament des Körpers kennt und seine Kraft, in die Welt hinein zu zeugen. Sie kann das, wenn sie dem Menschen zeigt, dass sie auch das andere kennt, sein Grauen, seine Flucht und die Rettungsanker, die er sich zurechtgelegt hat und ohne die er nicht mehr ausgeht ins Leben.

Religiöse Praxis kann es, wenn sie ihm etwas Besseres anbietet, als diese reaktiven Mechanismen der Flucht, der Ekstase, des Symptoms und der Privatreligion. Sie zeigt ihm das Grauen der Welt, so dass er sich verstanden fühlt, und sie gibt ihm in ihren Sakramenten Anteil an dem, was über die Welt hinausgeht, über das Leben und Leiden. Sie gibt ihm, was Schönheit vermittelt, Aufgehobensein und in der Mitte stehen.

 

Auf der Grenze – Flucht oder Weg ins Leben?

Religion ist ein Hin und Her auf der Grenze von Geborenwerden und Sterben, das sich in diesem Grenzverkehr auskennt und das Wissen nicht benutzt für die Flucht aus dem unerträglichen Alltag, sondern als Ausflug, als Ausblick, als Reservat, aus dem ich mit neuer Kraft ins Leben zurückfinden kann und meinen Weg hier gehen.

 

Es ist ein Erkundungsweg ins Gelobte Land, von wo die Kundschafter mit einer riesigen Traube zurückkehren. Sie redet nicht in Bildern, sie ist mehr als Metaphorik, man kann davon essen und trinken, und spüren, wie es sich wandelt.

Die Traube ist riesig und lässt ahnen, dass noch mehr davon da ist. Aber sie gibt jetzt schon Kraft. Sie ist ein Bild der Mutterbrust für Erwachsene und sie erfüllt wirklich diese Funktion: Wir erleben, dass wir angeschlossen sind an jenen grossen Rebstock, der seine Wurzeln bis zum Ursprung herabstreckt und uns „einmittet“ in die Welt, auf eine Weise, dass wir nicht verloren gehen. [73]

 

 

Die Kinder werden es von uns lernen

So lernen wir leben, dass auch unsere Kinder die lebenszugewandte Seite der Welt kennenlernen und diese Welt mehr und mehr bebauen können als Ort des Lebens, nicht des Todes, aus dem man nur fliehen kann, um ihn erträglich zu machen.

So ist das Sakrament etwas, das Gott den Menschen schenkt an einem Schöpfungstag, damit seine Schöpfung weitergehen möge. Es ist der Schöpfer selbst, der sich zu uns kehrt. Der in uns eingeht und Kraft schenkt, der uns spüren lässt, dass wir angeschlossen sind an die Quelle des Lebens.

Auf das „Spüren“ kommt es an. Denn die Gegenposition hat den Körper schon besetzt. So gibt es keinen Sieg über den Unglauben, es sei denn über den Köper.

Die „Mission“ der Worte kommt immer schon zu spät. Denn die Kinder sind im Mutterleib schon geimpft mit höllischen Empfindungen. So muss das Sakrament lernen, in diese Tiefe hinabzusteigen.

 

 

Die nächtliche Katze und die Engel im Körper

Das Sakrament der Liebe

 

Da ist etwas, aus dem ersten Ursprung, das alle verbindet, die da sind. Und es ist voller Wärme und Verbundenheit. Wer darauf hört, versteht die Bäume. Er lernt die Sprache der Tiere, und der Himmel spricht zu ihm.

 

Ambach, 10. Juli 2007

Im Traum reise ich zum Planeten Venus. Ich sehe seine Sichel (ganz abstrakt in einem Bild). Ich trete aus dem Schatten ins Licht (auf die erleuchtete Seite der Sichel). Da blendet mich die Sonne, es ist wie ein wirklicher Sonnenaufgang! Ich staune über den Wechsel von einem Bild zur Wirklichkeit.

 

 

In derselben Nacht bin ich in einem anderen Traum mit dem Fahrrad unterwegs. Ein grosser Hund taucht neben mir auf. Er fasst mich mit seiner Schnauze an der linken Hand. Er beisst nicht, es tut nicht weh. Aber ich habe Angst, dass ich ihn nicht mehr loswerde. Er hält mich fest. Er folgt mir und begleitet mich überallhin. Endlich kann ich mich zwischen Bögen verstecken.

 

Die Traumreise

Ich hatte den Traum vergessen. Am Morgen, als die Katze Mali kommt, erinnere ich mich, dass etwas war – ah ja, da war ein Traum! – Und jetzt erinnere ich mich daran wie an etwas Tiefes und Schönes. So ist es, wenn ich allein bin und Mali kommt. Ich spüre die zwischen-geschöpfliche Solidarität und die Einsamkeit fällt von mir ab.

Es ist „der Körper“, der mich begleitet, das Warme, das Geschöpfliche, in das Gott sein „Ja“ hineingesenkt hat. Der Schrecken hat seine Dämonen dort einquartiert, dass sie dort hausen, dass sie jeden Morgen von dort aufsteigen und mich schrecken. Aber älter ist die Erinnerung an die Engel, die dort wohnten.

Wenn die Dämonen ausziehen, taucht tief unten die Erinnerung an sie wieder auf, wie an etwas Schönes, an das man sich bewusst nicht erinnert, wenn man am Morgen aufwacht. Aber es begleitet einen mit dem Gefühl: Da war doch etwas? – etwas Tiefes und Schönes!

Zuerst erschrickt man, diese Hohen kennt man nur als Dämonen. So schrecken sie einen. Die Angst lebt noch in allen Knochen. Sie sitzt mir im Nacken. Plötzlich, mitten im Tag, bringt sie sich in Erinnerung und lässt die Hand, die schon erhoben war, in der Bewegung erstarren. Die Angst lähmt mich, ich werde klein und suche eine Höhle, wo ich mich verstecken kann. (Und der Gang meines Lebens, der schon anfing, einen schöneren Lauf zu nehmen, bricht wieder ab. Und auch diese Zeit fügt etwas zu der Sammlung von Bruchstücken bei, die mein Leben ausmachen.)

Aber es sind die Hohen. Sie zeigen es durch den Eindruck und Nach-Druck, den sie hinterlassen. War da nicht etwas Tiefes und Schönes?

 

 

Der Kopf erinnert sich an Angst und Hunde. Aber die Katze bringt es zur Erkenntnis: Es ist etwas wie eine tiefe Solidarität, die alles Lebendige verbindet. Sie ist vor aller Leistung, vor allem Bemühen, etwas darzustellen. Da ist etwas, aus dem ersten Ursprung, das alle verbindet, die da sind. Und es ist voller Wärme und Verbundenheit. Wer darauf hört, versteht die Bäume. Er lernt die Sprache der Tiere, und der Himmel spricht zu ihm. Ich aber fliehe noch vor ihnen. Halte sie für die alten Dämonen. Verstecke mich zwischen Bögen und Fahrrad-Ständern und hoffe, dass der Hund dort nicht hinkommt.

Wie können sie mich hervorlocken? – Sie versuchen es mit allen Mitteln. Und zwischendrin klappt es auch, ich fasse Vertrauen, komme hervor. Aber schon haben mich die alten Dämonen wieder am Wickel, ich „stürze ab“, bin meilenweit von ihnen entfernt. Ich sitze am Boden, die Bahn aber geht hoch am Himmel. Wie soll ich je wieder dort hinaufkommen? Ich bin verzweifelt und ich kann nur mir selber Schuld geben. Warum bin ich abgestürzt?

 

Die Bahn Apollos

Phaëton, so erzählt eine Sage der Antike, ist ein Halbgott, der Sohn des Sonnengottes Apollo und einer menschlichen Mutter. Als er herangewachsen ist, fragt er nach seiner Herkunft. Er will wissen, wer er ist und was sein Weg ist. Als er von Apollo hört, sucht er seinen Vater. Er will wie dieser den Sonnenwagen lenken.

Apollo sagt zu Phaëton: „Glaube doch, dass du mein Sohn bist und ich dir als Vater zugetan. Was willst du den Wagen lenken, was suchst du den Beweis, dass du aus meinem Geschlecht bist? Das kannst du nicht. Lass es genug sein an dieser Liebe, die ich zu dir spüre. Du bist mein Sohn! Du hast einen Vater, der zu dir steht und dich nicht vergisst. Er führt dich, und du wirst zu ihm kommen, eines Tages, dorthin, wo alle vereint sind. Es wird ein grosses Ankommen geben.

Darum darfst du aufstehen und gehen. Auf der Erde, die ich dir bestimmt habe. Und ich habe eine Grosse Liebe eingepflanzt allem was auf dieser Erde lebt. Du kannst es spüren. Es ist eine tiefe Solidarität, dass alles Leben sich zudienen muss. Unter allem Schein von Feindschaft und Gegnerschaft. Es ist der Weg, den ich bestimmt habe.

 

 

So geh jetzt in Gottes Namen. Nimm diese Erinnerung mit, dann hast du genug. Du brauchst nicht immer wieder Halt zu machen, umzukehren und zu suchen, als ob du alles verloren hättest. Ich sage dir, Amen, ich verlasse dich nicht, bis du an dem Ziel angekommen bist, das ich dir jetzt zugesagt habe.

 

Die Bahn der Venus

Ich habe den Weg falsch verstanden, wenn ich denke, meine Bahn wie die Sonne am Himmel ziehen zu müssen. Und wenn ich ihr wirklich folgen wollte: Sie geht auch ins Dunkle, in den Tod. Sie zieht durch die Unterwelt und erneuert die Schöpfung. Das ist Christus, der in diesem Bild gemalt ist.

Im Traum ist mir Venus als Bild gegeben. Meine Sichel ist schmal geworden, und doch ist genug da, dass ich ins Licht treten kann. Und der Morgen geht wieder auf, auch bei mir. Ich empfange mein Licht von der Sonne. Auch mein Lauf neigt sich ins Dunkle, aber er empfängt sein Licht und wird neu aufgehen am Himmel, erleuchtet von der Sonne.

Sie steht für die Liebe. Das ist mir zum Zeichen gegeben. Sie schenkt den Ariadnefaden, der den Weg weist aus der Unterwelt. Sie ist eingesenkt in alles, was da ist. Sie ist das Lebenselixier, das wahre Sakrament, das den Körper reinigt, die Dämonen austreibt. Christus ist von der Liebe bewegt, wenn er den Tempel reinigt. Sie wird spürbar in der tiefen Gemeinschaft, die alles Leben verbindet. Sie ist eingepflanzt in das Begehren der Menschen. Sie kommt zum wahren Verständnis, wo sie diese Erfahrung schenkt:

Am 16.4.07 habe ich dazu die Stichworte notiert: Erotik, Unschuld, Dasein dürfen – die Erlaubnis, auch für die Kinder, der Zuspruch. Auf den Fluss gehen und sich dem Fluss überlassen, sich tragen lassen. In Sonne und Licht. Unter Augen von freundlichen Menschen. In Kontakt mit der Mitte der Welt. Über Augen eintreten in einen Menschen, Verschmelzen der Seelen. Ermatten, froh und zufrieden. Mit der ganzen Welt, mit der ganzen Schöpfung befreundet sein. [74]

 

 

Das Sabbatical geht zu Ende

 

Am Ende kommt es zu einigen öffentlichen Formulierungen von dem, was ich erarbeitet habe, Vorträge über den „Lebensweg“ oder die „Körper-Spiritualität“, ein Gottesdienst über die „Busse“. Darin steckt so etwas wie eine Zusammenfassung des Sabbaticals. Für mich wichtig ist das Zusammenkommen mit Antonia.

 

Lebenswege…

 

Ambach, 28. Juli 2007 [75]

Wir kennen verschiedene Lebenswege. Gibt es auch „den“ Lebensweg? Gibt es einen Weg, der wie gebahnt ist, so dass wir ihm nachfolgen können. Eine Bahn, auf der wir ans Ziel gelangen?

Viele Religionen sprechen vom „Weg“, vom „do“, vom „Tao“, von der „Ma’at“, von der „Weisheit“. Sie berichten von einer Erfahrung, nach der nicht alles nur gemacht wird im Leben. Vieles ist Geschenk, manches fügt sich. Auf dem Weg wird man angeschlossen an einen Ursprung und findet zu Zielen, die man aus eigener Kraft nicht erreichen könnte. Man kann herabfallen vom Weg, aber auch auf ihn zurückfinden.

Die Antike kannte den „Weg der Seele“ und beschrieb verschiedene Stationen auf dieser Reise. Reste dieser Tradition finden sich (neben der Esoterik) auch in modernen psychologischen Schulen. Der Mensch, der sein Leben als sinnvoll erfahren und gestalten will, braucht ein Bild von seinem Weg und wie er sich einordnet ins grössere Ganze.

 

 

… Weg des Lebens?

 

Ambach, 9. Juli 2007 [76]

Gibt es hinter all den verschiedenen Lebenswegen so etwas wie einen Weg des Lebens, eine Spur durch das Gestrüpp? Einen Pfad, der ans Ziel führt? Das müsste etwas anderes sein als die Trampelpfade der Psyche: jenes Verhalten, das wir gelernt haben und das wir immer wieder abspulen, so dass wir immer wieder in derselben Falle landen.

 

Wege am Himmel

Woher kommt eigentlich die Sicherheit im Märchen, dass es am Ende gut heraus kommt? So fragt der Autor in einem Buch über Märchen. [77] Woher weiss das Märchen, dass das Gute siegt? Dass die Menschen, von denen da erzählt wird, nicht untergehen, sondern ans Ziel kommen? Es ist ja nicht so, dass das Märchen dem Dunkeln im Leben ausweichen würde. Der dunkle Wald gehört zum Märchen wie der böse Wolf. Und die Menschen, von denen da erzählt wird, gehen nicht immer nur auf der Sonnenseite. Im Gegenteil. Oft hat man Angst um diese Kinder. Sie geraten in einen Zauberwald, in den Bannkreis einer Hexe und werden in Stein verwandelt.

Und doch bleibt es bei diesem Dunkel nicht stehen. Das Märchen weiss mit schlafwandlerischer Sicherheit, dass der Weg nicht ins Leere führt. Am Ende steht oft eine Hochzeit. Am Ende siegt das Gute, die Gerechtigkeit. Die Wahrheit kommt an den Tag. Und selbst wer unter einem Bann stand und sein Leben schon für verloren hielt, wird erlöst. Das Märchen schildert das Leben des Menschen wie einen Weg, der gebahnt ist, auf dem es sinnvolle Schritte gibt – und nichts ist sinnlos, was ihm darauf geschieht. Auch das Unglück ist nicht umsonst. Und sogar, wenn einer am Anfang im Nachteil scheint, weil er der Kleinste ist oder der Dümmste – am Ende ist er es, die die Aufgabe löst.

 

 

Soweit die Märchen. Ich habe das als Einstieg gewählt, weil die Märchen eine Sprache haben, wie man über Dinge reden kann, die wir mehr ahnen als wissen. Es gibt Dinge, die wichtig sind im Leben, und trotzdem kann man nicht mit Fingern darauf zeigen.

Wir fragen uns: Gibt es ein „Ankommen“ auf dem Lebensweg? Hat das Leben einen Sinn? Wenn im Märchen ein Mensch in einen „Bann“ gerät, dann können wir uns einfühlen. Wir kennen das Gefühl, blockiert zu sein und aus einer Situation nicht weg zu kommen. Gibt es auch im Leben so etwas wie Erlösung, wo ein Bann sich löst, eine Lähmung von einem Menschen abfällt, eine Blockierung verschwindet, so dass das Leben sich freier entfalten kann? –

Kann man von einem Leben als Ganzes sagen, dass es gelungen ist? Und wie soll man es anstellen, da hin zu gelangen, da schon der Anfang, die Geburt, nicht in unserer Macht steht? Gibt es also hinter all den Lebenswegen, die so unterschiedlich sind bei den Menschen, so etwas wie einen Weg des Lebens, der allen gemeinsam ist? Gibt es einen Weg zum Ziel?

Ich will nicht nur in der Sprache der Märchen danach fragen. Wenn man von Weg redet oder von einer Bahn, dann kann man auch an einen Himmelskörper denken. Der kreist auf einer festen Bahn. Er weicht nicht davon ab, denken wir an die Sonne: Jeden Tag geht sie auf und unter. Wenn sie davon abweicht, ist das Leben gefährdet. Viele Märchen haben ihren Ursprung in Himmels-Beobachtungen. Auch die Sicherheit, dass es richtig herauskommt am Ende, stammt aus dieser Erfahrung mit den Himmelskörpern.

Die Menschen, die den Himmel beobachteten, haben schon in Urzeiten empfunden, dass es so etwas wie eine „Richtigkeit“ gibt in der Natur, einen richtigen Weg, auf dem das Leben gelingt. Und wenn man davon abweicht, geht es verloren.

Darum haben die alten Griechen einen Namen gehabt, mit dem sie die ganze Wirklichkeit bezeichneten: „Kosmos“. Das heisst wörtlich: Schmuck, Ordnung. Es ist eine grosse Schönheit und Ordnung in der Natur und in allem was da ist. Diese Ordnung ist allem eingestiftet. So entfaltet sich das Leben, es gilt im Himmel und auf der Erde.

 

 

Die Vorstellung, dass das Gesetz des Himmels auch auf der Erde gelten solle, zeigt sich bis in die Struktur des „Unser Vater“, wo wir beten: „Dein Wille geschehe – wie im Himmel, so auf Erden.“ Es gibt einen Weg, auf dem alles sich entfaltet. Er gilt im Himmel und lenkt die Sonne, und er gilt auf der Erde und soll uns Menschen leiten.

„Sogar die Zugvögel kennen ihren Weg“, heisst es in einem Text der Bibel. Sogar die Schwalbe weiss, woher sie kommt und wohin sie geht. Aber der Mensch hat es vergessen.

Gibt es wirklich so etwas für den Menschen: einen Weg, auf dem man gehen kann? So wie bei den Zugvögeln: Sie wissen nicht bewusst, wohin sie fliegen, und finden doch jedes Jahr ihren Weg? – Unser Gefühl sagt ja: Wir sind nicht endlos unterwegs, es gibt so was wie ein „Ankommen“. Wir sind nicht von uns aus auf dem Weg, da war etwas vor uns da. Es hat uns alles gegeben, was wir brauchen. Es ist, als ob es uns begleitet.

 

Wege im Leben

Gibt es also einen „Weg“? Die Frage klingt „altmodisch“; die moderne Welt redet nicht in diesem Stil. Allenfalls findet man Anklänge noch in der Entwicklungs-Psychologie. Diese entwirft einen Stufenweg, sie skizziert einen Weg, dem entlang sich ein Mensch entwickelt. So kennen wir den Weg, wie sich das Denken und Wahrnehmen beim Kind entwickeln (das ist die kognitive Entwicklung nach Piaget). Freud und die Psychoanalyse haben den Weg der sexuellen Entwicklung aufgeklärt. Erik Homburger Erikson hat das Schema von Freud erweitert. Er zeigt, dass die Entwicklung in der Pubertät nicht aufhört, sondern im Erwachsenenalter weitergeht bis ins hohe Alter. Er zeigt, dass der Mensch immer wieder neue Aufgaben bewältigen muss.

Stanislaw Grof hat den Weg nach hinten erweitert: Schon die Geschehnisse bei der Geburt beeinflussen den Menschen. Sie prägen sich dem Körpergedächtnis ein und beeinflussen die Art, wie er später in bestimmten Situationen reagiert. Nach Grof hat der Körper des Menschen auch eine Art Gedächtnis, die weit zurückreicht in die Geschichte der Menschwerdung und weiter in die Geschichte des ganzen Kosmos.

 

 

Diesen Gedanken kennen wir auch von C. G. Jung. Im Mutterleib wiederholt das ungeborene Kind die ganze Entwicklung der Menschwerdung. So sind in seiner Psyche auch Spuren dieser Entwicklung eingegraben, die sog. Archetypen. Es sind Symbole der Menschwerdung.

Hier finden wir – in einer psychologischen Sprache – den „Weg“ wieder, von dem wir sprachen. Der Weg des Menschen – so wird hier behauptet – ist in einer symbolischen Form im Innern jedes Menschen niedergelegt. Er ist wie eine Art „Autopilot“, der seine Entwicklung steuert. Es liegt nicht im Bewusstsein, sodass man sich daran einfach erinnern könnte. Man kann die Schritte dieses Wegs nicht einfach in die Agenda schreiben und dann Tag für Tag abarbeiten.

 

Traumwege am Übergang

Der Weg ist in einer eigenen Sprache notiert, ähnlich wie die Märchensprache. Es ist eine bildhafte Sprache, wie wir sie aus Träumen kennen. Wenn wir träumen, dann fühlen und erleben wir und wir handeln. Aber es ist nicht das bewusste Ich, das handelt. Es ist etwas in uns, das agiert. Aber es ist nicht weniger erfolgreich. Auch Geschehnisse, die wir bewusst gar nicht steuern könnten, sind von dort her angeleitet.

Das ist wichtig bei Übergängen im Leben, wenn unser Leben sich verändert. Da verändern sich oft so viele Dinge gleichzeitig, dass es für unser Gefühl ist, als ob das „Album des Lebens“ eine Seite umgeblättert hätte. Denn nachher, wenn wir darauf zurückschauen, sind ganz andere Bilder zu sehen. Andere Aufgaben standen vor uns. In den Träumen spürten wir, dass etwas Neues sich konstelliert. Mit dem Bewusstsein können wir solche Dinge nicht steuern, aber wir können es begleiten.

Da kommt jetzt die Religion ins Spiel. Immer wieder haben Menschen Rituale gefunden, die solche Übergänge verständlich machen. Die Rituale nehmen auf, was in inneren Symbolen schon im Menschen liegt, sie machen es bewusst. So können „äussere“ Sakramente tief ins Innere wirken. Sie können blockierte oder verschüttet Wege öffnen. Sie können Vertrauen schenken, wenn die Angst den Übertritt erschwert. Sie können Schritte ermutigen.

 

 

Sie helfen dem Menschen auf seinem Weg. Die Religion spricht von Gott. Er hat diesen Weg eröffnet, er ist auf ihm vorausgegangen. So kann der Gläubige den Weg bewusst gehen, als Nachfolge auf diesem Weg.

 

„Seelenreise“

  1. G. Jung hat seine Symbole nicht nur aus der Traumforschung gewonnen, sondern auch aus seiner Beschäftigung mit alten Religionen. In der altägyptischen Feier vom Weg der Sonne fand er das Konzept der „Seelenreise“ (ein in der Antike verbreitetes Bild vom Weg des Menschen). Die Seele geht auf einem Weg vom Ursprung bis ins Ziel. In antiken Religionen fand er das in einer kultivierten Form vor: In den Feiern dieser Religionen wird der Weg Gottes nachgezeichnet. Die Teilnehmer des Gottesdienstes schauen und hören vom Weg. Sie sehen, woher ihr Leben stammt, wohin es unterwegs ist und was ihnen auf dem Weg begegnet. In der Mitte begegnet Gott auch ihnen.

In der Initiationsfeier, durch die die Menschen in die feiernde Gemeinde aufgenommen werden, begegnen sie Gott. Er sagt ihnen seine Hilfe und Begleitung zu. Sie sollen nicht verloren gehen, sie gehörten dazu. Gott ruft sie auf seinen Weg, sie sollen ihm nachfolgen. Er gibt ihnen Kraft dazu: sie erhalten Gemeinschaft an Gott durch ein gemeinsames Mahl. Sie lernten sich anschliessen an die Quelle, aus der alles Leben kommt. Sie müssen nicht mehr kämpfen, wo kämpfen nichts bringt, sie dürfen sich an einen Tisch setzen und teilhaben an etwas Grossem. Danach kehren sie in den Alltag zurück, aber jetzt neu, mit neuer Kraft und Ausrichtung.

 

„Nachfolgen“

Leben ist jetzt Nachfolge auf einem göttlichen Weg. Wer darauf geht, der ist angeschlossen an den Ursprung, er geht nicht verloren. Er hat Zugang zur Quelle, er findet immer neue Kraft.

Er ist auf einem Weg, auf dem er eigene Schritte machen muss, und doch findet er zu einem Ziel, zu dem er aus eigener Kraft nie gelangen könnte. So findet er zu einem Ziel, wo es ein Ankommen gibt und wo die tiefsten Intuitionen wahr werden.

 

 

Und er kann sich mit seinem Leben versöhnen, er kann den Ort annehmen, wo er steht, und sich auf den neuen Weg machen. So findet er Frieden in sich und kann tun, was er soll.

Auch die Anhänger von Jesus Christus, als sie ihre Erfahrungen mit ihm weitergeben wollten, haben das in einer solchen Feier getan. In der Taufe geschieht die Initiation, die Aufnahme auf den Weg. Im Abendmahl erfährt der Glaubende Gemeinschaft mit Gott. Der Gottesdienst feiert die Gegenwart Gottes unter den Menschen.

Im Christentum können wir auch sehen, wie sich das Wissen um einen solchen Weg entfaltet. Die Bibel fasst die Erfahrungen von vielen Generationen zusammen. Sie erzählt, was sie erlebt haben auf dem Weg und wie sie leben. Die Ethik ist zusammengefasst in der „goldenen Regel“: „Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch!“ Aber das Zentrum ist nicht die Ethik, am Anfang steht der Glaube, das Vertrauen, aus dem wir leben. Das ist die Beziehung zu dem, der von Gott her kommt, der uns sucht.

Es ist wie bei der Begegnung von Christus mit dem Blinden vor Jericho. Er bückt sich zu uns nieder und fragt: „Was willst du, dass ich Dir tue?“ Er heilt uns („dir geschehe, wie du geglaubt hast“). Und er führt uns auf dem Weg. Er selbst ist der Weg. Er kommt uns entgegen und begleitet uns bis ins Ziel.

 

 

„Du liebst alles, was ist.“

 

Ambach, 20. August 2007

Ich danke Gott in Gebeten, ich danke laut in den Gottesdiensten, die ich jetzt vorbereite. Ich bin ein Stück weit angekommen. Die ganze Familie ist weitergekommen. Wir spüren es an allen Ecken und Enden.

Antonia und ich sind wieder zusammen. Vieles ist gut gekommen, vieles hat einen guten Verlauf genommen. Auch wenn ich fast nicht mehr daran geglaubt habe. Es war schön vorgestern. Wir lagen noch lange beieinander, hielten uns umfasst und horchten der Musik nach, die in uns angerührt worden war.

 

 

Ich muss in dieser Zeit Andachten und Gottesdienste für Bettag und Erntedank vorbereiten. Ich habe den Text hervorgeholt, den ich am letzten Sylvester in der Bibel angetippt hatte. Er ist zum Motto geworden für dieses Jahr:

„Dadurch überzeugst Du unsere Feinde, dass Du es bist, der aus allem Übel erlöst.“

 

 

Wieder ins Reine kommen

 

Nein, sein Leben verdiente es nicht mehr, Leben zu heissen, auch wenn andere ihn für reich und glücklich hielten. Die Unschuld, mit der man am Morgen aufsteht und den Tag beginnt, hatte er verloren.

Die Unbefangenheit, mit der man der Zukunft ins Auge blickt, war vorbei. Die Spontaneität, mit der man andern Menschen begegnet und ihnen das Beste zutraut, die hatte er schon lange verloren.

 

Ambach, 20. August 2007 [78]

Im Herbst beginnt wieder die Wanderzeit. Viele zieht es in die Berge. Es ist ein schöner Moment, wenn man nach einem anstrengenden Aufstieg oben angekommen ist. Jetzt hat man es geschafft. Von jetzt an geht es nur noch geradeaus, und man geniesst den Blick, der weit in die Runde geht. Auch das Leben kennt eine solche Aufstiegszeit. Man erlernt einen Beruf, geht Beziehungen ein, löst sich vom Elternhaus und stellt sich auf eigene Beine. Irgendwann hat man es „geschafft“, man weiss, wie es läuft, hat einen Weg gefunden.

 

Der innere Weg

Auch innerlich macht man einen Weg in diese Zeit. Die Erfahrungen in der Beziehung zeigen, wo man steht. Die Erfahrungen im Beruf konfrontieren mit den eigenen Grenzen. Auch im Innern wird viel Arbeit geleistet in den „Aufstiegsjahren“. Altes, das man hinter sich glaubte, taucht wieder auf.

 

 

Frühere Erfahrungen im Leben helfen bei der Bewältigung des Neuen. Sie können sich aber auch wie Fesseln um die Beine legen, wenn verletzende Erfahrungen damit verbunden sind. Viel Versöhnungsarbeit ist zu leisten in diesen Jahren, und so reift man auch innerlich in dieser Zeit. Nach vielen Rückschlägen findet man einen Weg. Und schliesslich ist auch dieser Aufstieg geschafft, und der Blick geht weit in die Runde.

Aber wie das Wetter umschlägt, kann auch diese innere Ruhe verloren gehen. Ein Sturm kann aufziehen, Wolken, die den Horizont verhängen, Stürme, die einen bis in die Seele erschrecken. Und der Weg, auf dem man so sicher vorangeschritten ist – man hat ihn verloren. Nichts mehr scheint zu gelingen. Man fühlt sich verstrickt in Mechanismen, die man nicht kontrollieren kann. Und oft muss man sich selber die Schuld geben an dem, was geschehen ist.

Wie gern würde man da einen neuen Anfang machen, ohne die Zentnerlast der Vorwürfe an sich selbst, ohne das bittere Gefühl, es aus eigener Schuld verdorben zu haben. Es gibt Momente, wo man nicht mehr hofft, dass es noch gut wird mit dem eigenen Leben.

Man möchte wieder ins Reine kommen. Das ist auch der Sinn des Bettags, den wir am 16. September feiern. Menschen haben immer schon Wege gefunden, wie sie auf den guten Weg zurückfinden. Der Wanderer, der sich verirrt hat, schaut in die Karte. Und notfalls kehrt er um und geht ein Stück zurück, bevor er es mit einem anderen Weg versucht. In der Politik sind es Wahlen, die einen Neuanfang markieren. Das Rechtsleben ist voll von Verfahren, wie Verstösse wieder gut gemacht werden können.

Aber auch mit sich selbst möchte man ins Reine kommen. Das Gewissen klagt an, auch hier erwartet man Bestrafung, und sehnt sich manchmal vielleicht sogar danach, wenn nachher nur wieder alles gut ist. Im Lauf der Geschichte haben Menschen viele Formen entwickelt, die es ihnen erlauben sollen, wieder ins Reine zu kommen. Oft sind sie verbunden mit einer Selbstminderung, einer Selbst-Bestrafung, dass man sich selbst eine Busse auferlegt. Im Mittelalter zogen Geissler-Züge durch die Städte, andere rutschten auf Knien auf einem Pilgerweg, in den Klöstern kasteite man das Fleisch, um den sündigen Leib abzutöten.

 

 

Unbegreifliche Güte

Viele Buss-Wege wurden beschritten, auch solche, die ins Abartige kippen und die nur verständlich sind aus einer zutiefst verängstigten Seele. Im Lauf der Religionsgeschichte wurden sie geläutert. Gott, so wurde begriffen, ist kein Moloch, der Kinderopfer verlangt, kein Dämon, der die Menschen quält. Er ist ein gütiger Gott. Er verachtet nichts, was er geschaffen hat, wie schon ein Text aus dem Alten Testament sagt:

 

„Du liebst alles, was ist. Du verabscheust nichts von dem, was Du gemacht hast; denn Du hast ja nichts bereitet, gegen das Du Hass gehabt hättest.

 

Wie könnte etwas bleiben, wenn Du nicht wolltest?

Du schonst alles; denn es gehört Dir, Herr, Du Freund des Lebens.

 

Darum bestrafst du die, die fallen, nur leicht und warnst sie, indem Du sie an ihren falschen Weg erinnerst. So kommen sie von ihrer Verdrehtheit los und lernen auf Dich vertrauen.

 

Dein Volk aber lehrst Du auf solche Weise, dass der Gerechte menschenfreundlich sein soll. Wer sich zu Dir hinwendet, der wird errettet durch Dich, den Heiland aller Menschen.

 

Dadurch überzeugst Du unsere Feinde, dass Du es bist, der aus allem Übel erlöst.“

 

(Weisheit Salomos 11, 24ff)

 

 

So kann sich der mit sich entzweite Mensch wieder versöhnen. Er muss vor Scham nicht mehr in den Boden sinken, Angst muss ihn nicht mehr lähmen, Schuld nicht mehr am Sinn des Lebens verzweifeln lassen. Er wird zu einem neuen Leben befreit, einem neuen Anfang.

 

 

Mit dem Knie glauben

 

Das ist ein sehr persönliches Thema: „Körper und Spiritualität“. Denn konkret wird es erst, wenn man sich der Realität seines Lebens stellt. Der Körper trägt in sich eine Erinnerung an die ganze Lebensgeschichte. Er erinnert uns mit seinen Empfindungen daran. Er mahnt uns damit auf eine unaufdringliche aber doch hartnäckige Art, unser Leben durchzuarbeiten.

 

Ambach, im Mai 2008 [79]

Kann man mit dem Knie glauben? Die Frage scheint absurd. Umgekehrt ist es aber so, dass der Unglaube durchaus im Körper sitzt. Der Schreck ist mir in die Glieder gefahren sagt man, oder die Angst sitzt mir im Nacken. Das Herz setzt aus, die Glieder sind wie gelähmt.

Nicht glauben können, die Unfähigkeit zum Vertrauen, die Verzweiflung – das sitzt auch im Körper, in den Muskeln, die verspannt sind, im Atem, der stockt, das sitzt in den Knochen. Und von dort her prägt es immer wieder unsere Gefühle und unser Verhalten. So stellt sich wirklich die Frage: Kann ich mit dem Knie glauben lernen? Kann ich dem Nacken das Evangelium verkünden, dass die Angst dort loslässt?

Der Körper speichert Erfahrungen aus der Lebensgeschichte. Und er speichert auch die Reaktionen, die wir in bestimmten Momenten gefunden haben. So muss nur eine bestimmte Frage an uns herantreten, eine bestimmte Situation, und schon spulen diese Reaktionsmechanismen ab. Und wir selber kommen zu spät, wenn wir bewusst darauf reagieren wollen.

Das beginnt schon am morgen früh, wenn wir aufwachen. Im Kopf haben wir vielleicht schon lange zum Glauben gefunden, aber der Körper speichert noch die alten Erfahrungen. Und bevor wir bewusst den Tag anfangen, mit Bibellektüre, oder was zu unserem persönlichen spirituellen Leben gehört, steigen die alten Gefühle schon aus dem Körper auf und bestimmen die Haltung, wie wir in den Tag gehen.

 

 

Diese Gefühle sind von Mensch zu Mensch verschieden. Ein glücklicher Mensch wird mit Gefühlen der Bejahung aufwachen. Es gibt andere, die so etwas wie ein „Nein“ in sich tragen. Sie fühlen sich schon abgelehnt, bevor sie den Tag beginnen und dem ersten Menschen begegnen.

 

Darum ist das auch ein sehr persönliches Thema: „Körper und Spiritualität“. Denn konkret wird es erst, wenn man sich der Realität seines Lebens stellt. Der Körper trägt in sich eine Erinnerung an die ganze Lebensgeschichte. Er erinnert uns mit seinen Empfindungen daran. Er mahnt uns damit auf eine unaufdringliche aber doch hartnäckige Art, unser Leben durchzuarbeiten. Denn wenn wir es nicht tun, stolpern wir immer wieder über die gleichen Erfahrungen. Es ist wie im Dunkeln durch einen Keller gehen: wenn man den Keller nicht aufgeräumt hat, stösst man sich bei jedem Schritt.

Den Keller aufräumen, das Leben durcharbeiten – man könnte auch sagen: missionieren. Zwar ist unsre Landesgegend in der späten Antike durch das Christentum missioniert worden, aber manchmal denke ich, das Christentum ist noch nicht ganz bis zu mir gekommen. Mit dem Kopf habe ich es schon aufgenommen. Aber mit dem Körper noch nicht. Und es entsteht das Bild einer Mission, die auch durch den Körper geht. Damit ich später auch mit dem Knie glauben kann; und der Nacken mir nicht immer wieder Streiche spielt. Dass der Körper mit seinen Erfahrungen mich unterstützt im Glauben, statt mich immer wieder auf andere Bahnen zu bringen.

„Christus kam nur bis Eboli“. So heisst ein Buch, das beschreibt, wie das Evangelium nach Italien kam, aber es hat noch nicht alle Provinzen erlöst, so dass die Menschen dort immer noch in Dunkelheit und Verzweiflung leben. Auch bei mir gibt es noch heidnische Gebiete. Mit dem Kopf habe ich schon vom Evangelium gehört. Aber mit dem Knie bin ich noch ein Heide.

 

 

Der Körper als Gegenspieler

Der Körper verfügt über autonome Reaktionsweisen, die in früher Kindheit gelernt werden. Z.B. versucht ein Mensch bei einer verletzenden Erfahrung den Schmerz abzuwenden, er versteift die Muskeln, atmet flach. Es ist fast eine Art Totstellreflex.

Das wird zu einem Angstabwehr-Verhalten, das später selbsttätig abläuft und sich bei einem bestimmten Reiz reaktiv einklinkt. Die bewusste Verhaltenssteuerung kommt hier immer schon zu spät.

Das macht das Demütigende solcher Erfahrungen aus, dass man sich als unfrei erlebt, als ohnmächtig, wie ausgeliefert einem dunklen Schicksal, das aber nicht über einem lauert, sondern das man wie einen Kern in sich selber trägt.

Und man hat das Gefühl, dass man im Leben immer wieder in dieselbe Falle trampelt. Mit der Zeit kann man an seinem Leben verzweifeln, und ob man es noch zu einem guten Ende bringt.

Vielleicht kennt Ihr auch solche Erlebnisse, wo die alten Erfahrungen im Leben sich immer wieder durchsetzen, es scheint kein Kraut dagegen gewachsen. Und man möchte mit Paulus sagen: das, was ich will, das tue ich nicht, aber das, was ich nicht will, das tue ich. (Römerbrief). …

 

Der Körper als Helfer

Auf der anderen Seite gibt es andere Erfahrungen, wo der Körper nicht ein Gegenspieler ist, sondern ein Helfer. Vielleicht habt Ihr es schon erlebt, dass ihr euch in einer schwierigen Phase eures Lebens an eine andere Zeit in eurem Leben erinnert habt. Es war eine Zeit des Aufbruchs, viele Fragen haben sich damals geklärt, viele „Knöpfe“ sind aufgegangen, und ihr habt das Leben frei gestaltet. Es hat sich nach vielen Seiten hin entfaltet.

Wenn ihr euch an diese Zeit erinnert, dann steigen auch die Gefühle auf, die dazugehören, die Haltung, die ihr gefunden habt. Ihr spürt, wie sich das angefühlt hat, auf diese Weise durchs Leben zu gehen. Und dieser Erinnerung hilft euch auch jetzt, in eurer neuen Situation:

 

 

Ihr könnt die Kompetenzen von damals „abrufen“, nicht nur das kognitive Know-How, sondern auch die Art, wie man auftritt, das nonverbale Drumherum, wie man auf andere Menschen zugeht… Und es funktioniert: Auch später, in einer Phase, wo es euch nicht so gut geht, könnte ihr euch verhalten wie damals, als eine gute Zeit war in eurem Leben!

Die meisten Menschen kennen das aus ihrem Leben. Und die meisten Pfarrer nutzen das auch in der Altersarbeit: dass man mit den Menschen zu bestimmten biographischen Erfahrungen zurückgeht, wie zu einer Quelle, und dort an der Tankstelle die Energie zapft, die sie heute brauchen für ihren Weg.

Wir sehen, der Körper hat ein eigenes Gedächtnis. Dieses ist mitbeteiligt an der Art, wie wir Situationen wahrnehmen und wie wir reagieren. Es bestimmt, wie wir uns selber als Person empfinden und wie wir in die Welt hinausschauen: So kann aus dem Totstellreflex, mit dem wir eine traumatische Erfahrung überstanden haben, ein Gefühl von Lähmung, Ohnmacht und Depression aufsteigen.

Und aus der Erinnerung an eine glückliche Phase fliessen uns Quellen zu, von denen wir gar nichts wussten.

 

Eine neue Feier der Sakramente

Damit wäre auch schon ein Programm skizziert: Es ist die Frage, wie wir negative Prägungen aufheben oder um-modeln können. Und wie wir vermehrt solche Tankstellen in uns verankern.

Damit ist auch die Frage der Sakramente angesprochen. Diese können uns auf dem Glaubensweg helfen, weil sie eine sinnliche Dimension enthalten. Alles Sinnliche, das eine Erfahrung begleitet, hilft, das Erfahrene im Körpergedächtnis abzuspeichern. Hier wird also das Körpergedächtnis als Hilfe eingesetzt. Es kann später wieder angezapft werden wie eine Quelle. Mit der Erinnerung werden auch die Haltungen wieder verfügbar und die Handlungsweisen, die diese erschliessen.

 

 

(Diese sinnliche Dimension des Sakraments wurde früher bewusst eingesetzt, um das Körper-Gedächtnis im Sinn des Glaubens zu prägen. Wenn in der Antike ein Adept in einen Kult eingeführt wurde, so wurde die Initiation so gestaltet, dass sie sich der Erfahrung möglichst einprägte. Der neue Glaubensgenosse wurde durch gewissermassen „geimpft“, und das half ihm später auf dem praktischen Lebensweg, gemäss seinem Glauben auch zu leben.)

 

Zum historischen Hintergrund dieser Fragen

Dass wir im Glauben, in der praktischen Frömmigkeit nicht am Körper vorbei kommen, das ist nichts Neues. Die Glaubenspraxis hat hier vieles aufgenommen, was in der Therapiebewegung der letzten Jahrzehnte erarbeitet wurde.

Schon bald nach Freud gab es Therapeuten, die seine Analyse als „Rede-Kur“ verstanden und nach wirkungsvolleren Mechanismen suchten, auf die Seele einzuwirken. So entstand die Körpertherapie (Reich, Lowen…). Heute werden diese Erkenntnisse in der Sprache der Neurobiologie formuliert. [80]

In den 80er Jahren gab es in der philosophischen Ethik eine analoge Diskussion. Auch dort war man unzufrieden mit einem Ansatz, der nur über den Intellekt auf das Verhalten der Menschen zugreifen wollte. Der Vernunft wurde nicht zugetraut, das Verhalten zu bestimmen. Beispiele aus der Geschichte liessen ausserdem skeptisch werden gegen den Rigorismus einer Vernunftethik. So suchte man den Zugang über Institutionen, die sich nicht nur mit Normen an den Intellekt richten, sondern diese Werte bereits verkörpern. Damit können diese der neuen Generation auf eine Weise vermittelt werden, damit diese auch „können, wie sie sollen“. [81]

 

 

Sakramente

Was helfen Sakramente? – Ich fange hinten an. (Nicht bei einer Sakramenten-Lehre. Als Pfarrer sind wir vielleicht ein Stück weit verbildet, weil wir immer wieder von der Antwort her feiern und kaum dazu kommen, den Weg selber zu finden.)

Wir Menschen kennen die Empfindung – es ist uns vielleicht nicht immer bewusst, aber im Lauf des Lebens taucht es wie eine Ahnung in uns auf: dass es so etwas wie eine Quelle gibt, wo wir uns anschliessen können. Wo das Leben herkommt, wo wir Kraft schöpfen können.

Wir spüren, gewisse Dinge können wir uns nicht erkämpfen, wir können sie uns nur schenken lassen. Und es gibt auch den Moment, wo wir uns wie leer fühlen, wir können uns anstrengen wie wir wollen, es kommt nichts mehr. Es ist, als ob wir immerzu in einem leeren Kübel kratzten, aber es ist einfach nichts mehr drin.

Da hilft es nichts, sich noch mehr anzustrengen – das ist Kratzen im leeren Kübel. Da gibt es nichts, was wir erkämpfen können. Viel eher hilft uns hier ein anderes Bild, was wir tun können: Es ist, wie wenn wir uns an einen Tisch setzen und teilnehmen. Wenn wir Teil haben an einem Geschehen, uns anschliessen an eine Quelle, angeschlossen sind an ein Grosses, Ganzes, das nicht aus uns kommt, aber wir aus ihm.

Ich denke, in solchen Erfahrungen spüren wir etwas von dem, was das Abendmahl meint. Hier will ich aber nicht weiter dozieren. Schöner fände ich es, mit euch auf einem Suchweg zu sein. Am allerschönsten, aber das kann man nicht erzwingen, wenn wir uns gegenseitig erzählen wollten, wie es uns geht dabei. Welchen Zugang haben wir zu den Sakramenten? Wie ist es verknüpft mit unserem Leben? Das liegt jetzt an uns allen.

 

 

«Säb Land» – was ist jetzt mit dem Paradies?

 

„Säb Land“ – so hiess das Traumland von Antonia, wenn sie als Kind zusammen mit ihrem kleinen Bruder von einer Welt schwärmte, wo alles anders ist und wo die schönsten Träume in Erfüllung gehen. Und als der kleine Bruder sie drängte, sie solle ihm dieses Land jetzt endlich zeigen, da konnte sie ihn nicht mehr länger hinhalten. Aber herzaubern konnte sie es auch nicht.

So ging sie mit ihm dreimal um den Tisch. Dann machte sie die Türe zu, die immer offen gestanden hatte, und wies auf die Ecke hinter der Tür. Diese Ecke hatte man bisher nie angesehen. (Man war da höchstens mal hingelangt, wenn man Verstecken spielte. Und die Atmosphäre hinter diesem Türflügel war noch geladen von jenem Wunsch, in diesem Dunkel versteckt und geborgen zu sein, und von der Angst, in diesem vergessenen Winkel vielleicht gar nicht gefunden zu werden und jetzt für immer da bleiben zu müssen). „Da!“, sagte sie, „da isch säb Land!“ –

Der kleine Bruder sperrte den Mund auf – vor Staunen und Enttäuschung. Dann ging er mit Fäusten auf sie los. Wo waren die Rutschbahnen, wo man fahren konnte und es hörte nicht auf? Wo die Buden mit den Süssigkeiten?! Sie wusste sich nicht zu helfen und musste seine Wut ertragen.

 

Jenes Land für Erwachsene

Heute, wenn sie die Anekdote erzählt, denkt sie, dass man „jenes Land“ hier so gut finden kann wie irgendwo. Das Dämmerdunkel regt die Phantasie an. Wunschbilder und Angstphantasien steigen auf, wie man es ja schon beim Versteckspiel erlebt, wodurch gerade der Winkel hinter der Tür zu einem geheimnisvollen Ort wird. Als Erwachsene würde sie aber fragen: wie man es hervorholt, wie man es macht, dass man das als Erwachsener erleben kann, mitten in dem Alltag, in dem man manchmal verloren geht.

 

 

Es ist nicht anders als mit dem „Reich Gottes“. Das ist die erwachsen gewordene Variante des Schlaraffenlandes. Da sind die Bilder des Glücks nicht mehr nur Antworten auf den Hunger, nicht mehr nur Kompensation des Leids. Da ist viel Annehmen dabei, viel Versöhnen mit Widerständigem, viel Demut, die gelernt hat, Grenzen anzunehmen, statt sich diese in Demütigungen von aussen aufzwingen zu lassen. Da ist ein grosser Blick dabei, der auch das „andere“ ansieht, das was uns begegnet, wenn wir an der Grenze stehen. Und da ist ein neues Selbstbild, das sich aus diesem Grösseren versteht.

 

 

 

Rückblick

 

Ein Pfarrer sucht seine Lebendigkeit. 2007 habe ich ein Sabbatical: fünf Monate freie Zeit! Und die Fragen kommen jetzt von innen, sie werden nicht mehr vom Alltag gestellt. Ich bin auf eine Insel gespült und darf sie erkunden. – „Säb Land“, das sagenhafte Land, in dem Wünsche wahr werden!

 

Das Buch als Erlebnisreise

Ich folge dem Erlebnisweg dieses Sabbaticals, von dem hier erzählt wird. Das ist spannender als eine abstrakte Zusammenfassung: als innere Reise durch das ganze Buch. Das ist nicht nur Erlebnis-Sprache, da ist auch Überlegung dabei. Aber das Empfinden überwiegt, so dass ich mich beim Lesen wieder identifizieren kann: Doch, so habe ich es erlebt!

Im Folgenden einige Zitate aus dem Buch. Sie fügen sich assoziativ aneinander und schlagen einen Weg durch das Dickicht, auf dem das Ganze sich durchwandern lässt:

 

„Säb Land“ – eine Vision

Das Dämmerdunkel regt die Phantasie an. Wunschbilder und Angstphantasien steigen auf, wie man es ja schon beim Versteckspiel erlebt, wodurch gerade der Winkel hinter der Tür zu einem geheimnisvollen Ort wird.

Als Erwachsene würde sie aber fragen: wie man es hervorholt, wie man es macht, dass man das als Erwachsener erleben kann, mitten in dem Alltag, in dem man manchmal verloren geht.

 

Was ich mir vornehme und nicht vornehmen kann

Wenn ich mein Leben übersehen will, beginne ich besser wohl nicht bei dem, was ich in der Hand habe, sondern bei dem, was ich nicht in der Hand habe, was mich in der Hand hat.

Ich wolle die „Erotik erproben“, habe ich geschrieben. Klingt seltsam in dieser Planungs-Sprache. Es gehört zu den Dingen, die ich nicht in Hand habe.

 

 

Realität

Also noch einmal: Aufstand aller schlechten Gefühle und Projektionen. Ich kann beim Gedanken, dass alles immer neu entsteht, heulendes Elend kriegen.

 

Suche

Ich möchte mir schon jetzt ein Bild aufstellen, wie ich leben will, wie ein rechtes Leben für mich aussähe und das befolgen. Besuche gehören dazu. Unbefangenheit gehört dazu (sie fiele mir leichter an einem anderen Ort, wo ich nicht dauernd über das Alte stolperte). Neugier gehört dazu und Lebensfreude.

Ich will suchen, ohne in eine lebensfeindliche Frömmigkeit abzudriften, wie mir das früher manchmal geschah. Eine enthusiastische Karwochen-Stimmung, die das eigene Leben opfert – das verhält nicht, weil der Mensch, der sich da verschenkt, sich gar nie zu eigen hatte.

 

Gott weiss, dass sie nicht können, wie sie sollen, und begegnet ihnen in Gnade. Darum geschieht Erlösung. Davon kann nicht mehr moralisch-ethisch gesprochen werden; darum die mythologische Sprache von der Höllenfahrt.

 

Gibt es den geraden Weg – ohne Rückfall und Busse?

Das ist keine innere Versöhnung der Gegensätze, sondern nur das zyklische Geschehen von Absturz und Rückkehr, von Verfehlung und Vergebung, von Getrieben-Sein und Sich-Beherrschen-Wollen, von Trieb und Vernunft. Es ist das Buss-Drama vom Herausfallen aus dem Gnadenstand und Rückkehr durch das Buss-Sakrament. Das erfordert die Kirche und ihre Gnadenmacht.

 

Es ist aber die Frage, ob eine Integration auch wirklich gelingt, und das innerweltlich, in nützlicher Frist. Gibt es die nicht-gespaltene Existenz? Das erlöste Leben? Lässt sich Eros und was damit zusammenhängt im individuellen und gesellschaftlichen Leben so gestalten, dass es in Harmonie mit allen anderen Daseins-Bestimmungen gelebt werden kann?

 

 

Gibt es auch eine religiöse Bejahung des Eros? – Die Reformation akzeptiert die Säkularisation, sie hebt das Sakrament der Ehe auf, erklärt sie zu einem „weltlichen Ding“. Sie lässt Scheidung und Zweit-Ehe zu. Sexualität wird „kanalisiert“ in der Institution der Ehe.

Eine wirkliche Versöhnung und Integration ist das nicht. In der kirchlichen Seelsorge begegnet es als Zyklus aus Durchbruch und Vergebung (Busse). Erfahren wird es als ein quasi naturwüchsiges Geschehen, als Krise mit zwanghaften Verhaltens-Schlaufen, die an eine Sucht erinnern.

 

Hier gibt es keine Tempel-Prostitution wie in der Antike, keine Tantra-Spiritualität wie im Hinduismus. – Sind das denn Wege? In der christlichen Tradition geht es um die Liebes-Beziehung zu Gott. Die endgültige Vereinigung erfüllt die Sehnsucht und hebt den Körper als Medium auf. – Der Körper kann gar nicht Medium der Gottes-Erfahrung sein. – Stimmt das?

 

Im Wirklichkeits-Modell des Alten und Neuen Testamentes (im Unterschied zu den Kulturen des Alten Orients) geht Gott nicht in die Schöpfung ein. Er ist wohl ihr Urheber, aber er bleibt von ihr geschieden. Sie ist aber eine „gute“ Schöpfung (anders als in neuplatonischen Sekten, die einen unheilbaren Graben zwischen Mensch und Welt aufreissen, wo Askese, Entsagung, „Abtötung des Fleisches“ heilsnotwendig werden. Da ist der Mensch mit sich entzweit, solange er in der Welt lebt. – Diese „Körperfeindlichkeit“ gibt es nicht in der Hauptströmung des Christentums. Aber es gibt auch nicht eine „Körperseligkeit“.)

 

Könnte Eros gar ein Heilsweg sein?

Eine über den Körper vermittelte Vereinigung mit Gott ist hier kaum denkbar, auch wenn Jesus Christus als Schöpfungsmittler allgegenwärtig gedacht wird. – Es geht mir aber zu schnell, wenn ich die körperliche Welt überspringen soll, weil Gott sowieso nur im Absoluten zu erfahren sei. Er hat Spuren des Guten hinterlassen.

 

 

Und wenn es eine gute Schöpfung ist, kann der blosse Eros einen nicht in derart grosse Konflikte reissen, dass man am Heil verzweifeln müsste. Und meine Konflikte sind dann vielleicht zu verstehen als Überreste asketischer Traditionen. Als Folgen von Nebenströmungen des Christentums, die es eben auch gab. Wo die Sexualität verpönt ist.

 

Der Weg in die Angst – ein mythologischer Weg und ein realer Weg

Dafür habe ich mich doch schon entschieden, schon in jener alten Zeit: Dass ich das suchen möchte. Dass ich dem nachgehen möchte. Und es hatte nicht das Versprechen bei sich, dass es mich zu Ruhm und Ehren bringen wird. Es war nichts als Neugier, es war nichts als Risiko, es war nichts als die Lust, in das hineinzugehen, was mir Angst macht. Es war haargenau das, was ich jetzt erlebe. Soll ich jetzt davonlaufen?

 

Ich habe ja Hilfe gefunden. Ich bin ins Labyrinth gestiegen, und siehe, er hat mir den Ariadnefaden in die Hand gegeben. Da ist die Liebe, die mich rettet. Jetzt geh ich auch bis ins Zentrum, und begegne dem, was mich schreckt, was mich ein Leben lang verfolgt. Und ich finde meine Ruhe dort, sei es, dass es mich frisst oder dass etwas Unerwartetes geschieht, was ich mir jetzt noch nicht vorstellen kann.

 

Wie ich die Welt meinen Kindern vermittle

Ich erlebte, wie die Kinder sich entwickeln in dieser Welt, wo man sich nie etwas erlauben darf, wo man immer mit schlechtem Gewissen lebt und jede Äusserung von Leben, Lust und Freude unterdrückt, weil sonst jemand mit dem Stecken draufschlägt.

 

Die Lebensfreude, die Erlaubnis, das blosse Dasein, das fehlt mir noch, weil ich immer wieder in den Drecktümpel eingetaucht werde. Dazu gehört dann auch die Erotik, die Freude am Leben. Das Leben, das sich rühren und zeigen darf. Das sich in Unbefangenheit bewegen darf, nicht stille stehen wie ein Käfer, auf den ein Schatten fällt und der sich totstellt, bis der vermutete Feind wieder weg ist.

 

 

Dazu gehört Unschuld – nicht wie sie sich einstellt nach Vergebung. Sondern als neue Naivität, als neuer Vertrauens-Mut, als neue Harmlosigkeit, weil sie allen Harm hinter sich gelassen hat. Weil sie wieder lernt, sich anzuvertrauen. Unschuld, die das Trauma hinter sich gelassen hat und noch einmal ja sagt: Ja, ich will den Weg des Menschen gehen. Ich will den „Rest des Lebens“ nicht verbringen hinter Barrikaden und mich schützen vor dem, was einmal war. (Das Leben lässt sich nicht aufteilen in Hauptsache und Rest. Es ist eine Hauptsache, so lange es dauert.)

 

Busse – die „zweite Unschuld“ ist besser als gar keine

Vor einigen Tagen stieg beim Aufwachen ein Satz in mir auf: „Lieber Gott, mach mich rein. Nimm Angst und Schuld von mir! Dann kann ich machen, was ich soll.“ Das klingt grässlich beim Lesen. Aber es stimmt im Fühlen. Die Worte sind alt, sie wecken andere Vorstellungen als ich sie im Fühlen vor Augen habe.

 

Es geht um jene Wiedereinsetzung in den „Stand der Unschuld“, der den inneren Widerstand und die Blockaden wegräumt, die mich hindern. Die mich unfrei machen und wenn ich äusserlich noch so frei wäre.

 

Die Widerstände kommen aus Angst, Scham und Schuld. – So werden Vergangenheit und Zukunft als Gewicht empfunden, sie drücken nieder. Die Gegenwart ist aufgehoben. Ich kann nicht gegenwärtig sein. Wenn Gott mich davon befreit, dann kann ich leicht und frei auf alles zugehen. Es ist alles neu, ohne den Rattenschwanz von „lebenslangen Versäumnissen“, ohne falsche Anpassungen und Niederducken… Es ist nur noch, was es ist – und nicht mehr ein alter Roman, wo das schlechte Ende schon festgeschrieben ist.

 

Die Übung der persönlichen Frömmigkeit ist ein Anfang – aber reicht er aus?

Das ist die Frage nach dem „Buss-Ritus“. Wie kann er so ausgerichtet werden, dass er wirkt? Wie finden wir zu einem fröhlichen neuen Anfang? Zu einer neuen Unschuld?

 

 

Absturz – die Erotik wird missbraucht

Was ich im Tagebuch „Absturz“ nenne, hat mit Sexualität nichts zu tun, kann also nicht über Sexualität geheilt werden. Sexualität wird dort nur missbraucht. Die sexuelle Erregung, jene monomane Stimmung, der Drang, der alles Sein besetzt, der sich allem anderen verschliesst, bis dieser Weg gegangen ist – dieser ausschliessliche Bewusstseinszustand wird im „Absturz“ missbraucht. Er hat eine narkotisierende Wirkung, eine Intensität, die benutzt werden kann, um andere Empfindungen von ebenso grosser Intensität zu verdrängen, zu übertönen, vergessen zu machen.

 

Wenn ich „abstürze“, bin ich in einem Zustand der Angst, der Ekstase. Es ist wie Sucht, ich biete alles auf, um jenem Gefühl von existentieller Einsamkeit und Ausgesetzt-Sein zu entfliehen.

 

Es ist wie das „Nina-Nina-Machen“ des Kleinkindes, als ich mich im Kinderbett hin und her warf, um nur überhaupt etwas fühlen zu können. Ich konnte so den Körper spüren statt in der Leere abzudriften. Ich war so lange allein, dass ich mich selber verlor, ich fiel aus mir heraus und musste mich wiederfinden.

Wenn meine Mutter wieder kam, spürte ich, dass es das war, was ich vermisste: sie war nicht da, ich war allein. Und sie sagte: „Machst du Nina-Nina?“ Und es erhielt einen Namen, es war nicht mehr furchtbar und namenlos. Es war ja nur etwas, das damit endete, dass Mutter kam.

 

Der Weg geht vorwärts

Das meint die Bibel mit dem Glauben, mit der Religion, mit dem Leben in Beziehung auf Gott, auf das Ganze, auf die Mitte. Das meint das Neue Testament mit Erlösung und Rechtfertigung, damit wir jenen Paradiesgarten wieder finden, damit wir neu in den Stand der Unschuld versetzt werden, nicht durch Rückgang in die Natur, sondern durch Eingang in den Tempel, in dem er die Lücke schliesst zwischen Sein und Sollen. Indem er die Lücke schliesst zwischen realisiertem Selbst und idealem Selbst.

 

 

Buchstabiertabelle für die gesuchte Erotik

Der Bann ist durchbrochen, das Nicht-Aussprechen, das trennt. Ich habe die Worte gesagt, so kam das Tun von selbst. Die Lähmung ist vorbei.

Ich wusste und spürte: „Sie geht nicht weg, wir sind zusammen. Egal wie es wird.“ So wurde die Welt mir freundlich. Die Wirklichkeit umgab mich und hielt mich fest.

 

„Erotik“ – die Erneuerung der Unschuld. Dasein dürfen. Erlaubnis haben. Auch die Kinder spüren es und werden ruhig. Zuspruch. Auf den Fluss gehen und sich dem Fluss überlassen. Sich tragen lassen. In die Sonne treten, ins Licht, unter Augen von freundlichen Menschen. In der Mitte der Welt.

Eintreten, sich hingeben, verschmelzen. Ermatten, froh und zufrieden. Mit der ganzen Welt, mit der ganzen Schöpfung befreundet sein.

 

Woher kommt das falsche Verhalten?

Falsche Dinge habe ich getan, wenn ich der Angst gefolgt bin. So sind Sachen entstanden, die ich gar nicht mir zurechne. Ich wäre von mir aus nicht auf die Idee gekommen. Ich meinte, ich müsse mittun, ich dachte ich müsse mich absichern und hab irgendetwas ausprobiert. Und doch habe ich sie getan.

 

Habe ich es verpasst in Nichtwissen und in jener typischen Form von Schuldig-Werden, wie ich es immer wieder erfahre im Leben? Wie die Figur bei Kafka, die im Vorbeigehen gedankenverloren an ein Tor klopft und so einen Rattenschwanz von Verhängnis auslöst. – Es gibt nicht nur die eine falsche Tat. Es gibt so etwas wie ein Verhängnis, das immer neue Taten zeugt. Man kann in einer Schieflage sein, und alles wird schief, was hier begonnen wird.

 

Als ich mit dem Velo durch die Stadt zur Post fahre, spüre ich, es ist etwas wie Gnade. Es ist eine Gnade, die ich viel elementarer denken muss. Ich brauche sie fürs blosse Da-Sein. Die Blicke verurteilen mich immer noch. Jemand blickt steinern geradeaus, als ich vorbeifahre. Mag sie mir nicht begegnen? Oder ist das Projektion?

 

 

Ich denke, wenn ich mir Erlaubnis nehmen kann, dann spüren es auch die andern. Die Nicht-Erlaubnis meines Lebens strahlt aus. Menschen in bestimmten Situationen spüren es, sie erstarren. Die Nicht-Erlaubnis steckt sie an wie ein Fieber, wie eine Grippe. Sie wehren das ab, indem sie wegsehen. Der böse Blick. Auch die Kinder leben unter dem Bann der Nicht-Erlaubnis.

 

Körpergefühle – aber „falsche“

Welche Haltung vermittle ich meinen Kindern? Was verkörpere ich für sie? „Man hat nichts Schönes zu erwarten. Man muss froh sein, es unbeschadet hinter sich zu bringen.“ – Das ist mein Lebensgefühl, mit dem ich aufwache, bevor ich es beschwatzt habe. Das ist der Ungläubige, der Heide, der immer noch in mir steckt.

 

Das Evangelium ist immer noch nicht bis in meinen Körper vorgedrungen. Der Schreck sitzt mir immer noch in den Knochen. Die Angst hockt mir im Nacken. Der Schmetterling im Bauch, das Zittern in den Knien. Ganze Provinzen wären da noch zu missionieren. Ganzen Landstrichen wäre die Botschaft zu verkündigen. Aber „das Evangelium hat Halt gemacht in Eboli.“

 

Das Erschrecken vor den Menschen

Ich erinnere mich an mein Erschrecken vor Menschen, wenn sie sich zusammenrotten. Die Unberechenbarkeit, wenn die Verantwortung des Einzelnen ausfällt, seine Gewissens-Steuerung, seine Ansprechbarkeit, die Appellmöglichkeit an sein Gewissen, seine Verhaltenskontrolle. Und wenn die Dynamik der Gruppe das Verhalten bestimmt. Das grölende Bejahen des Grenzübertritts, das rauschhafte Begehen der Übel, die das Gewissen verbietet, die Seligkeit des Aufgehobenseins in einem „Gruppen-Ja“, auch wenn alle Verbotslinien übertreten werden – und gerade darum die Seligkeit.

Der Schreck über die Menschen ist in mich eingebrannt. Das macht das Misstrauen aus, die Angst-Gefühle, wenn ich zu sehr im Zentrum stehe und wahrgenommen werde. Ich kann es mir aufgrund dieser Erfahrungen nur vorstellen als Wahrgenommen-Werden zum Ziel.

 

 

Ist die Welt ein finsteres Loch?

Was ist gut, was böse? Was ist Unglück und Glück? Warum gibt es Leid? Woher die Lust am Quälen? – Kann der Mensch sich ändern? Gibt es Heilung? Gibt es ein Ankommen am Ende eines Lebens? Aus eigenem Tun? Oder durch Erlösung?

Ist die Welt ein finsteres Loch, das nicht zu retten ist. Vielleicht dass es eine Rettung „aus der“ Welt gäbe, aber nicht eine Rettung „der“ Welt. Dann ist alles Heil individuell… (Und wir sind wieder bei diesen gnostisierenden Sektierern mit ihrem arroganten Elitarismus.)

 

Die Schönheit wird missbraucht

Am liebsten würde ich jetzt, so empfinde ich es beim Aufwachen, nicht „tun“, nicht rennen – sondern mich der Schönheit ergeben, mich verlieren.

Doch ist das vielleicht nur eine Flucht, ein Missbrauch der kontemplativen Stimmung, so wie ich in meinen „Abstürzen“ in eine Quasi-Erotik geflohen bin. Das aus sich selbst herausgetretene Kind erlebt die Ekstase, das Ausser-Sich-Sein. Es verliert sich im Schauen. Es kippt hinüber, vereinigt sich mit dem Geschauten. Alles ist gleichwertig, alles ist schön, auch das Hässlichste. Nichts tut mehr weh, alles ist schön…

 

Die Kinder- und Enkel der Traumatisierten

Aber die biographisch begründeten Katastrophen-Ängste sind auch durch die grosse Geschichte entstanden. Es sind nicht nur Projektionen. Es stammt nicht alles aus einem privaten Abfallsack, der über einer unbescholtenen Allgemeinheit ausgeleert würde.

 

Das Trauma von zwei Weltkriegen, von Terror und Totalitarismus, von Shoa und Völkermord, von Grausamkeiten unvorstellbarer Art wird von diesen Nachrichten berührt und entlässt Gespenster aus der Unterwelt, wo sie lange eingesperrt waren, im vergeblichen Versuch, sie zu verdrängen.

 

 

Da ist die Hoffnung, dass es eine neue Heilszeit geben wird. Aber wir überwintern, bis diese eintritt. Das ist Aushalten in schlechter Zeit, wo das Leben nicht gelebt werden kann, wie es nach seinem Vollsinn gemeint ist. Wo wir zwar symbolisch teilhaben am Ganzen, wo diese Teilhabe aber nicht real erlebt wird, höchstens in Teilen, in Momenten. Da wandeln sich die Elemente auf dem Altar, aber die Wandlung greift nie auf die Welt über – wie ein Feuer, das um sich greift, damit diese lebensfreundlicher werde.

 

Der Spott richtet sich verzweifelt auch gegen den eigenen Glauben, der sich verblenden liess, in dieser Welt noch an etwas Gutes zu glauben. Aber jetzt streckt man die Waffen angesichts dieser Demonstration der wahren Macht. „So ist es in dieser Welt! Dumm ist, wer etwas anderes glaubt.“ Der Spott ist eine zynische Selbstdemontage und eine resignative Anpassung an das, was als Wirklichkeit der Welt wahrgenommen wird.

 

Der Weg der Seele in der Antike

Ich höre das Märchen von „Amor und Psyche“, es löst ein Nachdenken aus. Hier wird das Leben nicht nur zwischen Geburt und Tod betrachtet, sondern zwischen „Anfang von allem“ und „Vollendung“. Es schildert den „Weg der Seele“. Das erfordert eine „Geschichte von allem“.

Wenn „Seele“ der Ausdruck für den Anteil am Absoluten ist – dann führt der Weg der Seele über die Grenzen der Empirie hinaus, dann braucht es eine mythologische Redeweise.

 

Die Auskunft dieses Märchens:

Das Leben hat eine Lösung. – Nicht durch Machen, aber durch Nachfolge auf einem Weg. – Dieser führt wie die Bahn der Gestirne „hinauf“ und „hinab“. Wie diese mit zwingender Notwendigkeit. Auch das Hinab gehört dazu, das Dunkle ist ein Teil des Hinauf. „Psychisch“ gesprochen (nach dem Erleben der Psyche) muss auch das Dunkle zur Lösung beitragen.

 

 

Die Rolle der Liebe ist geklärt. Sie hat Bezug zum Weg. Aber nicht der Rausch ist der Heilsweg. Und die Verzweiflung verschmähter Liebe bedeutet nicht den Untergang.

Die Liebe ist nicht nur ein Empfinden der Psyche. In diesem Empfinden hat sie Zugang zu einer Kraft, die die obere und untere Welt beherrscht. Ihre Kraft zu verbinden und zu trennen, wird zum Bild für den kosmogonischen Prozess, durch den das Eine in das Viele strömt und das Viele in das Eine zurückkehrt.

 

Die Wirklichkeit ist kein „finsteres Loch“. „Gott liebt die Menschen.“ Die Wirklichkeit antwortet auf seine Intuitionen. Sie hat eine Asymmetrie zugunsten der Lösung. Die Welt hat ein Gefälle zum Glück. Es gibt „Erlösung“ – ein Ankommen auf dem Weg, das nicht aus dem Machen kommt, sondern aus dem Nachfolgen auf einem Weg.

Da werden die Gäste mit Gott zu Tische sitzen. „Alle“ sind dabei, weil Gott sie sucht. Gott tauscht die Trauergewänder gegen Hochzeitsgewänder. Und es wird Hochzeit gefeiert.

 

Die Verwandlung auf dem Weg

Im Erleben der Liebe haben wir Teil an diesem Weg. Im Festhalten an der Liebe finden wir den rechten Weg. Sie weist den Weg im Labyrinth zum Zentrum und wieder zurück zum Ausgang. Sie führt im kosmogonischen Lauf von Werden und Vergehen zum Zentrum und wieder zurück zu „Auferstehung“ und neuer Schöpfung. Sie verwandelt auch uns und führt uns auf dem Weg.

 

Die Reise in die Unterwelt

Die dritte Aufgabe, die Psyche lösen muss, betrifft den Tod und das scheint nicht unsere Lebensaufgabe zu sein. Doch gibt es auch zu Lebzeiten Seelenreisen in die Unterwelt – im Traum, in psychedelischen Erlebnissen, in krankhaften Durchbrüchen nicht-bewusster Erfahrungen, als psychische Reaktion bei traumatischer Verletzung, als Wiederbelebung perinataler Erfahrung in bestimmten Situationen…

 

 

Es ist ein häufiges Motiv in antiken Sagen und Mythen. (Platon hat es als Erkenntnisweg der Vernunft rekonstruiert, die zu Lebzeiten den dialektischen Baum hinauf und hinunter klettert, auch wenn sie dabei auf ein Vorwissen zurückgreift, das Platon mythologisch durch ein Vorleben der Seele erklärt.).

Es geht nicht ohne diese „Reisen“, denn dort geht es um die Unsterblichkeit, um das „Wassers des Lebens“. Das ist das Ziel dieser Aufgaben.

 

Wir brauchen schon zu Lebzeiten Zugang zum „Wasser des Lebens“. Darum das Wasser, die Äpfel und was in den Märchen als Varianten zu den drei Aufgaben der Psyche immer aufgezählt wird. Es geht um das Manna und das Wasser in der Wüste: das Abendmahl. Es geht darum, dass wir Anschluss finden an die Quelle des Lebens. Nur so finden wir immer wieder neue Kraft auf dem Weg.

 

 

Das alles ist für die Zeitgenossen verstellt bis zur Abwehr: „Es wird mir eng, wenn ich mir das nur schon vorstelle.“

Was Sakramente meinen, muss neu gedacht und gefühlt werden.

 

 

Die antike Seelenreise endet am „Tisch der Götter“, wo die Sterblichen den „Kelch des Heils“ trinken. Damit tauchen die Sakramente auf: sinnliche Zeichen, die etwas Geistiges ausdrücken, körperliche Symbole, die eine Heilserfahrung vermitteln. Der Körper scheint geeignet, das, was der Geist meint, in sinnliches Erfahren umzusetzen. So steht er auch in Bezug zum „Eros“, was beim ersten Hören vielleicht skandalös wirken mag.

Die Feier der christlichen Sakramente hat sich weit von solchen Ursprüngen entfernt. Die antiken Mysterien-Feiern zeigen einen Umgang mit solchen Symbol-Handlungen, der auf einem langen Erfahrungsweg verfeinert und vertieft worden ist. Er kann Anregung geben für eine neue Sakramenten-Praxis auch in der Kirche.

 

 

Zu dumm zum Leben

Beim Zähneputzen habe ich das Gefühl, ich mache falsch, was man in einem Leben überhaupt nur falsch machen kann. Man könnte mein Leben als Beispiel aufstellen, wie man es nicht machen soll. Es zeigt, wie man bei jeder Probe untergeht.

 

Morgen ist der Todestag meines Vaters. Bald bin ich 60. – Was ist das, ein Leben? Mein Leben? Was wird es sein, wenn es fertig ist? Habe ich nicht vieles schon vertan und verpasst? Hinterher gibt es vielleicht so etwas wie eine rote Linie in meinem Leben. Aber das war nichts, dem ich bewusst gefolgt wäre. Hätte ich dem folgen können, wenn ich es früher gewusst hätte?

 

Eros und Glaube

Eros ist ein Stichwort für meine persönliche Entwicklung. Es meint nicht nur die Sexualität, sondern die ganze Lebendigkeit, die bei mir in der Kindheit „eingefroren“ war. Es meint eine Unbefangenheit, eine Erlaubnis zum Dasein, die bei mir immer wieder aufgehoben scheint und die ich auch meinen Kindern nicht vermitteln kann, was mich besonders schmerzt. Darum ist es auch ein Stichwort in meinem Nachdenken zum Glauben. Im Glauben will ich wieder neu vertrauen lernen.

 

Der Glaube stösst immer wieder auf Hindernisse. Er kann das Verhalten nicht gestalten, alte Erlebnisse haben den Handlungsraum schon vorbereitet, so dass der Glaubende immer wieder seine alte Welt reproduziert. Die Angst sitzt ihm noch im Nacken, der Schreck in allen Knochen… Der Nacken müsste missioniert werden, die Knochen müssten das Evangelium hören.

Wenn Körper und Geist versöhnt werden könnten, würde nicht nur das Hindernis beseitigt, der Körper könnte sogar „Geschäftsführer“ des Glaubens werden: Statt ihm zuwider zu handeln, könnte er in seinem Sinn tätig werden und all die Ressourcen, über die nur er verfügt, in diesen Dienst stellen!

 

 

Das Verhalten ändern?

Im Hintergrund all dieser Suchwege steht die grosse Frage: Wie man den „Weg“ gehen kann, was die Kraftquellen sind, die dabei helfen.

 

Die Diskussion um das Mutterkorn kann zwar von modernen Erfahrungen her (Experimente mit LSD) plausibel machen, wie man tiefe Seelenbereiche ansprechen kann. Die interessantere Frage ist aber, wie dieses Erlebnis nachher transformiert werden kann in Alltagshandeln.

 

Dabei helfen die unschuldigen Beimengungen des antiken Mythos vielleicht mehr als das Mutterkorn. Und die Frage, ob die äusseren Elemente der Sakramente, Brot und Wein, vielleicht wirkmächtige Substanzen enthielten, die wir heute vermissen und wieder finden sollten, führt am Ziel vorbei.

Ich kann gegen aussen nicht auftreten, weil ich mich irgendwo tief in mir für unwert halte. So mag ich mich nicht zeigen, es erfüllt mich mit Scham, mit einer tiefen, existentiellen Scham, die nicht nur an einem Tun hängt, sondern an meinem ganzen So-Sein. Dieser Scham kann ich nur entgehen, wenn ich „anders“ werde.

 

Vieles in der Arbeit kann ich „machen“, in immer neuen Versuchen und Anläufen. Aber die Befreiung von der Scham – das ist ein Stück „Seelenweg“. Ich gehe ihn unbewusst. Im Traum kann ich einen Zipfel davon erhaschen. Dieser „Seelenweg“ ist keine Karte, die ich bewusst abschreiten könnte. Aber es gibt mir doch Vertrauen, es stillt meine Verzweiflung, indem es mir sagt: Das Schiff ist unterwegs, und es ist auf gutem Kurs.

 

Einen mythologischen Weg „real“ abschreiten

So ist die Nachfolge jene gesuchte Art des Handelns, das weder ein blosses Machen ist noch ein untätiges Warten, bis das Neue, sich von selbst einstellt. Nachfolge ist ein Tun, das nicht auf die eigene Kraft vertraut. Es ist nicht ein blosses Geschehenlassen, weil hier nur Gott helfen kann.

 

 

Es ist Nachfolge auf dem Weg Gottes, den er gebahnt hat und auf dem er gegenwärtig ist. Es ist der Weg, der auch durch solche Wandlungen führt, die wir nicht selber verantworten können, so wie Geburt und Tod, weil hier die Grundlagen unseres Seins selbst verändert werden.

 

Der „Weg des Helden“ ist eine Rekonstruktion der antiken Seelenlehre, die über Hollywood stark in die Populärkultur einwirkt. Der Mythenforscher Josef Campbell beschreibt den Archetyp des „Helden“. In seinem Weg und in den Aufgaben, die sich stellen, wirkt vieles aus der antiken Seelenreise nach. Wie in der Seelenreise macht er für die Fahrt durch die Elemente eine „Metamorphose“ durch. Diese Wandlung ist hier das Zentrale, denn hier geschieht Reifung, Integration, Befähigung, die Aufgaben zu lösen, indem Elemente aus „unteren Sphären“ heraufgeholt und integriert werden.

 

Herabfallen vom Weg und die Antwort

Darüber darf man nicht zu harmlos nachdenken. – Was „Busse“ meint, kann man nicht verstehen ohne die Erfahrung einer zu Tode erschrocken Seele. Das meint „Reinigung“: sich wieder unschuldig fühlen dürfen, einen neuen Anfang machen dürfen, ohne die Zentnerlast der Vorwürfe an sich selbst, ohne das bittere Gefühl, aus eigener Schuld alles verdorben zu haben, ohne diese Bitterkeit im Leben, die nicht mehr mit etwas Gutem rechnet, die nicht mehr hoffen kann, dass es noch gut wird mit dem eigenen Leben!

 

Ich fühlte mich im Innersten erkannt, in dem, was mich beschäftigt. Ich wusste es selbst nicht, bis ich es sah. Wie finster meine Gedanken waren, sah ich erst in der Antwort, die Gott mir gab. Und diese ist überraschend, völlig anders, überwältigend: dass es gut kommt, dass der Fluss der Ereignisse nicht einfach in seinem Bette läuft. Dass es etwas ganz anderes gibt, eine Kraft, mit der ich nicht gerechnet habe und niemand von uns. Er vertreibt die Wolken, hebt die Finsternis auf und setzt ein Zeichen in den Himmel …

 

 

Das Wilde kultivieren

Ich habe durch dieses Tagebuch eine Sicht von aussen auf mich gewonnen. Ich habe Mechanismen durchschaut, die mich vordergründig leiden machen, die aber hintergründig von mir gewollt sind. Hinter der scheinbaren Ohnmacht der Psyche taucht ihre Macht auf. Sie setzt die Ohnmacht ein, um noch Schlimmeres abzuwenden.

 

Erotik“ wird missbraucht, um die Angst vor Verlassenheit zu überdecken. Als Kind schon habe ich gelernt, „aus dem Körper zu fliehen“. Hier wird das Schöne missbraucht. Kontemplation geschieht naturwüchsig, wie ein Angstabwehr-Mechanismus. Eine ähnliche Funktion haben Suizid-Gedanken, die mir eine letzte Ausweich-Möglichkeit vorgaukeln. Sie verhindern aber eine wirklich „Einwohnung“ ins Leben. Ich muss damit besser zu Rande kommen. Vielleicht hilft es mir, das bewusster zu machen.

 

Religion, so scheint es, hat einen bewussten Umgang mit diesen Dingen entwickelt, die bei mir unwillkürlich durchbrechen. Ist da ein Weg, auch diese im Körper verankerten Verhaltensweisen aufzubrechen?

Religion gibt Meditation – statt wilder Kontemplation, Begeisterung – statt wilder Ekstase. In ihr lebt die Sehnsucht nach „Mehr“ in den religiösen Bildern einer langen Tradition – statt in privaten Suchtwegen. Sie kennt diese Erfahrungen: wie ich an einem „Ganzen“ teilhabe, wie ich mich in die „Mitte“ stellen kann, wie ich Freude erfahre im Gebet – statt diesem reaktiven Aus-der-Welt-Gleiten und Hinüber-Träumen.

 

An der Quelle

So lernen wir leben, dass auch unsere Kinder die lebenszugewandte Seite der Welt kennenlernen und diese Welt mehr und mehr bebauen können – als Ort des Lebens, nicht des Todes, aus dem man nur fliehen kann, um ihn erträglich zu machen. So ist das Sakrament etwas, das Gott den Menschen schenkt an einem Schöpfungstag, damit seine Schöpfung weitergehen möge. Es ist der Schöpfer selbst, der sich zu uns kehrt. Der in uns eingeht und Kraft schenkt, der uns spüren lässt, dass wir angeschlossen sind an die Quelle des Lebens.

 

 

Auf das „Spüren“ kommt es an. Denn die Gegenposition hat den Körper schon besetzt. So gibt es keinen Sieg über den Unglauben, es sei denn über den Köper. Die „Mission“ kommt immer schon zu spät. Denn die Kinder sind im Mutterleib schon geimpft mit höllischen Empfindungen. So muss das Sakrament lernen, in diese Tiefe hinabzusteigen.

 

Der Traum bringt es zur Erkenntnis: Es ist etwas wie eine tiefe Solidarität, die alles Lebendige verbindet. Sie ist vor aller Leistung, vor allem Bemühen, etwas darzustellen. Da ist etwas, aus dem ersten Ursprung, das alle verbindet, die da sind. Und es ist voller Wärme und Verbundenheit. Wer darauf hört, versteht die Bäume. Er lernt die Sprache der Tiere, und der Himmel spricht zu ihm. Ich aber fliehe noch vor ihnen. Halte sie für die alten Dämonen. Verstecke mich und hoffe, dass sie dort nicht hinkommen.

 

Das ist mehr, als ich zu hoffen wagte. Ich dachte lange Zeit, ich würde hier zugrunde gehen. Dass es sich so gut entwickeln könnte, dachte ich gar nicht, als ich das Sabbatical begann.

 

 

Beim Schwellenbaum

Holunderbaum

 

Der Holunderbaum soll vor Blitzeinschlägen schützen und wurde gern bei Höfen und Scheunen gepflanzt. Der Esoterik gilt er als Schutzbaum überhaupt und als Schwellenbaum beim Übertritt in die «Anderswelt». Der Holunder sei der Göttin Holda geweiht, der Göttin des Lebens und Todes und der Unterwelt. Von ihr handle das Märchen Frau Holle.

 

Pharmakologische Sakramente?

Blüten und Früchte können genossen werden. Vergoren entwickelt sich im Holundersaft Alkohol, dieser wirkt «psychotrop». Wegen solcher Wirkungen spielen Speisen und Getränke auch eine Rolle in der Drogenkultur. Hinter den modernen synthetischen Substanzen stehen Gewächse, die in den langen Zeiträumen einer agrarischen Kultur bewusst genutzt wurden.

 

 

Als Verunreinigungen riefen sie aber auch Vergiftungen hervor, die sich epidemieartig ausweiten konnten. [82] Gern erzählt wird die Geschichte vom Mutterkorn, das als Pilz auf Getreide vorkommt, und seinem Wirkstoff LSD: wie der Schweizer Chemiker Albert Hofmann den Stoff 1943 synthetisierte und in Selbstversuchen seine psychotrope Wirkung entdeckte. [83]

 

Den Atem anhalten

Mit Drogen experimentierte auch der Psychologe Stanislav Grof. Er beschränkte sich dann aber auf Atemtechnik, mit der er die gesuchte Wirkung ebenfalls erzielen konnte. Den Atem anhalten, sich totstellen – solche Reaktionen gibt es aber auch unwillkürlich, schon in früher Kindheit. Auch Traumata und die eingeübte Abwehr-Haltung können das Bewusstsein verändern. In späteren Phasen erscheinen diese Menschen oft als «Träumer», die sich aus der Situation «wegträumen». Der Wechsel in einen kontemplativen Bewusstseinszustand macht subjektiv unangreifbar. Angst und Schmerz sind verschwunden, man scheint über dem Leben zu stehen (bis zum Erlebnis, als ob man über sich schwebte und auf sich hinunterschauen könnte).

 

Jenseits und Diesseits

Diese Menschen sind bekannt mit der «Anderswelt», sie leben in solchen Momenten nicht diesseits, nicht jenseits, es ist ein Hin und Her auf der Grenze, ein Hinüberschweben und Zurückkommen. Hinter vielen Schwierigkeiten, die sie auf Grund ihrer Disposition im Leben antreffen, spüren sie die Aufgabe, erst einmal geboren zu werden und Platz zu nehmen in ihrem Körper und in der Welt.

 

 

Dabei kann auch die Religion helfen, diese ist nicht nur auf das «Jenseits» abonniert:

„Religion ist ein Hin und Her auf der Grenze von Geborenwerden und Sterben, das sich in diesem Grenzverkehr auskennt und das Wissen nicht benutzt für die Flucht aus dem unerträglichen Alltag, sondern als Ausflug, als Ausblick, als Reservat, aus dem ich mit neuer Kraft ins Leben zurückfinden kann und meinen Weg hier gehen.“ [84]

„Religion so scheint es, hat einen bewussten Umgang mit diesen Dingen entwickelt. Religion gibt Meditation – statt wilder Kontemplation, Begeisterung – statt wilder Ekstase. In ihr lebt die Sehnsucht nach „Mehr“ in den religiösen Bildern einer langen Tradition – statt in privaten Suchtwegen. Sie kennt diese Erfahrungen: wie ich an einem „Ganzen“ teilhabe, wie ich mich in die „Mitte“ stellen kann, wie ich Freude erfahre im Gebet – statt diesem reaktiven Aus-der-Welt-Gleiten und Hinüber-Träumen.“ [85]

 

Unter dem Holunderbaum

So setze ich mich gern unter einen Holunderbaum, Ich geniesse den Saft, vergoren oder unvergoren, und den Gelée und freue mich an seinen weissen Blüten, die dem Frühsommer das Gepräge geben. Und ich geniesse das Paradies, das der Glaube mir aufschliesst. Hier gibt es neue Unschuld wie in der Anfangszeit, als das Sein noch nicht verdorben war (ich finde sie in der Vergebung). Ich freue mich über den neuen Anfang, den diese möglich macht, als ob die Utopie Wirklichkeit geworden wäre. Und ich freue mich jetzt schon auf das «Ankommen» am Ende meines Weges, weil ich mich hineinstellen darf in das Bild des Ganzen, wie der Glaube es zeigt.

 

 

Nachweis der Texte

 

Nach 20 Jahren Pfarramt habe ich die beruflichen und privaten Notizen durchgesehen und eine Auswahl in einigen Manuskripten zusammengefasst. Sie zeigen die Entwicklung der Glaubensfragen in dieser Zeit. Das zwölfte Buch «Im Innern des Wals. Was Jona sah und erlebte, als er zum Grund des Meeres reiste. Ein Längsschnitt durch die Notizen» ist 2022 im Druck erschienen.

Das Buch «Eros und Sakramente» ist eine Auswahl aus dem achten Buch (mit Notizen aus dem Sabbatical 2007). Weitere Bände werden folgen.

 

Die Notizen:

  1. Wie ich den Unglauben lernte und andere Notizen, 1983 – 1991.
  2. Geborenwerden, wachsen und reifen, Notizen 1992 – 1998.
  3. Das Furchtbare und das Schöne, Notizen 1998 – 1999.
  4. Katastrophen und Wendepunkte, der Weg ins neue Millennium, Notizen 2000-2002.
  5. Heulen, Zähneklappern und Himmelfahrt – Für eine Rückgewinnung des mythologischen Erzählens in der reformierten Kirche, Notizen 2003.
  6. Die Hälfte meines Pfarramtes. Die Mitte meines Pfarramtes, Notizen 2004-2005.
  7. Der innere Altar, Notizen 2006 – März 2007.
  8. Chaos. Kosmos. Das Sakrament, Notizen aus dem Sabbatical, April – August 2007.
  9. Mission impossible – Die unmögliche Aufgabe, deren Lösung eine Kultur begründet, Notizen September 2007 bis Ende 2008.
  10. Die Texte «Versunkene Kathedrale» (zur Archäologie religiöser Empfindungen) sind als «Streiflicht» in meinem Blog «vongotterzaehlen» veröffentlicht.
  11. 36 Ansichten vom Berg Fuji. Notizen 2009.
  12. Im Innern des Wals. Was Jona sah und erlebte, als er zum Grund des Meeres reiste. Ein Längsschnitt durch die Notizen. 2022 im Druck erschienen.
  13. Das Hingabe-Verbot, Notizen 2010.
  14. Der starke Gott, Notizen 2011. Der Anhang „Rollenprosa und Propheten, Nachdenken über Rolle und Risiko im Pfarrberuf» ist auch als Broschüre erschienen.

 

 

  1. Der leidenschaftliche Gott. Notizen 2012. Dazu gehört das Büchlein „Das halbierte Evangelium“.
  2. Bruchstücke – es ist eine Lust zu leben! Notizen 2013. Die Texte zur Apokalyptik sind als Streiflicht meines Blogs «vongotterzaehlen» veröffentlicht.
  3. Von Gott erzählen. Auszug aus den Notizen 2014. (Nach 20 Jahren Pfarramt)
  4. Broschüren: Gott gesucht (auf der Suche nach dem Glauben). – Unser Glaube, nach den Glasfenstern der Kirche Ambach. – Du bist schön! (Texte zum Kirchenjahr). – Mit dem Knie glauben (zur Körperspiritualität). – Müssten wir nicht können, was wir sollen? (Autonomie und Glaube). – Nur eine Katze (die Solidarität alles Lebendigen). – Und aus Abend und Morgen ward der sechste Tag (Texte zur Lebensbilanz).

 

Ausführliches Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis

Vorwort 5

„Säb Land“ 8

„Ich bin hässlich und lebe gern!“ 12

In der Passionszeit 12

Nach Ostern. 14

Don Juan als Mysterienspiel 14

Die Liebe, die mich rettet 17

Von Insel zu Insel 21

Lebensfreude und neue Unschuld. 21

„Was bisher geschah“ 24

Die Suche nach dem Paradies. 28

Neue Unschuld. 29

Verlust und Rückkehr ins Paradies. 29

Der Bann ist gebrochen. 31

Das Lebensgefühl beim Aufwachen. 32

Die Abschaffung der Angst 32

Warten auf die Katastrophe. 37

Aushalten in schlechter Zeit 39

Der „Schatz“ als Unterpfand einer neuen Heilszeit 39

Über die letzte Grenze. 41

Ein grösseres Bild von Wirklichkeit 42

Himmel- und Höllenfahrt in Antike und Moderne. 44

Die Sehnsucht nach einer Neuen Mythologie. 49

Die Liebe kommt ins Spiel 52

Die Antwort des Märchens. 54

Die Quelle des Lebens. 55

Ausblick auf die Sakramente. 58

Zu dumm für das Leben. 59

Studien in Scham.. 60

Mysterien und Sakramente. 62

Suchwege in dieser Zeit 62

Die Sakramente. 64

Der Körper 67

Eine Zusammenfassung. 67

Erinnerung vermittelt Kompetenzen. 71

Drogen als Mittel zur Seelenreise?. 74

Handeln wo man nichts machen kann. 75

Das Ursakrament 80

Ein Bericht 82

Mitte des Sabbaticals. 84

Der Berg. 85

Der „Weg der Seele“ in einer bürgerlichen Biographie. 87

Herabfallen vom Weg. 89

Das Sakrament als Rückkehr-Hilfe. 89

Katastrophen-Angst 94

Weltfremd. 99

Das Widerfahrnis und seine Kultivierung in Religion. 101

Dornröschen und der 100-jährige Schlaf 102

Weltflucht oder Verwirklichung des wahren Lebens?. 104

Auf der Grenze – Flucht oder Weg ins Leben?. 105

Die nächtliche Katze und die Engel im Körper 106

Das Sakrament der Liebe. 106

Das Sabbatical geht zu Ende. 110

Lebenswege…… 110

… Weg des Lebens?. 111

„Du liebst alles, was ist.“ 116

Wieder ins Reine kommen. 117

Mit dem Knie glauben. 120

«Säb Land» – was ist jetzt mit dem Paradies?. 126

Rückblick. 128

Das Buch als Erlebnisreise. 128

Beim Schwellenbaum.. 145

Nachweis der Texte. 148

Ausführliches Inhaltsverzeichnis. 149

 

 

Der Autor

Peter Winiger, geb. 1949, Konditor. Abitur über Fernkurse. Breit gefächertes Studium. Abschluss in Schweizer Geschichte, Sozialökonomie und Staatsrecht. Journalist, Bundeshausredaktor (Berichterstattung aus Parlament und Regierung). Reise auf unbestimmte Zeit ins Ausland. Seminar bei Jürgen Habermas. Zweitstudium in Theologie. 20 Jahre Pfarrer einer reformierten Kirche. Verheiratet mit einer Katholikin, zwei Kinder und eine Enkelin.

 

Aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes sind die Namen verändert.

 

Titelbild

Mit einem Foto von Liana Horodetska von Pexels

Copyright

Peter Winiger, Grampenweg 33, CH 8180 Bülach

[1] Dieser Text ist ein Auszug aus dem Buch: «Eros. Chaos. Kosmos. Das Sakrament.»

[2] Das Sakrament der «Busse», das hier neben Taufe und Abendmahl betrachtet wird.

[3] «Jenes Land»

[4] «Da, da ist jenes Land!»

[5] Wie der Evangelist Lukas im Evangelium anfügt. Als Arzt ist er gewohnt, die Medikamente „täglich“ zu verordnen. Und so fügt er der Stelle bei, dass das Kreuz wie ein Medikament „täglich“ zu tragen sei. Und es ist tatsächlich eine Hilfe, denn so erhält die Frage einen Sinn. Es kriegt eine Perspektive, es dient zu etwas, es ist Nachfolge auf dem Weg. Es führt wohl hinab bis ins Grab, durch den Spott am Kreuz, aber es führt auch hinauf. Es ist der Weg, der durch alles hindurchführt.

 

[6] Die Konfirmandinnen und Konfirmanden danken in der Feier ihren Eltern und Paten und empfangen ihren Segen für den Weg.

[7] Beatrix Müller-Kampel, Mythos Don Juan, Leipzig 1999. – Ich zitiere aus meinen Lesenotizen.

[8] Der Konflikt wird „gelöst“ durch Säkularisierung des metaphysisch «Guten» als soziales «Über-Ich». Dessen Geltung wird relativiert und auf eine Funktion begrenzt. Der höchste Wert ist „das Leben“, dem alles funktional zudienen muss. Mit dem Begriff des richtigen Lebens» ist auch die «Sünde» aufgehoben. (Mit dieser Lösung ist die andere Gross-Erfahrung, der Tod, nicht mehr aufzuheben. Darum fürchtet die erotisierte Gesellschaft den Tod).

[9] Aus dem Jesus Christus-Tagebuch, vgl. dazu Suchwege I

 

[10] Vgl. die Abbildung im Kapitel «Mitte des Sabbaticals»

[11] Wikipedia: „Wunderbarer Tausch (lat. admirabile commercium) oder auch fröhlicher Wechsel (Luther) ist eine theologische Beschreibung für das Erlösungsgeschehen. … Jesus Christus, der ewige Sohn Gottes, entäussert sich der göttlichen Herrlichkeit und nimmt in der Welt der Sünde Sklavengestalt an, damit der von der Sünde versklavte Mensch zur göttlichen Herrlichkeit gelangt. Christus macht sich zum „Preis“ in einem Tauschhandel und vertauscht dabei das eigene Sein mit dem des Sünders.

[12] Vgl. die Andacht zum wunderbaren Tausch, Advent 2007

[13] Es sind drei Wege und drei Bewusstseinsformen: Handlungs-Bewusstsein / Such- und Finde-Wege / Heilen und neue Unschuld.

[14] Unten sind auch Sätze aus Textabschnitten eingefügt, die ursprünglich in diesen Notizen stehen, aber in diesem Auszug weggelassen wurden.

[15] Vgl. den Tauftraum: „Ein innerer Friede, und ich kann, was ich soll.“

 

[16] „Wiedereinsetzung in den Stand der Unschuld“ – das ist nach der Mythologie nichts anderes als die Rückkehr ins Paradies, wo die Unschuld verloren wurde.

[17] Das Buch handelt von einem Ort, wo sich die Einwohner aufgegeben haben, weil alle, die sich etwas zutrauen, den Ort verlassen, um etwas aus ihrem Leben zu machen. „Wir sind keine Christen“ sagen sie, „Christus ist nur bis Eboli gekommen.“ (Wikipedia)

 

[18] „Die Macht des Zufalls. Vom Umgang mit dem Risiko“ im „Tages Anzeiger“ vom heutigen Tag

[19] Die drei traditionellen Geltungsansprüche der abendländischen Philosophie von wahr, gut und schön werden eingelöst in je einem spezifischen Diskurs (Theorie, Praxis, Ästhetik). Dieser Diskurs um wahr und falsch etc., setzt eine Auslegung voraus, was „Welt“ sei, was überhaupt Gegenstand der Erkenntnis werden kann. Es ist der mythologische Grenzdiskurs, der das Vorhandensein der Welt „erzählt“ und die Spielregeln des Diskurses setzt. Das kann nur erzählt und nicht nach den Regeln des untergeordneten Diskurses als wahr oder falsch erwiesen werden.

[20] Der Name Baruch taucht in der Bibel mehrfach auf, immer in schwerer Zeit. Der historische Baruch aus dem 6. Jahrhundert vor Christus begleitet den Propheten Jeremia. Es ist die Zeit des Exils, als viele aus Juda nach Babylon verschleppt werden. Es ist die Zeit, als Volk und Vaterland verloren gingen. Der Tempel wurde geschleift und geschändet, die Geräte nach Babylon entführt. –

Als Babylon untergeht, als ihr Reich von den Persern erobert wird, können die Exilierten nachhause zurückkehren. Eine neue Stadt, ein neuer Tempel wird gebaut.

Doch 70 n. Chr. wird auch dieser Tempel zerstört. Nach dem Bar-Kochba-Aufstand 132-135 n. Chr. zerstreuen die Römer das Volk in die Diaspora. Das Unglück scheint sich zu wiederholen. Ein Zeitgenosse schlüpft in die Gestalt des Baruch und deutet es nach dem Muster der ersten Katastrophe.

 

[21] Abendmahls-Kelch

[22] „Lügen-Schrift“, unter Verwendung eines historischen Namens verfasst.

[23] In einer Grabrede steht man schnell an diesem Punkt. Nach der Liste der Verdienste kommen all die Dinge, die das Leben ausmachen, die man aber nicht selber herstellt. Sie sind geschenkt, sie gehören zum „andern“. Sie bilden die condition humaine, mit der man sich in ein Verhältnis setzen muss. Und das besteht nicht in Herstellen und Kontrolle. Es hat zu tun mit Danken und Feiern.

[24] Vgl. die Metamorphosen Ovids. Die himmlische Herkunft bzw. die Vergöttlichung am Schluss des Weges – das überschreitet die Grenzen der Empirie.

 

[25] Zum Folgenden vgl. 5. Buch, „Heulen, Zähneklappern und Himmelfahrt – Für eine Rückgewinnung des mythologischen Erzählens in die Reformierte Kirche“, Notizen 2003

[26] Der populäre „Sternenstaub“. Alle Atome in unserem Körper sind in einer bestimmten Phase des Universums entstanden: die Wasserstoff-Atome früh nach dem Urknall, die Eisen-Atome erst in der zweiten Sternen-Generation. So tragen wir alle „Sternenstaub“ in uns. –

Das ist eine populär-poetische Säkularisierungsform der alten Seelenlehre, wonach wir einen Anteil des Absoluten in uns tragen, so dass wir letztlich unverlierbar in der Wirklichkeit verankert sind. Aber die Seelenlehre ist gegenüber dieser physikalischen Ableitung dynamischer, dort ist es ein „Weg“, der auch die Freiheit des Menschen beansprucht. Dort gibt es Herkunft und Zukunft, Brücken und Gefahren, Glück und Gnade. Es gibt Helfer, die uns entgegen kommen… Es ist weniger eine Lehre als ein „Weg“, über den es nur ein „Wissen“ gibt, insoweit wir den Weg gehen.

 

[27] Vgl. Grof, Das Abenteuer der Selbstentdeckung, Reinbeck bei Hamburg, 4. Auflage, S.71

[28] Das buddhistische „tat twam asi“: „Das bist du!“

[29] Grof 70

 

[30] Diese Mischung von „Mythologie und Realismus“ steckt in jeder rationalistischen, idealistischen Philosophie. Der Idealismus sucht im 19. JH nach einer „neuen Mythologie“, die wissenschaftlich auf der Höhe der Zeit ist und die doch die Seele und das Gemüt anzusprechen vermag und die Auskunft gibt auf die grossen Fragen der Seele, welche in der alten Seelenlehre gegeben wird: Woher kommen wir? Wohin gehen wir? Gibt es Hilfen auf dem Weg?

So etwa in Hegels System, das noch einmal das kosmogonische Schema rekonstruiert. Der Auf- und Abstieg ist dort nicht nur eine spontane Tätigkeit von Verstand und Vernunft, wie bei Kant (weil der Mensch die Vielfalt der Erfahrungen unter Begriffe fassen will). Die Synthese geschieht „wirklich“ und die forschende Vernunft folgt nur den Verbindungsstellen, so wie Platons Metzger, der das Schwein an den Gelenkstellen teilt und mit dem analytischen Messer nur freilegt, was im Schwein schon objektiv vorhanden war.

Eine Sehnsucht nach einer solchen Neuen Mythologie gibt es auch heute, wo Wissenschaft und Lebensfragen des Menschen scheinbar unvermittelbar auseinanderklaffen. Unvermittelbar jedenfalls dort, wo der theoretische Standpunkt solche Lebensfragen prinzipiell ablehnt. Vgl. meine Notizen zur „Grossen Erzählung“ im 5. Buch, „Heulen, Zähneklappern und Himmelfahrt – Für eine Rückgewinnung des mythologischen Erzählens in die Reformierte Kirche“, Notizen 2003

[31] Ist das immer dasselbe Wesen: das Ei, die Raupe, die Puppe, der Falter? – Hier Identität zu behaupten ist ein grosser Schritt. Darum der Begriff der Wandlung, der Metamorphose, die in ihrem Begriff eine These enthält: die Behauptung einer Identität trotz der Veränderung.

 

Aber in der Metamorphose des Schmetterlings wird diese These anschaulich. Die Anschauung, das lebendige Vorbild, wirkt wie eine Art Analogiezauber des Denkens: Unwillkürlich überträgt man es auf andere Gegenstände und sucht nach Vor-Formen und Nach-Formen. Unwillkürlich muss man annehmen, dass sich dasselbe bewahrt, auch wenn die Form sich wandelt. Metaphysik-Kritiker werden hier einhaken und die Grenze der Erkenntnis anmahnen.

 

Andererseits entfaltet gerade die moderne Wissenschaft eine „grosse Erzählung“, die eine grandiose Metamorphose ist: die Entfaltung von „allem“ aus dem Urknall. Da ist die Synthese der physikalischen Stoffe in den Sternen, da ist die Evolution des Lebens. Da lässt sich ein Weg verfolgen, der von den ersten Atomen bis zu uns Menschen führt.

Die Sterne „sterben“, und werden neu geboren. Milchstrassen erscheinen und gehen in andern auf… Auch hier gibt es die Behauptung von der Identität des Verschiedenen, von der Bewahrung im Wandel. Nur wird die alte Seelenvorstellung abgelehnt, die alte Metaphysik, die nach dem Wesen fragt, welche aller Veränderung zugrunde liegt.

 

Atomphysik und Genetik entdecken das Bleibende heute ebenfalls im nicht-sichtbaren Bereich. Es ist ein materialistischer Nachklang auf die Metaphysik, wie der Fortschritts-Gedanke ein Nachfahre der Heilsgeschichte ist. Die Suche nach der „universellen Weltformel“ ist die rationalistische Variante, die Suche nach der Einheit in mathematischer Gestalt. Der Traum der Pythagoreer.

[32] Erzählung vom Entstehen der Welt.

[33] Sie erzählt nicht, sie sucht Prinzipien. Nur wo sie das Empirische überschreitet, nimmt sie Rekurs zu alten Mythen, wie z.B. Platon, wenn er sagt, dass wir die Ideen wiedererkennen, weil wir sie präexistent schon geschaut haben. Wie Kant, der in der Verteidigung gegen die Angriffe des Empirismus die Syntheseleistung der Vernunft hervorhebt und die alten Zentrallehren der Religion und des Seelenweges rekonstruiert als Postulate der praktischen Vernunft. Wir können darüber nichts wissen, aber sie sind denk- und lebensnotwendig.

 

[34] Vgl. 7. Buch, „Der innere Altar“, Notiz 8.10.2007

[35] „Me aschpot jearim aebjon“ – „aus dem Aschenhaufen erhebt er den Armen“, heisst es in Psalm 113,7 und im Lied der Hanna (1. Sam 2,8.) – „Ich tausche deine Trauerkleider gegen Freudenkleider“, sagt das Alte Testament. – Das neue Jerusalem kommt, geschmückt wie eine Braut, und Gott wird bei ihr wohnen, und sie werden einen neuen Bund eingehen. (Off. 21)

 

[36] So stellt Platon im „Phaidros“ den Weg der Seele dar. Die auf die Erde gefallene Seele kann sich beim Anblick einer irdischen Schönheit an die wahre Schönheit (das Gute, die „oberste“ Idee) erinnern. Sie sehnt sich nach jener Welt, so dass ihr Flügel wachsen. Sie wird beschwingt und möchte wie ein Vogel emporfliegen.

Vgl. die Federn in Amor und Psyche. Die Vögel gelten als Götterboten, ähnlich der Unke, der Kröte, die als Amphibium in beiden Welten lebt. Es ist ein Bild für die Seele und die erkennende Vernunft, die die Pyramide der idealen Welt hinauf- und hinabsteigt. Vgl. auch die Federn in den Kissen der Frau Holle, die zu schütteln sind…

 

[37] Wikipedia: Ambrosia (altgriechisch ἀμβροσία ambrosía, deutsch ‚Speise der Götter‘). Das Wort ist die feminine Form des Adjektivs ἀμβρόσιος, ἀμβροσία, ἀμβρόσιον, unsterblich. Es ist vor-urgriechisch aus dem die Verneinung anzeigenden Sonanten *n- (der im Griechischen zum α privativum, im Lateinischen zu in- und im Deutschen und Englischen zu un- wird) und der Wurzel *mrt– („Tod“, vgl. lat. mors) gebildet. Im Roman Der goldene Esel des Apuleius reicht Jupiter Psyche einen Becher mit Ambrosia mit den Worten: „Nimm, Psyche, und du sollst unsterblich sein!“ (6,23: Sume, Psyche, et immortalis esto!)

[38] Die Bibel drückt diese Gewissheit so aus: „Wir wissen aber, dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen, denen, die nach seinem Ratschluss berufen sind.“ (Römer 8,28)

[39] Dieser Frage geht der Abschnitt nach: Mysterien und Sakramente.

 

[40] Das Märchen „Der Teufel mit den drei goldenen Haaren“ ist davon abgeleitet.

 

[41] Vgl. die Zusammenfassung des Märchens Amor und Psyche im Anhang

[42] Vgl. Stanislaw Grof im 5. Buch: Heulen, Zähneklappern und Himmelfahrt – für eine Rückgewinnung des mythologischen Erzählens in der reformierten Kirche.

[43] Geist und Körper: Im folgenden Abschnitt liegt das Interesse auf dem Sakrament, auf dem sinnlichen Zeichen, das hilft, den Weg zu gehen. In antiken Einweihungsriten wurde es verwendet, um dem Getauften einen starken Körper-Eindruck zu verschaffen, der ihm auf dem Weg dank Körper-Erinnerung helfen soll. Das sinnliche Sakrament überschreitet die Kluft von geistiger Erkenntnis und sinnlichem Handeln. Es ist elementar für die Frage, wie ich kann, was ich soll, wie ich mein Leben richtig leben kann.

Eine andere Form, wie die antike Tradition in der neuen Zeit weiterlebt, sind die psychologischen Rekonstruktionen der Seelenreise. Vergleiche dazu im Anhang den Abschnitt «Mythologie in praktischer Absicht. Entwicklungspsychologie als Rekonstruktion des antiken Seelenwegs.» Dieser Anhang findet sich nicht in diesem Textauszug.

[44] Eindrücklich für mich ist die Lektüre des dritten und vierten Kapitels aus dem Johannes-Evangelium, das ich zunächst auf das Erste Testament hin lese, dann auf die griechische Umwelt. Vgl. die Lesenotizen: Jakobsbrunnen und Himmelsleiter in Johannes 3 und 4 vom 24.8.07.

[45] Das Märchen «Amor und Psyche» findet sich in der längeren Fassung dieses Buches, das hier nur in einem Auszug vorliegt, so auch der Abschnitt «Mysterien und Sakramente».

[46] Sinnlichkeit und Vergeistigung in der Feier der Antike. Ich streife in diesem Abschnitt das intellektuelle «Aufsteigen» von Platon und das «Herabholen» auf die Wahrheit des Körpers durch Aristophanes. Dieser gehört dazu, der Körper ist das andere Element im Sakrament. Beide zusammen erinnern an Jesus Christus. Und er ist: wahrer Mensch und wahrer Gott.

 

Ich bin auf der Suche nach dem „wirkmächtigen Sakrament“ im Gefolge der alten Kulte. Diese stiegen auf der Suche nach dem Heil nicht zuerst hinauf, sondern hinab. Die Fahrt hinauf führte zuerst hinab durch alle sinnlichen Elemente.

 

Dann beschäftige ich mich kurz mit Alexander Lowen, dem „Vater der Bioenergetik“, der schon in den 60er Jahren vom „Verrat am Körper“ sprach. Auf der Suche nach einem Lebensweg, der die traumatische Verkrümmung des Körpers wieder aufhebt, steuerte er klinische Erfahrungen bei. (Darüber hinaus ist es die Frage, wie man auch positive Körper-Erinnerungen für den Weg dienstbar macht.)

[47] Sie schaffen die Möglichkeit des Handelns. Es sind lebensweltliche Voraussetzungen für Willensfreiheit, es sind Institutionen der Sittlichkeit, die durch Gewöhnung einen „Charakter“ prägen.

[48] Die gesuchte Wirkung wird v. a. in die initiatio gesetzt, diese soll ein neues Verstehen auslösen, einen Wandel in Gang setzen, der nichts weniger ist als eine neue Geburt. Aber nicht nur die initiatio mit ihrer „Erschütterung“ ist wirksam, auch die ordinatio hat ihre Erfahrungs-Quellen, vgl. den traditionellen Begriff der Heiligung (es meint die Fortsetzung der Wandlung nach der Taufe). Und auch die separatio übt Wirkung aus. (Vgl. arm werden: den falschen Reichtum der Symptome loslassen…)

 

Um die Wirkung zu vertiefen, ist das Kultmysterium in Eleusis jedes Jahr aufgeführt worden, darum spricht Platon analog von mehrfacher Weihe, darum ist der Adept in Apuleius mehrfach geweiht worden. Darum gibt es christliche Sakramente, die häufig wiederholt werden. (Nicht die Taufe, weil diese die Nebenbedeutung erhalten hat, sich einem bestimmten Gott zu weihen. Aber es gibt die Möglichkeit der Tauferinnerung, was jeder erlebt, der als Pate oder Besucher einer Taufe beiwohnt.)

 

Was ist gesucht? Was kann das Sakrament leisten? Dazu muss man unterscheiden zwischen den empirisch erfahrenen Veränderungen, die sich auch in einem Wandel der Lebensführung zeigen (ich kann besser aufstehen, besser zu Bett gehen; ich verfüge über Geistesgegenwart; ich kann die Aufgaben besser bewältigen; dank der Wandlung bin ich bereit für die nächste Lebensaufgabe etc.) und den theologischen Gehalten, die nicht erfahren, sondern symbolisch verstanden werden. Die neue Schöpfung, von der das Sakrament spricht, gehört beidem an.

 

Am Beispiel des Jona: Wenn er am Meeresgrund angelangt ist, ist seine alte Identität zugrunde gegangen. Im Gebet lernt er sich neu verstehen, nicht mehr nur aus sich selbst, sondern aus dem andern, das ihm voraus liegt, und wo die Grenzen seiner Autonomie aufgehoben sind. So ist er ein neues Wesen. Er hat Teil an jenem Grossen und Ganzen, das das Leben trägt. Das wirkt sich „empirisch“ in seinem Leben aus.

Dass er ein „neues Wesen“ ist, heisst nicht, dass er den Grenzen der empirischen Welt nicht mehr unterworfen wäre. Er bleibt „sterblich“, ist Krankheiten unterworfen, etc. Aber er übersteigt diese Grenzen in seinem Glauben. Das gibt ihm Trost und Zuversicht, es macht Kraft frei für den Weg. Er verzweifelt nicht mehr, sagt Ja zu seinem Leben, etc. Es ist ein Ineinander von Gehalten, die empirisch erfahren und symbolisch repräsentiert werden.

[49] Das nimmt der Mythos auf: Es sei heilsnotwenig, sagt er, den Weg unten auf der Erde zu gehen. Darum würden die Seelen inkarniert. Weniger mythologisch: Das Vorher und Nachher der Initiation gehört wesentlich dazu. Man kann nicht sein ganzes Leben im Tempel hocken. Die Verzweiflung ist nötig, all das, was zur separatio gehört. Und der Weg durch den Widerstand in der ordinatio ist nötig.

 

[50] Schon das Absterben in der Phase der separatio hat viel geholfen. (Vgl. das „Ich kann nicht mehr“ in meiner letzten Krankheit, das mir mehr geholfen hat bei der Lösung aus meinen Verstrickungen als alle bewussten Anstrengungen, mit denen ich mein Leben damals beruflich und privat besser einrichten wollte. Vgl. Notizen März 2007)

[51] Es gleicht der Arbeit des Demiurgen in der Gnosis, der auf die Welt der Symbole schaut und sie in der sinnlich wahrnehmbaren Welt imitiert. Aber hier helfen die Sinne selber mit, gegen ihre Abwertung in der Gnosis.

 

[52] Es ist wie bei traumatischen Verletzungen, die sich über körperliche Erinnerungen weiterpflanzen und ein Leben mit-bestimmen. Aber auch das Heilen kann von dieser Körpererinnerung lernen. Das eben macht die Körper-Therapie aus, dass man neue Körper-Erfahrungen einpflanzt, den schlechten Erinnerungen auf dieser Ebene zu Leibe rückt.

 

[53] Es ist das, was die Güter-Ethik sucht nachdem die Normen-Ethik in die Sackgasse führte.

Die Philosophische Ethik, sagt Habermas, könne nur Normen intersubjektiv begründen. Sie anzuwenden, erfordere Urteilskraft, sie in Handeln umzusetzen, Ich-Stärke. Beide Kräfte könnten von der Philosophie nicht begründet werden, sie wüchsen lebensweltlich. Er lässt die Stelle leer.

Darum die Renaissance der aristotelischen Ethik in den 80er Jahren, die Suche nach Entitäten in der Lebenswelt, die die Vermittlung von Sein und Sollen leisten. Statt Normen, die sich dem Handeln nicht vermitteln können, sind Sitten gefragt, wo ganze Handlungsketten schon verankert sind.

[54] Anlässlich des 75-Jahr-Jubiläums der Entdeckung von LSD interviewte der „Tages-Anzeiger“ Peter Gasser, der als erster wieder Forschung damit betreiben konnte, nachdem die Substanz jahrzehntelang verboten war (Tages-Anzeiger vom 18.4.2018, S. 40). Er meint: „In den Sechzigern ging man davon aus, dass LSD das Verhalten des einzelnen verändere und dadurch auch die Gesellschaft. Viele Forscher und User hofften, eine positive Entwicklung herbeizuführen.“ Aber:

Man muss diese Erfahrung integrieren, sonst bleibt sie wirkungslos. (…) Nehmen wir das Beispiel von Depressionen: ich fürchte, dass ich mithilfe von LSD oder MDMA zwar eine kurzfristige Verbesserung erreichen lässt, die aber nicht anhält, weil die Patienten in ihren vorherigen Zustand zurückfallen.“ – Die Droge nützt nichts, wenn sich allfällige positive Wirkungen nicht in Alltagshandeln transformieren lassen.

 

[55] Die Reizung aller Sinne war kein Selbstzweck, es sollte die Batterien aufladen, aus denen sich das Handeln speist. Das ist der Unterschied zur Suche nach dem Gesamtkunstwerk im fin de siècle.

[56] Oder das Sterben, wo diese Matrixen ebenfalls wieder die Steuerung übernehmen, oder bei Krankheiten, bei jeder Neu-Organisation des Lebens an einem Übergang. Es ist quasi die Entsprechung zu jener Entwicklungssteuerung, die bei Insekten die Metamorphose auslöst. Damit sind wir wieder nahe am Mythos.

[57] Darum ist Pilgern so wertvoll, es ist das tägliche Loslassen, Separieren, sich vergewissern und auf dem Weg gehen mit nichts als einem Bündel und dem Vertrauen: dass sich findet, was nötig ist. Es ist die Einübung des spirituellen Weges auf dem körperlichen Weg. Es ist das Yoga des Christentums.

[58] Reinbek bei Hamburg 1986, engl. 1967

 

[59] Dazu passt die folgende Geschichte: „Was sagst du, wer ich sei?“ fragt Christus den Petrus. „Du bist Christus“, antwortet dieser. „Das hast Du nicht von Menschen erfahren, das hat dir der Vater im Himmel offenbart“, sagt Christus und er macht ihn zum Felsen, auf den er seine Kirche baut.

„Und was sagst du, wer ich sei?“ fragt er ein Unterrichtskind heute. „Du bist Christus“, antwortet dieses. „Du hast wahr geantwortet, sagt Christus. Schade, dass du es von einem Menschen erfahren hast und nicht vom Vater im Himmel“. – Kind: „Ja, ich bin betrogen worden, jemand gab mir die Antworten, bevor mein Vater im Himmel sprechen konnte. Ich staune über deine Weisheit, dass Du nichts zu Simon Petrus sagtest, sondern wartetest, bis der Vater als erster zu ihm sprach. Darauf kann man keine Kirche bauen.“ (Anthony de Mello, Warum der Vogel singt, Freiburg-Basel-Wien, 2004, S. 116)

 

[60] (Dazu passt die Auskunft, dass auch die von Lowen vertretene Richtung sich aus einer Art Rhetorik, entwickelte, die beanspruchte, die Seelen führen zu können. Lowen besuchte ein Seminar des ehemaligen Psychoanalytikers Wilhelm Reich, der Freuds „Rede-Kur“ zu einer Vegeto-Therapie weiterentwickelt hatte, wo der gesamte Organismus einbezogen wurde, insbesondere auch die Muskulatur.)

 

[61] Vgl. Phil. 2,5f: „Seid untereinander so gesinnt, wie es dem Leben in Christus Jesus entspricht:

6 Er war Gott gleich, / hielt aber nicht daran fest, wie Gott zu sein, 7 sondern er entäusserte sich /

und wurde wie ein Sklave / und den Menschen gleich. / Sein Leben war das eines Menschen; 8 er erniedrigte sich / und war gehorsam bis zum Tod, / bis zum Tod am Kreuz. 9 Darum hat ihn Gott über alle erhöht / und ihm den Namen verliehen, / der größer ist als alle Namen,10 damit alle im Himmel, auf der Erde und unter der Erde / ihre Knie beugen vor dem Namen Jesu 11 und jeder Mund bekennt: / Jesus Christus ist der Herr – / zur Ehre Gottes, des Vaters.“ – Der Philipperhymnus, der von einzelnen asketisch gelesen wird, meint die Würdigung des Körpers in so hohem Ausmass, dass ihm und der Welt sogar Heilsbedeutung zukommt.

[62] (Aus Angst ist der Mensch in sich verkrümmt, im Vertrauen auf das Evangelium kann er sich entfalten. Aber dieses Vertrauen verfällt immer wieder dem Zweifel. Der Weg durch den Köper hilft dem Glauben und dem Leben aus dem Glauben.)

 

[63] Worum ging es in diesem Kapitel? Ich zitiere aus einem späteren Bericht an die Kirchenpflege über das Sabbatical und meine Überlegungen zu Sakrament und Körper-Spiritualität.

[64] Aus einem Beerdigungs-Gottesdienst 2009

[65] Das sagt der Täufer in Joh 3,30 von Jesus. Der Täufer ist der Vorläufer, der auf den verweist, der nach ihm kommt. Der Johannistag ist die Sommersonnenwende, der längste Tag im Jahr. Danach nehmen die Tage ab bis zur Wintersonnenwende, dem kürzesten Tag. Dann wird Weihnachten gefeiert, die Geburt Christi. So nimmt die Sonne ab bis sie wieder zunimmt. „Ich muss abnehmen, er muss zunehmen.“

[66] «Busse» ist ein weiteres Sakrament der alten Kirche. Das erste Jahrhundert der Kirchengeschichte kannte nur die Taufe, das dritte Jahrhundert führte aufgrund langer Kämpfe die wiederkehrende Busse ein. Immer mehr wurde damals die Taufe an das Lebensende verschoben, in der Taufe fand man Vergebung, eine zweite Taufe gab es nicht. Die Menschen machten die Erfahrung, dass sie auf ihrem Weg immer wieder in alte Verhaltensweisen zurückfielen, sie litten an der Selbstverurteilung und wollten rein vor Gott treten, wenn sie schon im Leben nicht rein sein konnten. Darauf wurde die Beichte und Busse geschaffen. Die «Schlüsselgewalt des Petrus», die Vollmacht zur Vergebung, die Jesus den Jüngern mit dem Taufbefehl übergeben hatte, wurde in ein neues Sakrament ausgeformt, ein Tochter-Sakrament der Taufe. Es ist eine Tauferinnerung, eine Erinnerung daran: dass Gott Menschen macht, auch den neuen. Der Mensch kann Sein und Sollen nicht versöhnen. Er kann aber Vergebung empfangen und Schuld vergeben. (Aus Notizen 2012)

[67] Aber es stellt sich hier die Frage, ob es eine „Religionsgeschichte“ in diesem Punkt überhaupt gibt, denn diese Phänomene sind von anderer Art. Sie gehören in die Sozialpsychologie, nicht in die Religion.

[68] „Da aber der Herr sah, dass der Menschen Bosheit gross war auf Erden und alles Dichten und Trachten ihres Herzens nur böse war, da reute es ihn, dass er die Menschen gemacht hatte auf Erden.“ (Genesis 6,5)

 

[69] „Und siehe, ein Mann war in Jerusalem, mit Namen Simeon; und dieser Mann war fromm und gottesfürchtig und wartete auf den Trost Israels, und der Heilige Geist war mit ihm. Und ein Wort war ihm zuteil geworden von dem heiligen Geist, er solle den Tod nicht sehen, er habe denn zuvor den Christus des Herrn gesehen. Und er kam auf Anregen des Geistes in den Tempel. Und als die Eltern das Kind Jesus in den Tempel brachten, um mit ihm zu tun, wie es Brauch ist nach dem Gesetz, da nahm er ihn auf seine Arme und lobte Gott und sprach: Herr, nun lässt du deinen Diener in Frieden fahren, wie du gesagt hast. Denn meine Augen haben deinen Heiland gesehen, den du bereitet hast vor allen Völkern, ein Licht, zu erleuchten die Heiden und zum Preis deines Volkes Israel.“ (Lk 2, 25ff)

[70] Vgl. dazu das Kapitel «Sakrament der Unsterblichkeit» im Anhang, «Religion und Rausch»

 

[71] Aus meinen Lesenotizen und Gedanken zu Peter Sloterdijk, Weltfremdheit, Ffm 1993. Die Lesenotizen sind in meinem Buch «Eros. Chaos. Kosmos. Das Sakrament». Notizen aus dem Sabbatical.» aufgenommen.

[72] Ich trage eine Notiz vom 2. Februar 2002 ein.

[73] Vgl. das Gleichnis vom Rebstock, Joh 15, 1-8.

[74] Vgl. Zu diesem Abschnitt das Kapitel «Sakrament der Unsterblichkeit» im Anhang: Sind Drogen die besseren Sakramente? Religion und Rausch. Die Antwort der Antike.

[75] Aus der Ausschreibung für einen Vortrag

[76] Aus dem Vortrag

 

[77] Ralf Koneckis, Mythen und Märchen. Was uns die Sterne darüber verraten. (Astronomische Vorgänge im Bild bestimmter Märchen.) Stuttgart 1994.

[78] Aus einer Kolumne zum Bettag

[79] Aus einem Workshop. 2008 habe ich im Pfarr-Kapitel einen Workshop geleitet, in dem die Erfahrungen mit der Köper-Spiritualität zur Sprache kamen. Es ist ein Beispiel für eine öffentliche Formulierung der dort gefundenen Resultate wie die Gottesdienste, die Feier der Sakramente oder der Vortrag zum Weg des Lebens vor dem «Philo-Zirkel».

[80] Vgl. Joachim Bauer, Das Gedächtnis des Körpers, 2007 in 11. Auflage

 

[81] Diese Debatte der 80er Jahre ist zusammengefasst in dem Buch „Moralität und Sittlichkeit. Das Problem Hegels und die Diskursethik“. Hg von Wolfgang Kuhlmann, Ffm 1986. – Ich habe damals ein Seminar bei Jürgen Habermas in Frankfurt besucht und konnte teilhaben an dieser Diskussion.

[82] Im Jahr 943 sollen europaweit etwa 40.000 Menschen einer Mutterkornepidemie zum Opfer gefallen sein. (Wikipedia)

 

[83] «Hofmanns darauf folgende Fahrradfahrt nach Hause, die er im Buch «Mein Sorgenkind» ausführlich schildert, wird von Anhängern des LSD seit 1984 als Bicycle Day gefeiert.» (Wikipedia).

[84] Vgl. das Kapitel «Weltflucht oder Verwirklichung des wahren Lebens?».

 

[85] Vgl. das Kapitel «Das Widerfahrnis und seine Kultivierung in Religion».

 

In der Nacht hörte ich einen Text aus der Bibel. Das Buch Nehemia steht etwas am Rand der Bibel. Aber es hat mich immer wieder angesprochen. Es ist eine existentielle Situation: das Volk kommt aus der Verbannung in die Heimat zurück. Es wird angefeindet, sucht sich eine neue Existenz, baut Tempel und Stadt wieder auf. Weiterlesen

Im Advent begegnet mir vieles: das Grosse, das in meinen Wünschen lebt, das Korrekte, das man herstellt, und das Fremde, das Unwahrscheinliche. Weiterlesen

Wie hat es angefangen, schief zu laufen auf dieser Erde? Auch die Antike hat die Frage schon radikal gestellt. Auch die Antike kannte schon ökologische Zerstörungen in einem Ausmass, das die Menschen erschrecken liess – ob wohl die Welt aus ihrer Schuld zerstört werden könnte? Weiterlesen

 

Erbsünde und Freiheit? Das scheint wie die Faust aufs Auge. Beschreibt die Erbsünde nicht die «völlige Verderbnis der menschlichen Natur»? Wo Freiheit verneint wird, ist sie oft verborgen, in einer entstellten Gestalt, in Form von enttäuschten Hoffnungen, als Nachdenken, woher die Unfreiheit denn stammt und wie sie zu heilen wäre.

In der «Erbsünde» steckt die menschliche Freiheitsgeschichte, die Hoffnung, die damit verbunden war. Darin stecken aber auch die Enttäuschungen und – schlimmer noch – die Traumatisierungen, wenn schmerzlich ersehnte Freiheitsprojekte in Zwang umschlugen, wenn Menschen malträtiert und beiseitegeschafft wurden. Darin steckt das Erschrecken, die Angst des Menschen vor sich selbst, wenn die Vernunft ein dunkles Gesicht zeigte: den Gewaltcharakter, den sie annimmt, wenn Dinge und Menschen sich nicht fügen, wenn sie sich widerständig zeigen. Es ist nicht nur die «Bosheit», die sich im Widerstand zeigt. «Der Pfeilbogen ist verzogen», wie die Bibel sagt. Er trifft das Ziel nicht mehr. Der Mensch kann nicht immer, wie er soll.

Im Konzept der «Erbsünde» steckt ein jahrtausendealtes Nachdenken über menschliches Handeln und wie es gelingen kann, trotz aller Widerstände, die von aussen kommen, die aber auch aus dem Menschen selber stammen. So versucht die «Erbsünde», die Freiheit zu retten, indem sie diese mit dem Gegenteil vermittelt, der absoluten Abhängigkeit im Vertrauen auf die Güter des Lebens und die Bedingungen des Daseins, die dem menschlichen Tun vorausliegen. Vertrauen wird so zu einer Kraft, es ist keine leere Formel. Es begrenzt die Autonomie nicht, sondern macht sie möglich, auch dort, wo diese an einer absoluten Grenze ansteht.

Im Glauben sind auch Tod und Leben keine letzten Hindernisse, sie sind aufgehoben bei Gott in einem Symbol, wo Sein und Sollen zusammenfinden. «Glauben» als religiöse Praxis ist ein aktives Vertrauen auf das Zusammenstimmen der Gegensätze, auch in jenen Erfahrungen, die einen Riss durch die Welt zu treiben scheinen. Es ermutigt das Tun, ermöglicht Verantwortung, trägt die Intuition eines autonomen Lebens. Es verhindert dieses nicht, sondern ermöglich es und befreit es aus seinen lähmenden Gegenerfahrungen.

 

Inhaltsverzeichnis

Zeitenwende. 2

Einleitung. 4

Das Weltbild wird revidiert 7

Erfahrungen unserer Zeit 8

Die Krise der Spätantike. 8

Erbsünde im Atomzeitalter 9

Wie ein Tun ins Gegenteil umschlägt 9

Wie die Welt erfahren und gedeutet wird. 11

Das Harmonie- und das Konfliktmodell 11

Freiheit wird Unfreiheit wird Freiheit 15

Sich gleichzeitig machen mit Adam.. 16

Sich gleichzeitig machen mit Abraham.. 17

Ein Blick auf die Geschichte. 18

Revolution und Romantik. 18

Versöhnung. 19

Nebenfolgen und Backlash. 21

Die Frage nach dem rechten Leben. 22

Rettung der Moderne durch ihre Vermittlung mit dem Glauben. 22

Verantworten und Vertrauen. 23

Rück- und Ausblick. 25

Das Sollen kehrt zurück. 27

Die Verbannung der Ethik aus der Politik….. 27

… und ihre Rückkehr 28

Katastrophenerfahrungen in der Bibel 32

Die Katastrophe des Exils. 32

Die Katastrophe der Kreuzigung. 34

Traumatisierung und Vermittlung. 34

Erbsünde und Endversöhnung. 35

Rückblick. 36

Ende oder Transformation. 36

Richtig leben im falschen. 36

Der Mensch und Gott 37

Zum Schluss. 39

 

Zeitenwende

Als die Zeit sich verdüsterte revidierte er sein Weltbild. Sein bisheriger Optimismus widersprach so vielem, was die Zeit vor Augen stellte. Nicht nur am einzelnen Menschen zweifelte er, die ganze Menschheit schien einem Abgrund zuzulaufen.

Er lebte in der Antike und nach dem Stil der Zeit, machte er es am «ersten Menschen» fest. Schon Adam im Paradies habe den Weg zum Falschen eingeschlagen. Und das habe er allen folgenden Menschen «vererbt». Darum sprach er von «Erbsünde», der Autor heisst Aurelius Augustinus.

Beim Wort «Erbsünde» zucken wir heute zusammen, wir denken an die körperfeindliche Sexualmoral der Kirche, die die Menschen verstört. Das Verdikt der Körperfeindlichkeit bleibt, die gab es aber schon vor und neben Augustinus. Und der Clou des Erbsünde-Gedankens ist nicht die Fortpflanzung (Augustinus suchte einen Mechanismus, der erklärt, wie ein falscher Weg sich von einer Generation auf die nächste überträgt.)

Der Clou ist die Frage, wie aus Freiheit Unfreiheit entsteht und warum sich freie Wesen zwanghaft auf einem falschen Weg bewegen. Diese Fragen stellen wir uns auch heute, in einer Zivilisation, die zwanghaft ihre eigenen Lebensgrundlagen untergräbt. Wie kamen wir als freie Menschen in eine solche Situation, die die Freiheit aufhebt?

Wie kam es, dass ausgerechnet die Moderne, die mit einem Freiheitsprojekt gestartet ist, in einer Welt endet, die mit Klimazerstörung und Artensterben in Naturzwang zurückfällt? Wie kam es, dass das Zeitalter, das den Menschen im Namen trägt, «Anthropozän», nicht für Freiheit und Entfaltung steht, sondern für einen drohenden Kollaps von Klima, Meer und Artenvielfalt?

Heute verstehen wir Augustinus und seine Zeit vielleicht besser. Es war eine Zeit zunehmender Verdüsterung, er revidierte seinen Optimismus. Was war es denn am Menschen, das ihn in diese Richtung drängte? Wie konnte Freiheit so entarten, dass sie in Unfreiheit umschlug?

Der Gedanke der «Erbsünde» half damals, den Konflikt zu überwinden zwischen dem Glauben an einen guten Gott, der lebensnotwendig war, und der gegenteiligen Erfahrung eines Lebens in Leid und Schicksals-Schlägen. Und es lag nicht am guten Willen, die Menschen hatten das Gefühl, in etwas verstrickt zu sein, was sie lähmte und Dinge tun liess, die sie nicht wollten. So erlebten sie sich selbst, wie sie beim besten Willen das Falsche taten, was das Leben belastete und verstörte.

Vielleicht dass der Erbsünde-Gedanken doch noch etwas an sich hat, was heute zur Verständigung beitragen kann? Freiheit kann in Unfreiheit umschlagen, gibt es auch einen Weg aus Unfreiheit, der in Freiheit führt?

 

Einleitung

Warum läuft es schief auf der Welt? Das fragte schon die Antike. Um nicht Gott die Schuld zu geben – das gab es damals auch: Sekten die von einer «schlechten Schöpfung» sprachen oder davon, dass der Teufel der «Herr der Welt» sei – sprachen sie von «Erbsünde». So blieb die Schuld bei den Menschen, sie waren frei geschaffen, aber sie machten falschen Gebrauch davon.

 

So traten Übel auf, die man nicht mehr beherrschen konnte. Die Freiheit wandte sich gegen sich selbst. Was frei geschaffen war, trat dem Menschen wie etwas Fremdes gegenüber, zu dem er keinen Schlüssel mehr besass, das seinem Willen nicht mehr gehorchte. Der Wille selbst war wie verbogen, dass er Dinge hervorrief, die man nicht wollte, dass man sich in einer Welt vorfand, die allem widersprach, was man sich ersehnte.

 

Das Wort «Erbsünde» ist heute verpönt, weil man an Sexualität denkt und an Sünde, eine Welt, die einem als Ganzes verhasst ist. Der Clou dieses Gedankens ist aber die Frage, wie Freiheit in Unfreiheit umschlagen kann. Es ist die Erfahrung einer Zeit, wo die Projekte nicht mehr einfach in den Himmel wuchsen, wo die Schattenseiten sichtbar wurden, wo die Kosten bezahlt werden sollten – nicht von fremden Völkern an fremden Stränden, wo die Nebenfolgen der Zivilisation sich zuerst bemerkbar machten, sondern im Herz dieser Zivilisation, wo die Pläne ausgeheckt werden, die Entwicklung und Wohlstand bringen sollen.

 

Klimawandel, Artensterben und viele Entwicklungen dieser Zivilisation zeigen eine Welt, die von den Menschen angestossen wurde aber ihm nicht mehr gehorcht. Hitzesommer, Überschwemmungen, Dürre – es kommt daher wie Natur, es gehorcht einem Zwang wie Natur, es hat eine gewaltige Kraft wie Natur, aber es stammt vom Menschen her. Es ist «zweite Natur», vom Menschen geschaffen, aber nicht mehr von ihm kontrolliert, von ihm vom Stapel gelassen, aber mit einer Entwicklungsrichtung, die nicht mehr zu steuern ist.

 

Wie ist es so weit gekommen? Warum entfremdet sich das Werk des Menschen von dem, was er will? Warum schaut sich der Mensch heute selber zu: wie er etwas tut, was er nicht will? Wie er eine Welt der Zerstörung immer weiter perpetuiert, obwohl er daraus aussteigen will?

 

Ist es vielleicht doch eine verflixte Welt? Ein Geschick, das über den Menschen gekommen ist mit fremder Gewalt? Science-Fiction Filme malen sich so etwas aus: Extraterrestrische, die die Welt erobert haben und sie zerstören wollen. Verschwörungs-Theorien stricken an einer solchen Erzählung: dass gar nicht die gewählten Politiker, die Unternehmer eines freien Marktes die Dinge vorwärtsbringen, dass es eine dunkle und verschworene Gemeinschaft gibt, die die Dinge zum Bösen lenkt.

 

Damit ist die Erzählung aus der Spätantike wieder da. Auch damals verdüsterte sich der Horizont, das römische Reich zerfiel in zwei Hälften, herumziehende Völkerschaften, die früher an der Grenze angesiedelt und in ein Bündnis aufgenommen wurden, drangen in das Reich ein, plünderten Städte, brandschatzten die Bevölkerung. Eine Grosserzählung, die das verarbeiten wollte, war damals die Gnosis. Die Welt ist gar keine gute Welt, sagte sie, und der Urheber kein guter Gott. Das Eigentliche ist nur im Geist zu sehen, diese materielle Welt ist eine schlechte Kopie. Die hat ein Demiurg geschaffen, ein Weltschöpfer, der das Ganze nicht im Griff hatte. Darum kann er sie nicht zur Ganzheit erlösen, die Gegensätze nicht versöhnen. Die Menschen aber tragen einen Funken jener Geisteswelt in sich, sie müssen das nur erkennen, so werden sie aus diesem Jammertal erlöst.

 

Jetzt ist vielleicht plausibler, was der Erbsünde-Gedanke leistet: er hält an der Intuition eines guten Gottes fest, denn das brauchen die Menschen, um leben zu können, nimmt aber auch die Erfahrung des Gegenteils auf, dass die Welt in vielem anders läuft, als wir es wünschen und hoffen. Das ist nötig, um die Erzählung ernst zu nehmen. Nicht Gott oder ein Geschick oder Aliens oder finstere Verschwörer sind die Urheber der Uebel dieser Welt, die uns mit Klimawandel und Artensterben immer dichter auf die Pelle rücken, es ist der Mensch selber und er tut es gerade dann, wenn er die besten Absichten hat. So schaut er sich zu, wie er tut, was er nicht will, wie er Uebel hervorbringt, die er vermeiden möchte, wie sein Wille und seine Welt sich zu einer grotesken Fratze entwickeln, in der er sich mit seinen Absichten nicht mehr erkennen kann.

 

Was aber ist es, was den Willen so pervertiert? Was ist es in uns, wie läuft es bei uns ab, wenn wir etwas Gutes wollen und dann doch so handeln, dass das Gute unterlaufen wird und das Gegenteil resultiert? Es ist die Angst, sagt Kierkegaard, der den Gedanken der Erbsünde untersucht. Er nimmt den Mythos der Bibel auf vom «ersten Menschen», der in Sünde fiel und diesen Fall der ganzen Gattung als Erbe vermachte. Aber er will keinen Mythos erzählen, er fragt als Philosoph. So hebt er die mythologische Distanz zum ersten Menschen auf und macht sich «gleichzeitig»: Wenn ich mich als Adam denke – wie lief das ab? Wie läuft das ab, wenn ich mich verfehle und so sehr verfehle, dass die Freiheit selber korrumpiert wird? Es ist ein Geschehen, das sich immer wiederholen kann, denn jeder Mensch ist gleichzeitig mit Adam, mit seinem Wesen, er lebt nicht in mythologischer Distanz. Es ist die Freiheit jetzt, die in ihr Gegenteil verfällt. Was ist es also? Es ist die Angst.

 

In der Angst mache ich, was ich nicht will. Und was ich will, das tue ich nicht. Und das beginnt nicht erst in einer Situation, wo ich gefordert bin, die Angst hat sich viel tiefer in mich eingegraben, es ist tiefer, als ich oft weiss. Die Angst hat sich mir schon in der Kindheit mitgeteilt. Schon als kleines Kind habe ich ein Angst-Abwehr-Verhalten eingeübt. Und das bestimmt schon meine Wahrnehmung. Nähert sich das Erleben einer Situation, die sich mir in der Kindheit «eingebrannt» hat, läuft das Leben Gefahr, noch einmal in diese Richtung zu gehen, so reagiere ich mit Verhaltensweisen, die ich in frühster Kindheit gelernt habe.

 

Das kann Totstellen sein, «Einfrieren», es kann Flucht sein in Träumerei und was die Verhaltensweisen immer sind, die die Psychologen mit Dissoziation bezeichnen. Das Verhalten ist unfrei, ich wiederhole zwangsweise, was mich verletzt hat, ich baue keine positive Welt auf, ich wiederhole und verlängere die negative. Ich spiele meine alten Konflikte durch und benütze die Menschen, die mir begegnen, um die alte Welt wieder aufleben zu lassen. Ich gebe ihnen die Rollen, die sie spielen müssen, ich bin der Regisseur in diesem höllischen Spiel, das mich immer und immer wieder verletzt, aber ich kann kaum daraus aussteigen.

 

Die Vernunft, die in einem biographischen Leben mit der Pubertät erwacht als Wille, sein Leben bewusst zu gestalten, findet sich vor als Kapitän auf einem Schiff, das schon lange fremden Lotsen folgt, die das Steuer in der Hand halten.

«Autonomie» ist das Ziel der Pubertät: dass der jugendliche Mensch aus der Abhängigkeit der Kindheit auswandern kann in ein Land, in dem er sich selber folgt, wo er die Gesetze selber gibt, denen er sich unterwerfen will, so dass er ein freies Leben führt. Doch will er das umsetzen, stösst er auf Widerstand, statt Autonomie und Selbstbestimmung, ist da «Heteronomie» und Fremdbestimmung. Er verfehlt die Freiheit auch, weil sie Angst macht. Frei zu leben und sich auf nichts zu stützen, ist ein ungeheuer anspruchsvoller Weg.

 

Für den religiösen Menschen ruft Gott zur Freiheit, nicht zu Unfreiheit. So erzählt es auch die Bibel: am Anfang stand ein Mensch in voller Freiheit. Trotzdem verfehlt er sich selbst – aus Angst, sagt Kierkegaard, der die Erzählung von Adam entschlüsselt.

 

Erbsünde als Theorie der Freiheit

Es ist keine Theorie der Unfreiheit, sie nimmt die Freiheit ernst, fragt, wie sie verloren und wieder gefunden werden kann, wie sie entartet und eine entfremdete Welt erzeugt und wie sie wieder so ausgerichtet werden kann, dass sie dem Willen dient.

 

Darin liegt auch eine Kritik des falschen und eine Vision des richtigen Willens, eines Willens, der sich nicht absolut setzt, sondern an Gott ausrichtet. Nichtreligiös gesprochen: er muss mit Vertrauen verbunden sein. Sonst verliert das Tun sich in den Aporien einer Welt, die aus menschlichem Handeln zur Vollkommenheit gelangen will. Das endet in Überforderung, in totalitären Entgleisungen, in Verzweiflung und findet erst zu neuem Anfang in der Hingabe im Vertrauen.

 

Das ist ein Glaubensakt, ein religiöser Akt. Damit wird nicht irgendein Gottesbegriff gesetzt, die heutige Kultur ist geprägt von historisch mächtigen Religionen und dem Widerwillen dagegen. Es ist ein Gottesbegriff, der diesem Akt des Vertrauens entspricht. «Ich will» ist der Satz der Autonomie, «ich vertraue» ist der Satz des Glaubens. Beide Sätze ermöglichen ein Leben in Freiheit und Erfüllung.

 

 

Das Weltbild wird revidiert

 

Ich habe gestern Nacht ein Büchlein aus dem Büchergestell gezogen. Es ist fast 2000 Jahre alt. Als ich drin lese, scheint es mir wie für heute gemacht. Es stammt aus der Spätzeit des römischen Reichs. Der Zentralstaat ist geschwächt, Sicherheit und Wohlstand werden fragil. Augustinus hatte eben noch eine optimistische Werbeschrift für das Christentum geschrieben. Fünf Jahr später unterzog er sie einer Revision, die die Lage nüchterner einschätzte. Es erinnert in manchem heutiger Welterfahrung.

 

 

„Über die wahre Religion“ heisst das Büchlein, das Aurelius Augustinus 390 schrieb und fünf Jahre später in den «Überprüfungen» unter dem Eindruck der Geschichte revidierte. Die Zahlen 390 und 395 stehen für verschiedene Erfahrungen; zwei Weitsichten begegnen sich.

 

Der freie Mensch

Die Schrift aus dem Jahr 390 wirbt für das Christentum, indem es diese Religion als „Philosophie für das Volk“ vorstellt. Da wird der Mensch als frei und autonom gesehen. Der Mensch kann sich zwar verfehlen, was aber nicht gegen ihn spricht. Der Begriff der Sünde setzt die menschliche Freiheit geradezu voraus.

 

Am Horizont zeichnen sich bereits die historischen Umwälzungen ab. Die äussere Welt scheint immer weniger gestaltbar für die menschliche Vernunft. Das Interesse verlagert sich auf das individuelle Glück, und sei es in einer untergehenden Welt. So verengt sich die platonische Tradition zu einer Glücks- und Seelenlehre, die den einzelnen im Über-Sinnlichen verankert (ohne Umweg über eine nicht mehr für möglich gehaltene Veränderung der Lebensumstände).

 

Der verstrickte Mensch

395, fünf Jahre nach Abfassung der Schrift, zerfällt das Römische Reich in zwei Hälften. Die Verkehrswege werden unsicher, Wohlstand und Sicherheit werden fragil. Der Zentralstaat ist geschwächt, lokale Grossgrundbesitzer reissen die staatliche Macht an sich und pressen die Untertanen aus. Es kommt zu Bauernunruhen.

 

Augustinus revidiert sein Büchlein in einer Nachschrift («Retractationes», Überprüfungen). Die Gegensätze lassen sich nicht mehr harmonisieren. Er beendet den Versuch einer Humanisierung des Christentums und wechselt vom Harmonie- zum Konflikt-Modell. Er unterstreicht jetzt im Gegenteil die Gegensätze, weil so leichter zu sehen ist, wo die Freiheit ansteht. Es ist ein Paradigmenwechsel nötig, der die Unfreiheit ernster nimmt, der Antwort gibt, wie das Leben auch in einer solchen Welt gelingen kann.

 

„Erbsünde“

In diesem Zusammenhang ist auch der Begriff «Erbsünde» zu sehen. „Erbsünde“ meint nicht, dass ein Kind „in Sünde empfangen“ wird und Sexualität darum „böse“ sei (die asketische Ablehnung des Materiellen steckt schon in der platonischen Phase), Erbsünde steht für die Beobachtung, dass es Verstrickungen gibt, die wir nicht lösen können.

 

Wir haben sie nicht individuell verschuldet und müssen sie doch mittragen. Wir können uns nicht mal davon distanzieren, weil uns „nichts angeht, was wir nicht verbrochen haben“. Das unberührte Land, in das wir uns zurückziehen könnten, gibt es nicht mehr. Die Staats-Verschuldung heute ist nur ein Beispiel für viele Probleme, die die Generationen vor sich herschieben und auf spätere Geschlechter übertragen. Dazu gehören weltwirtschaftliche Verwerfungen, die sich wie eine Verstrickung um die Menschen legen. Wer kann daraus aussteigen?

 

Erfahrungen unserer Zeit

Die Impulse, die das Gefüge vorwärtstreiben sind so mächtig, dass kein politscher Akteur sichtbar ist, der das sinnvoll modulieren könnte. Es folgt seiner Dynamik. Hier reisst es eine Wirtschaftszone in die Krise, dort führt es zur Abholzung von Regenwäldern. Es lässt als Resultante von vielen Interaktionen die Arten aussterben und die Temperaturen ansteigen. Die Permafrost-Böden tauen auf, die Hanglagen in den Bergen werden instabil. Meere werden leergefischt und Luft- und Meeresströmungen werden blockiert oder suchen sich neue Wege…

 

„Erbsünde“ ist ein Begriff im Diskurs um Schuld und Freiheit. Im weiteren Sinn, als Wort-Signal, ist es eine Absage an die Vorstellung, über die historisch vorhandenen Kollektiv-Subjekte Einfluss auf die Lebensbedingungen der aktuell lebenden Menschheit zu nehmen.

 

Die Krise der Spätantike

„Erbsünde“ ist die Erfahrung der Spät-Antike, dass die vom Menschen geschaffenen Strukturen sich verselbständigen und vom Menschen und seinem Handeln nicht mehr eingeholt werden können. Die Produkte des Menschen haben sich von diesem entfremdet, sind zu einer „zweiten Natur“ geworden, die mit Naturzwang auf die Urheber zurückschlagen. Sie sind nicht mehr erreichbar für die Gestaltung des Menschen. Kalt prallen die Intuitionen des Menschen an ihnen ab: dass es so etwas wie Gerechtigkeit und Barmherzigkeit geben müsse. Dass ein Leben gelingen soll. Dass Anfänge nicht abbrechen. Dass Verletztes verheilen kann. Dass ein langer Weg in ein „Ankommen“ mündet.

 

In der Spätantike ziehen sich solche Lebenshoffnungen vom Raum gemeinsamer historischer Gestaltung zurück. Der einzelne stellt sich vor Gott. Er erklärt sich für „reichsunmittelbar“ und sucht für sich einen Weg zu Gott, „und wenn die Welt untergeht.“ Die Reich-Gottes-Verkündigung im Christentum verengt sich zu einer Erlösungs-Religion für Einzelseelen. Heute spricht man nicht mehr von „Seele“ und „Gott“. Man sucht und findet andere Begriffe und Wege, wie das „Ich“ mit dem Innersten der Wirklichkeit zur Übereinstimmung kommen soll, so dass es nicht verloren geht (oder gerade durch sein „Aufgehen in anderem“ bewahrt wird).

 

Die „Erbsünde“ ist ein sperriger Begriff. Sie behält in sich die Erinnerung an ein überindividuelles Schicksal. Diese Erinnerung sperrt sich gegen die Zersplitterung der gewachsenen kollektiven Handlungs-Subjekte in eine Wolke von Mensch-Atomen, die chaotisch durcheinander sausen. „Erbsünde“ ruft nach einem Erlöser, der auch diesem historischen Stand menschheitlicher Verlorenheit noch gewachsen ist.

 

Der Begriff mag veraltet sein, es lohnt sich aber, ihm nachzudenken, weil er Erfahrungen formulieren hilft, wie eine ganze Weltgesellschaft Gefahr läuft, ihr Wichtigstes zu zerstören, gerade indem es dem Guten nacheifert.

 

 

Literatur: Aurelius Augustinus: „De vera religione“ / „Über die wahre Religion“ mit seinen späteren Ergänzungen. Mit einem Nachwort von Kurt Flasch, Reclam-Verlag, Stuttgart 1983.

Aus Notizen, 2015

 

 

Erbsünde im Atomzeitalter

Dass unsere Taten sich gegen uns selber kehren, das erleben wir heute in Klimawandel und Artensterben. In den 50er Jahren war es die Atom-Technologie. Der Theologe Rudolf Bultmann hat sich damit beschäftigt.

Bultmann fühlt sich der Geschichte „ausgeliefert“. Die grossen weltgeschichtlichen Ereignisse brächten dem Menschen seine Abhängigkeit und Hilflosigkeit zum Bewusstsein, so schreibt er in „Geschichte und Eschatologie“ von 1955. Die Geschichte werde als fremde Macht empfunden, was besonders bitter sei, da sie als Resultat menschlichen Handelns sich jetzt gegen seinen Urheber selber kehre.

 

Wie ein Tun ins Gegenteil umschlägt

Zehn Jahre früher haben Max Horkheimer und Theodor W. Adorno unter derselben Denkfigur, die sie „Dialektik der Aufklärung“ nannten, zu analysieren versucht, warum die Aufklärung im Faschismus und Totalitarismus in ihr Gegenteil umschlagen konnten. Bultmann hat in den 50er Jahren weniger den Totalitarismus im Auge als die Technik, an der sich dasselbe Umschlags-Phänomen zeige: „Ihre Erfolge treiben zu Folgen, vor denen oft ihre eigenen Meister erschrecken. Was zur Förderung des menschlichen Lebens geplant und ausgeführt war, droht in den Folgen zu einer Schädigung, ja sogar Vernichtung zu führen.“

Welche technische Errungenschaft dahinter steht, wird deutlich in einer Vorlesung von 1951, wo er die „schreckliche Vision“ beschreibt, „dass die moderne Technik, besonders die Atomphysik, die Zerstörung über unsere Erde bringen kann durch den Missbrauch menschlicher Wissenschaft und Technik.“ Sechs Jahre zuvor hatte der Abwurf einer Atombombe über Hiroshima und Nagasaki 152.000 Tote und 150.000 Verletzte gefordert, was den Schrecken dieser Waffe demonstrierte.

Umso grösser der Schock der westlichen Welt als die Sowjets 1949 ebenfalls die A-Bombe bauten. Wegen der sowjetischen Doktrin der Weltrevolution und der amerikanischen Eindämmungspolitik war die zuvor bestehende Verbindung beider Mächte im Zweiten Weltkrieg auseinandergebrochen und hatte dem „Kalten Krieg“ Platz gemacht. Die Welt erstarrte in einem „Gleichgewicht des Schreckens“; Geschichte wurde immobil sie schien in einen Zustand geführt zu haben, der auch die Bewegungsfreiheit jener begrenzte, die über diese Waffe verfügten.

Wenn Bultmann mit Horkheimer und Adorno den Umschlag von Freiheit in Unfreiheit beschreibt, denkt er nicht wie jene an das Projekt der „Aufklärung“. Die theologische Tradition bietet dafür den Begriff der Erbsünde an, in der als Ursünde Freiheit in Unfreiheit verwandelt wurde, so dass der sündige Mensch die Folgen tragen und verantworten muss, obwohl ihre Heilung nicht mehr in seiner Macht steht, es sei denn, Gott heile ihn und er könne durch eine „Umkehr“ in sein Heil zurückkehren – durch ein „anderes Selbstverstehen“ im Glauben. Der Gewährsmann, der sich hier anbietet, ist Kierkegaard der im „Begriff Angst“ den locus der Erbsünde rekonstruiert und erklärt, wie Freiheit in Unfreiheit umschlagen kann: durch die Angst, die mit der Freiheit der Entscheidung gesetzt ist, so dass der Einzelne Sicherheit sucht, sich ans Endliche klammert und so durch ein Tun, das helfen soll, sich selbst verfehlt.

 

Paradoxes Ja

Die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg bot neue Verstehens-Voraussetzungen, um die Wahrheit der Predigt Jesu „aufzuheben“ und für ein Verständnis der eigenen Zeit fruchtbar zu machen: Die apokalyptische Vision einer atomaren Zerstörung der Welt lässt die Politik als handelndes Verändern in der Geschichte erstarren. Zwischen „wahrem“ Leben und Leben in dieser Welt gab es offenbar keine Vermittlung. Die erstarrte Welt lässt sich nicht in eine wahre verbessern, sie lässt sich nur übersteigen in einer Hingabe an den weltüberlegenen Gott, der dem Gläubigen analoge Weltüberlegenheit vermittelt, so dass er erst in einem paradoxen Akt des „Trotzdem“ sein Leben in dieser Welt wieder bejahen und „verantworten“ kann.

 

Literatur: Bultmann, „Geschichte und Eschatologie“ von 1955 und „Jesus Christus und die Mythologie“ von 1951, zitiert nach Peter Winiger „Glaubenssprache angesichts der Zerstörung der Lebensgrundlagen – ein Gespräch mit Bultmann und Moltmann“, Akzessarbeit, Zürich 1992

 

 

Wie die Welt erfahren und gedeutet wird

 

Die Verunsicherung ist in dieser Zeit allgemein geworden, so habe ich 2008 in mein Tagebuch geschrieben. Die Finanz- und Wirtschaftskrise und ihre sozialen Folgen verunsichern viele Menschen und lassen unsicher erscheinen, was eben noch das Fundament für ein unangefochtenes Funktionieren war.

Im historischen Längsschnitt lösen sich Phasen von Optimismus und Pessimismus ab: man fühlt sich wohl in der Zeit und glaubt, sein Schicksal gestalten zu können oder man fühlt sich gebunden und getrieben. Das zeigt sich auch in der Kirchengeschichte und im Glaubensdenken. Statt die ganze Geistesgeschichte nachzuzeichnen, kann man die Möglichkeiten in idealtypischen Modellen gegeneinanderstellen.

 

Wie ist die Wirklichkeit? Steht hinter allem ein guter Gott? Manchmal geht ein Riss durch Fühlen und Denken – lässt sich das wieder heilen oder geht der Riss bis in die Fundamente? In der Kirchengeschichte begegnet immer wieder ein Wechsel zwischen zwei Modellen, die Wirklichkeit zu betrachten: einem Harmonie- und einem Konflikt-Modell. Es ist die kulturelle Antwort auf Problemlagen der Geschichte, auf den Wechsel von Krieg und Frieden, einmal gibt es Wohlstand, dann wieder Suche und Hungersnot.

 

Es gibt zwei mögliche Extreme, die in der Kirche nie realisiert wurden, aber in der Philosophie und in anderen Religionen:

  • Der Monismus: Welt und Gott sind eins, die Welt ist schon heilig, einfach weil sie ist. Hier entsteht das Problem, die Brüche in der Welt zu verstehen.
  • Der Dualismus: Der Riss durch die Welt ist ontologisch, die Wirklichkeit ist gespalten, das Böse steht als eigenes Prinzip auf derselben Höhe wie Gott. Das Problem hier: es gibt keine Erlösung.

In der Kirchengeschichte gab es keinen Monismus oder Dualismus. Es war immer klar: Die Welt ist keine „schlechte Schöpfung“. Sie gehört „zu Gott“, ist aber nicht „gleich Gott“. Gott hat sich nicht in die Welt entäussert, so dass alles von sich aus göttlich wäre und nur noch erkannt werden müsste.

 

Das Harmonie- und das Konfliktmodell

Je nach historischer Erfahrung dominierte ein Harmoniemodell, wo Gott auf der einen und Welt und Mensch auf der anderen Seite trotz prinzipieller Verschiedenheit in Harmonie gesehen werden. Der Mensch hat gute Anlagen, kann sich höher entwickeln, kann durch Fortschritt in Erkennen und Streben Gott entgegenkommen.

Dann wieder gab es andere Erfahrungen: Natur-Katastrophen, Bürgerkrieg, unfassbare Gewalttaten… Das führte zu einem Konfliktmodell, wie nach dem ersten Weltkrieg. Zwischen Gott und Mensch ist ein Bruch, nie und nimmer kann der Mensch aus sich zu Gott finden. Wenn beide zusammenkommen, dann weil Gott herabkommt. Aber die Welt kann ihn nicht begreifen, wenn er zu ihr kommt, sie lehnt ihn ab. Das ist seine Passion. Er trägt es, er offenbart sich in seiner Andersheit. Die Offenbarung in dem ihm fremden Medium ist zugleich der Weg zu deren Verwandlung und Erlösung.

 

Drei Wege zu Gott im Harmoniemodell

In der Antike gab es eine harmonistische Variante. So konnte die junge Kirche (und der frühe Augustin) die griechische Philosophie verwenden, um den Glauben zu verstehen: Bei Plato ist die Wirklichkeit hierarchisch aufgebaut. Alles lebt von der obersten Wirklichkeit, die wahr, schön und gut ist. So gibt es drei Wege zum Göttlichen: das Wahre, das Schöne und das Gute.

Daraus sind drei Wissenschaften entstanden, die die Geschichte des Abendlandes begleitet haben:

  • Die theoretische Wissenschaft der Natur, wo mit Argumenten um Wahrheit gerungen wird.
  • Die praktische Wissenschaft der Ethik, wo der richtige Weg für das Leben des einzelnen und des Staates gesucht wird.
  • Die ästhetische Wissenschaft vom Schönen.

So gab es drei Wissenschaften, drei Geltungsansprüche, die in einem geordneten Diskurs eingelöst werden konnten, um das Leben des Menschen in der Welt, das Leben der Menschen miteinander und das Leben auf dem Weg zum göttlichen Ziel auf eine feste Grundlage zu stellen.

 

Heilswege im Gefolge der Philosophie

So gab es auch drei Wege zu Gott, die in den verschiedenen Kirchen unterschiedlich aufgenommen wurden:

Die Westkirche nahm v.a. den Weg des Guten auf. Sie begreift die Welt aus der Spannung von Sein und Sollen. Der Mensch tut nicht, was er soll. Der Bruch vergrössert sich. Er kann nicht mehr, was er soll. Sünde wird Erbsünde, die erste Sünde pflanzt sich fort. In der Westkirche geht die Diskussion um Sünde, Busse, Gnade, Werke.

Die Ostkirche nahm auch den Weg des Wahren und Schönen auf. Das Leid in der Welt lässt sich nicht nur aus dem Versagen der Ethik begreifen, sondern auch nach dem Modell des Messers, das nicht mehr taugt, der Vase, die zerbrochen ist. Das Urbild ist im Abbild nur ungenügend verwirklicht, so dass Fehler auftreten, Unvollkommenheit, Leiden.

Der Weg zurück führt nicht nur über Anstrengung, Busse, Gnade, sondern auch über Betrachtung des Urbildes. Die Schönheit verzückt die Seele, diese erinnert sich, woher sie kommt und empfindet Sehnsucht nach ihrer Heimat… So macht sie sich auf den Weg, bis Gott sie in seine Gemeinschaft aufnimmt und das Abbild im Urbild erneuert wird.

Darum sind hier Ikonen wichtig. Gott hat bei der Schöpfung sein Abbild (eikon) in den Menschen gelegt, es ist verschüttet.[1] Gott offenbart sich in Jesus Christus, er wird Mensch und erneuert im Menschen-Abbild das Urbild, so dass sich der Mensch wieder vergottähnlichen kann (eikon und homoiousis).

 

Ein Konfliktmodell nach der Bibel

Neben den philosophischen Wegen gab es auch einen Weg aus der Bibel: die Nachfolge Christi. Diese ist weniger optimistisch, was die Einschätzung der Leistungen des Menschen betrifft. Hier wird der Erfahrungsweg des Gottesvolkes im ersten Testament aufgenommen und die Erfahrung der Kreuzigung: dass Jesus Christus kein Gehör fand, dass er abgelehnt wurde. Er musste die ganze Gewalt von Unrecht, Zynismus und Lust am Quälen erleben, alles, wozu Menschen fähig sind, den ganze Abgrund dieser Welt.

 

Die Haltung von Paulus

Hier steht auch Paulus: Er erzählt von Christus und lässt das Kreuz nicht aus. Er kommt in die griechische Stadt Korinth mit der Absicht, nichts anderes zu wissen als das Kreuz Christi.

„Ich hatte mir vorgenommen, unter euch nichts anderes zu kennen als Jesus Christus, und zwar Jesus Christus, den Gekreuzigten. Als schwacher Mensch trat ich vor euch und zitterte innerlich vor Angst. Mein Wort und meine Botschaft wirkten nicht durch Tiefsinn und Überredungskunst, sondern weil Gottes Geist sich darin mächtig erwies. Euer Glaube sollte sich nicht auf Menschenweisheit gründen, sondern auf die Kraft Gottes.“ (1. Kor. 2,1ff)

Dieser Weg ist realistischer und in gewissen Phasen der Geschichte allein glaubwürdig. Auf diese Weise kann ein Mensch seinen Weg gehen, auch wenn er seine Grenzen von Seiten der Natur erfährt (Krankheit, Tod, Hunger, Katastrophe…), aber auch, wenn er auf seine eigenen Grenzen stösst, die er sich als Mensch selber setzt.

 

So kann er trotzdem seinen Weg gehen, auch wenn er das Vertrauen verloren hat,

  • dass ein Mensch aus eigener Kraft seinen Weg finden kann,
  • dass die Menschengattung eine Fortschrittsgeschichte erlebt, die den Menschen am Ende ermächtigt, die Bedingungen seiner Existenz selber in der Hand zu halten, so dass er ein autonomes, selbst-mächtiges Wesen wird, das sich nur sich selber verdankt,
  • dass die Welt Bestand hat oder jedenfalls nicht untergeht wegen seiner Eingriffe.

 

Im Kreuz geht Gott durch Hinterhöfe und Arbeitsplätze, durch Bloss-Stellen und Demütigung. Er geht zu den Verlorenen. Er ergreift ihre Hand, führt sie hinaus. Gott stellt den ins Unrecht Gesetzten ins Recht, er erhöht den Erniedrigten. Er stellt seine Füsse auf weiten Raum.

Aus Notizen 2008

 

 

Freiheit wird Unfreiheit wird Freiheit

 

Wie hat es angefangen, schief zu laufen auf dieser Erde? Auch die Antike hat die Frage schon radikal gestellt. Auch die Antike kannte schon ökologische Zerstörungen in einem Ausmass, das die Menschen erschrecken liess – ob wohl die Welt aus ihrer Schuld zerstört werden könnte?

 

Mythologische Antwort

Der römische Dichter Ovid erzählt von einem goldenen Zeitalter, wo jedes Wesen aus eigenem Antrieb Gesetz und Treue übte. Diese vollkommene Welt ist verloren, so dass wir die Forderung nach Gerechtigkeit nur noch in unserem Wissen, nicht mehr in der Erfahrung wiederfinden. Einen der Gründe für diese Entartung sieht er auch im menschlichen Verhalten. Das goldene Zeitalter degenerierte zum silbernen und dann zum eisernen Zeitalter. Hier „flohen Scham, Wahrheit und Treue“ von der Erde und es brach „jeglicher Frevel hervor“.

Auf der Erde wohnten damals Giganten. Als diese anfingen, den Himmel zu erstürmen und die Gefahr bestand, dass sie ihren Frevel dorthin tragen könnten, bis die Ordnung der Sterne durcheinandergeriete, stürzte sie „der allmächtige Vater“ hinunter. Ihr Blut benetzte die Erde. Daraus entstand ein neues Geschlecht von Menschen. „Doch auch dieses Geschlecht verachtete die Überirdischen, war grausam, gewalttätig und erfüllt von unstillbarer Mordlust – man sah, dass es aus Blut entsprossen war.“ Ovid erzählt, wie der Mensch zum Wolf entartet und wie Jupiter die Erde und alles Leben in einer Flut ertränkt. Nur Deukalion und Pyrrha entkommen – in ihnen macht das Leben einen neuen Anfang auf der Erde.

Ähnlich erzählt die Bibel von einer Welt, die im Ursprung vollkommen war. Darum tragen wir das Wissen, wie es sein soll, in uns. Auch die Bibel schildert eine „ontologische Daseinsminderung“. Das Gold des Ursprunges verblasst, so dass Unrecht, Krankheit, Tod auftreten. Auch hier trägt der Mensch eine Schuld an dieser Entwicklung („Sündenfall“), sie erzählt von Sintflut und Neuem Anfang in Noah und seiner Arche.

 

Ein Philosoph enträtselt den Mythos

Wie lässt sich die Schuld des Menschen verstehen? Was ist das Verhalten, das die Ur-Vollkommenheit zerstört? Das wäre so etwas wie der „Urknall“ der Menschwerdung, sein Ausgang aus der Unschuld des Naturwesens, der Beginn der Zivilisation. Die Paradiesgeschichte erzählt von der Versuchung Adams. Durch seine Schuld wurde er aus dem Paradies vertrieben und das Menschengeschlecht lebt seither in Not und Schmerz.

Sollte Adam der Einzige sein, der die Schuld beging und wir Menschen unschuldig gestraft? Sollte Adam der Einzige sein, der frei gewesen war, und wir Folgenden nur Erben seiner Schuld? – So legt es der Gedanke der „Erbsünde“ nahe.

Der Philosoph Sören Kierkegaard meint: So erzählt, nützt mir das nichts. Zwar kenne ich die Erfahrung von Unfreiheit, dass ich mich beim besten Willen verfehle. Aber ich habe auch eine Intuition von Freiheit, die ich wahrnehmen muss, wenn mein Leben gelingen soll.

 

Sich gleichzeitig machen mit Adam

Kierkegaard erzählt die Geschichte von Adam neu – so dass diese nicht in eine mythische Vorzeit gerät und wir nur noch Nachfolger sind, die hier ihre „condition humaine“ erfahren. Er macht sich „gleichzeitig mit Adam“. Er tritt in den Mythos ein. Er verwandelt ihn in eine Freiheitsgeschichte. Er fragt: Wie ist es denn zu verstehen, dass aus Freiheit Unfreiheit entsteht? Was ist damals geschehen im Paradies? Was geschieht hier auf dieser Erde immer wieder, so dass die Vertreibung sich immer neu wiederholen muss?

Was genau tue ich, dass ich immer wieder aus dem Paradies vertrieben werde? Was kenne ich an mir, was mich und mein Verhalten so verändert, dass es mir nicht mehr selber angehört, dass ich mir selber fremd werde? In welchen Situationen geschieht es, dass ich mich selber im Stich lasse und gegen besseres Wissen und Vertrauen handle, so dass ich das Falsche tue, obwohl ich das Richtige will?

 

Angst

Es ist die Angst! – Sie verwandelt mich. Sie übt jene Kraft der „Metamorphose“ aus, von der Ovid erzählt. Sie lässt das Gold in Silber und Eisen verrotten, sie weckt in mir den Wolf. Darum sieht man mir den Menschen nicht mehr an, als der ich gedacht war. Darum finde ich das Richtige nicht mehr in meinem Handeln, sondern nur noch in einem Wissen, das ich gegen alle Erfahrung in mir trage. Darum lebt das Ziel, das ich mir ersehne, nur in einem Hoffen, das ich kontrafaktisch gegen alle Erfahrung aufrechterhalten muss.

 

Sicherheit vs. Vertrauen

Aus Angst vor dieser Welt, in der ich mich vorfinde, will ich sie kontrollieren. Ich klammere mich an Dinge dieser Welt, die ich nicht verlieren will, und verfehle so mein Leben. Wenn ich zwanghaft etwas festhalte, kriege ich die Hände nie frei, die ich brauche, um zu handeln. Und was es auf dieser Welt gibt, zwischen Leben und Tod, das verlangt mein Handeln. Wenn ich aber zu viel tue, wenn ich Tod und Leben aus eigener Kraft bewältigen will, verzweifle ich und verfehle mein Leben.

Ich muss es ins Vertrauen setzen, dass es gehalten ist aus jener Anfangs-Kraft, die alles ins Leben rief, und auch mein Leben. Wenn ich aber alles nur noch ins Vertrauen setze und denke, Gott wird es schon richten, verfehle ich mein Leben ebenfalls.

Kierkegaard rekonstruiert die „Erbsünde“ und erklärt, wie Freiheit in Unfreiheit umschlagen kann: durch die Angst, die mit der Freiheit der Entscheidung gesetzt ist. Aus Angst sucht der Einzelne Sicherheit und klammert sich ans Endliche. So verfehlt er sich selbst. Die „Synthese zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit“, die das Selbst ist, gelingt erst, wenn er sich als Glaubender aus der Unendlichkeit versteht und das Endliche loslässt. Dann wird er es wieder zur Verantwortung zurückerhalten, sodass er ein paradoxes „Dennoch“ zur Welt sprechen kann.

 

Sich gleichzeitig machen mit Abraham

Wie gelingt der Glaube? Wie kann ich vertrauen, gegen die Angst? Wie kann aus Unfreiheit wieder Freiheit werden? (In Bildern der Mythologie gesprochen wäre das wie eine Rückkehr ins verlorene Paradies.)

Kierkegaard rekonstruiert die Haltung, die Abraham zum „Vater des Glaubens“ macht. Abraham opfert seinen Sohn Isaak, erhält ihn aber zurück. Hat Abraham daran gezweifelt? Er machte eine „doppelte Bewegung“, und Kierkegaard merkt an, dass es ihm selber immer nur gelingen will, die eine Bewegung zu machen, aber nicht beide. Darum sieht er sich nur als Schüler des Glaubens.

Wie Abraham muss ich eine erste Bewegung machen und Isaak loslassen, ihn Gott übergeben im Sinn des Opfers, das er verlangt, im Sinn des Vertrauens, aus dem ich leben will. Dann muss ich aber eine zweite Bewegung machen und Gott mehr zutrauen, als ich fühle und sehe. Dass ich ihn übergebe und nicht zweifle, dass Gott das Opfer nicht will, dass ich ihn loslasse und dabei in keinem Moment verzweifle und vertraue, dass Gott ihn mir wieder geben wird.

Es ist ein riesiges Vertrauen. Das Verantworten wird nicht aufgehoben, es wird neu ermöglicht. Die Ethik verschwindet nicht in der Religion. Durch das in der Hingabe erlebte Vertrauen wird sie neu ermöglicht, wo sie an den Widerständen schon scheitern wollte. Ethik und Glaube bringen sich gegenseitig hervor. Vertrauen und Verantworten gehören zusammen. Es ist ein Ineinander: Nur wenn ich vertraue, kann ich verantworten. Wenn ich aber nicht Schritte mache in diesem Vertrauen, wenn ich es nicht im Handeln erprobe, stirbt es ab. So kann ich ohne handeln auch nicht glauben, ohne verantworten auch nicht vertrauen. So, erklärt Kierkegaard, kann aus Freiheit Unfreiheit werden. So kann aus Unfreiheit neue Freiheit entstehen, neue Verantwortung, wo das Leiden schon resignieren wollte.

 

Literatur:

Publius Ovidius Naso: Metamorphosen. Deutsch Düsseldorf 2005

Søren Kierkegaard: Der Begriff Angst, deutsch Frankfurt am Main 1984

 

 

Ein Blick auf die Geschichte

 

Wie kam es, dass ausgerechnet die Moderne, die mit einem Freiheitsprojekt gestartet ist, in einer Welt endet, die mit Klimawandel und Artensterben in Naturzwang zurückfällt? Wie kam es, dass das Zeitalter, das den Menschen im Namen trägt – «Anthropozän» – nicht für Freiheit und Entfaltung steht, sondern für einen drohenden Kollaps von Klima, Meer und Artenvielfalt?

 

Revolution und Romantik

Die Aufklärung war das Freiheitsprojekt der Moderne und die Französische Revolution der grösste Versuch bis dahin, eine Gesellschaft auf der Grundlage der Autonomie aufzubauen. Nicht nur das Zusammenleben, auch die Konstituierung des Menschen überhaupt wurde in die Hand genommen. Die Pädagogik hatte Hochkonjunktur. Durch vernünftige Erziehung sollte der Mensch heran-„gebildet“ werden, wie er es als Anlage in sich trägt, nicht verbogen durch Herrschaft, Vorurteile, Unterdrückung.

Die „Schöne Seele“ war das Ziel, nach dem Worten von Schiller. Pflicht und Neigung sollten versöhnt werden, nach den Worten von Kant: dass der Mensch nicht mehr der Neigung folgt und ohnmächtig vor der Pflicht steht, aber er kann nicht tun, was er soll und will. Immer wieder ertappt er sich dabei, wie er das eine will und das andere tut. Vernunft und Trieb sollen versöhnt werden, die Verhärtungen des Charakters sollen aufgeweicht werden, das Flussbett soll umgelegt werden, damit es den Fluss wieder ins Ziel leitet und dieser nicht mehr zerstörerisch die Ufer überschwemmt. Die Schöne Seele tut aus Neigung, was die Pflicht ihr zu tun vorgibt. Es „fliesst einfach“ und der Mensch ist, wie er soll. Die Welt kommt zu ihrer richtigen Ordnung.

 

Fremdbestimmung

In der Aufklärung war es die „Bildung“, im 19. JH die „Revolution und der neue Mensch“, im 20. JH war es die „Therapie“ – angestrebt war nicht weniger als eine neue Schöpfung, in der die Konflikte versöhnt sind. Der Versuch, die Selbstbestimmung (Autonomie) zu leben, stiess auf Erfahrungen der Fremdbestimmung (Heteronomie). Und diese lagen nicht nur aussen, in den „Verhältnissen“, sondern auch innen, im Wollen und Verhalten des Menschen. Meist sah man darin Ableger der äusseren Verhältnisse; das „pessimistische“ Menschenbild der Kirche mit ihrer „Erbsündenlehre“ wurde von der Aufklärung und all ihren Folge-Epochen abgelehnt. Sie hatten ein „optimistisches“ Menschenbild.

Die Lehre der „Erbsünde“ sagt die Unmöglichkeit aus, dass der Mensch sich selber in der Hand halten könne. Es ist ein dogmatisch gewendeter Satz aus dem Mythos von der Vertreibung aus dem Paradies.

Dort wird die Unterscheidung festgehalten: da ist Gott, da ist der Mensch. Da ist der Schöpfer, da ist das Geschöpf. Und kein Geschöpf erschafft sich selbst, es lebt aus Gnade, es kommt aus einer Quelle des Lebens, die es nicht selber schafft, und ist unterwegs zu einem Ziel, das die Souveränität seines Tuns und Machens übersteigt. Allenfalls kann das Schauen ihm etwas davon verraten.

 

Versöhnung

So erhob sich vor dem Projekt eines autonomen Lebens das zweite Projekt, die Heteronomiebestände zu versöhnen, sei es in der Gesellschaft oder im einzelnen Menschen. Die Menschen sollten «das Gesetz nicht nur auf der Stirn tragen», so wie Juden es beim Gebet mit Gebetsriemen tun. Gott sollte es ihnen «ins Herz schreiben», wie es die Propheten für eine messianische Endzeit voraussagen.[2] Dann ist der Mensch erlöst, er ist am Ziel, er kann, was er soll.

Die Vertreibung aus dem Paradies wird endlich aufgehoben. Dort hatte er zwar vom Baum der Erkenntnis gegessen (er weiss, was er soll), aber bevor er vom Baum des Lebens essen konnte, wurde er vertrieben (so ist er sterblich, er ist nicht „wie Gott“). Am Ende der Geschichte steht ein zweites Paradies, dort kann der Mensch vom Baum des Lebens essen. Er kann was er soll.

So schildert es die Religion, die über absolute Aussagen verfügt. Der Mensch mit seinen Kräften bleibt aber der Zeit und dem Tod unterworfen, das macht seine Sterblichkeit aus und seine „Geburtlichkeit“. Er lebt in der Geschichte, nicht in der Vollendung. Die „condition humaine“ wird gefunden und beschrieben, nicht selbst gesetzt.

 

Äussere Versöhnung

Im Terror der Französischen Revolution endet der Traum der Autonomie, der Selbst-Bildung des Menschen. Es war ein Schock für ganz Europa, für alle gebildeten Stände, die mit ihren Hoffnungen auf Freiheit und Selbstgestaltung nach Frankreich geschaut hatten. War der Mensch vielleicht doch des Menschen Wolf, wie es die Naturrechtsdenker unter dem Eindruck der Bürgerkriege des 17. JHs formuliert hatten? Musste Herrschaft wieder mit Schrecken durchgesetzt werden, nur um überhaupt das (innere und äussere) Chaos zu bändigen?

Denn das war das Schlimmste, was man bisher erfahren hatte: die Gewalt, die hier plötzlich explodierte. Zivilisation schien nur ein dünner Film über einem Abgrund von Barbarei. Hier hatte der Krieg sein rationales Gesicht verloren (als „Fortsetzung der Diplomatie mit anderen Mittel“), es gab sinnlose Gewalt, Folter auch ohne den Zweck, ein Geständnis zu erpressen. Es gab Freude an der Gewalt. (Marquis de Sade hatte seine Werke schon vor dem Terror geschrieben. Da zeigte das Zeitalter der Vernunft schon in Friedenszeiten ein dunkles Gesicht.)

Im allgemeinen Schrecken konnten auch kleine Rechnungen beglichen werden, Nachbarn denunzierten sich und eigneten sich das Gut der andern an. Schuldner wurden mit dem Gläubiger auch ihre Schulden los. Diese Rationalität ist aber aufgesetzt. Wäre der Mensch ein rationales, vernünftiges Wesen nach der Vorstellung der Aufklärer, hätte er diesen Exzessen widerstanden, statt sie für seine kleine Rechnung zu missbrauchen.

Die Gewalt kannte kein Ende, jeder schien ein Verräter. Die Henker von heute legten morgen selber den Kopf auf die Guillotine. (Es erinnert an die Apokalypsen der zwischenbiblischen Zeit, wo der Weg beschrieben wird, wie das Eine sich ins Viele zerteilt, bis zum Krieg aller gegen alle. Erst in diesem Chaos kehrt die Bewegung um, sie fliesst zurück zum Einen. Es kommt die Flut und deckt alles wieder zu. Bis aus dem Einen eine neue Schöpfung geschieht.)

 

Die innere Versöhnung

Wie herausfinden aus dieser Situation? Das Schlagwort damals war die „Legitimität“, die Restauration, die Rückkehr zu den alten Mächten von Adel, Krone und Kirche. Auch das war zunächst nur eine aufgesetzte Rationalität.

Die tieferen Gründe wurden von der Romantik erforscht: Was ist der Mensch? Was sind seine Antriebe? Warum ist die Vernunft nicht Herr im Körper? Was sind die vermittelnden Instanzen? Und haben diese einen Eigensinn? Wie ist der Mensch also zu verstehen, wie die Gesellschaft?

So kam es zu einer Restauration auch in tieferem Sinn: nicht nur die alten Eigentumsrechte wurden wieder hergestellt. Die Kirche wurde nicht nur in ihr Recht wieder eingesetzt, weil sie im Bündnis von Thron und Altar stabilisierend wirkt. Es gab ein echtes neues Fragen in der Religion. Ein Wiederanknüpfen an biblische und kirchliche Lehren, eine Restauration im tieferen Sinn.

 

Nebenfolgen und Backlash

Damals war es die Französische Revolution, die für ganz Europa zu einem Lehrstück wurde. Die Zeitgenossen des 21. JH haben den Krieg im Irak erlebt, als US-Präsident Bush Saddam Hussein stürzte und das mit der Verbreitung von Demokratie und Menschenrechten begründete. Heute, im Chaos der Bürgerkriege im Nahen und Mittleren Osten, in denen auch die Interessen der USA in dieser Region untergehen, wünscht man sich eine Machtgestalt zurück, die die widerstrebenden Kräfte bündeln und Frieden herstellen könnte. Schon ein Waffenstillstand wäre eine Erholung, schon eine kurze Ruhe im allgemeinen Gemetzel würde erlauben, die Eingeschlossenen auszufliegen, humanitäre Hilfe an den Ort zu bringen.

Die Revolten des „Arabischen Frühlings“ führten fast überall zu Bürgerkrieg und später zur Etablierung der alten Ordnungen – nach dem Schema der Französischen Revolution und ihrer Folgezeit. Und wo das noch nicht geschah, wünscht man sich einen Friedensfaktor, weil der Bürgerkrieg immer weiter um sich frisst. Die nationalen Grenzen in der Region, die nach dem 1.Welkrieg gezogen wurden, werden aufgelöst. Der ganze mittlere Osten ist in Bewegung. Gewalttätige Islamisten errichten im Grenzgebiet von Syrien und Irak ein Schreckens-Kalifat. Die Kurden, bisher auf vier Staaten verteilt, werden erstmals vom Westen unterstützt, weil sie noch zu den wenigen gehören, die Widerstand leisten können. Syrien ist auf Generationen zerstört. Millionen von Menschen sind auf der Flucht.

Auch in Libyen ist es seit dem Sturz von Muammer al-Gaddafi noch nicht gelungen, eine Friedensordnung herzustellen. Der ganze Staat, die Gesellschaft, scheinen zerrüttet, man möchte aber doch nicht von „gescheiterten Staaten“ reden, da diese Region gar nie eine Staatlichkeit nach westlichem Vorbild herausgebildet hatte. Die westlich klingenden Institutionen waren übergestülpt, dort sassen westlich gebildete lokale Eliten, die mit den ehemaligen Kolonialmächten kooperierten. Jetzt fällt das wieder ab. Die Menschen ordnen sich nach traditionellen Mustern und suchen Orientierung in einer Zeit, die nicht vom Westen beeinflusst war, z.B. im Islam.

 

Aus Notizen 2014

 

Die Frage nach dem rechten Leben

 

Wie ist Freiheit möglich? Die Frage stellt sich auf politischer, aber auch auf individueller Ebene.

Mich mussten diese Fragen damals faszinieren, weil das genau meine Fragestellung war: Ich wollte mein Leben bewusst führen, ich wollte es „in die Hand nehmen“ und nach meiner Einsicht gestalten. Aber mit jedem Schritt stiess ich auf neue Hindernisse. „Autonomie stösst auf Heteronomie“, schrieb ich damals in meinem Tagebuch.

Im Verlauf meines „Unternehmens Leben“, wie ich das nannte, kam ich mir immer mehr auf die Schliche. Ich fand Fremdbestimmung nicht nur aussen, sondern auch in mir, in meinem „Charakter“. Ich sah, wie ich mit der Fremdbestimmung kollaborierte, wie ich mich ihr auslieferte, weil es etwas gab, was mir noch viel mehr Angst machte: die Freiheit, die Verantwortung, das Hinaustreten auf eine Bühne, wo ich sichtbar und haftbar bin, wo man mir Fehler zurechnen kann und wo man versprochene Leistungen auch sehen will, sonst gibt es Pfiffe und Buhrufe.

Aus Notizen 2014

 

 

Rettung der Moderne durch ihre Vermittlung mit dem Glauben

Mein Nachdenken über den Glauben hat begonnen, als ich versuchte, jenen Tendenzen etwas entgegen zu stellen, welche die „Aufklärung“, die „Moderne“, die „Vernunft“ verabschieden wollten. Es stammt also gerade nicht aus dem aktuellen postmodernen“ Konservativismus oder Irrationalismus, sondern aus dem Interesse an Autonomie, Begründung, Aufklärung, Vernunft.

Aber ich begriff, dass die Aufklärung, dass die Moderne als Programm der Autonomie, nicht selber autonom ist, als Weltanschauung, dass sich die historische Aufklärung Bedingungen verdankt, welche sie aus ihren eigenen Mitteln nicht reproduzieren kann… bis ich eben mit Kierkegaard begriff, dass Autonomie und Heteronomie „dialektisch“ aufeinander bezogen sind und ineinander umschlagen können.

  • Ohne den bis zur Verzweiflung getriebenen Versuch der Autonomie gibt es keinen Glauben.
  • Und ohne vollständige Hingabe und ohne rückhaltloses Leben aus Vertrauen gibt es keine Autonomie.

Hier sind paradoxe Übergänge, welche das Neue Testament mit dem Gleichnis vom Senfkorn benennt: Erst aus dem „Absterben“ kann „neues Leben“ entstehen.

 

Verantworten und Vertrauen

Der Mensch gelangt bald an eine Grenze seines Tuns, wo er das Verdikt des Sollens tragen muss, wo er die Kluft des unversöhnten Seins ertragen muss: wo die Welt nicht ist, wie sie sollte; wo das Leben nicht so spielt, wie er wollte; wo er leidet, wo er traurig ist, wo er stirbt.

 

Sein und Sollen

Und selbst in totalitären Ideologien, die versprechen, dass die Menschheit eines Tages diese Kluft überbrücken werde, wird das für eine ferne Zukunft vor Augen gestellt. Dem einzelnen ist dieses Ziel für seine Person und im Augenblick seines Lebens nur symbolisch gegeben: Er hat jene Tat nicht in der Hand, kann aber glauben, dass die Welt letztendlich „aufgeht“ – wenn der Mensch endlich jenen Prometheus aus sich hervorbringt, der in den Himmel steigt und das Feuer der Unsterblichen holt, jenen Herkules, der in den Hades hinuntersteigt und den Wächter der Unterwelt überwindet, so dass die toten Seelen wieder ins Leben zurückkehren können. Was er hat, ist auch in diesen Ideologien wie in der Religion: Glaube, Hoffnung, Vorstellung (Symbol).

Die Ganzheit der Welt und des Lebens erlebt er nicht „real“, er kann es sich nur „symbolisch“ repräsentieren und im Symbol daran teilhaben. Damit tut er genau das, was der Gläubige immer schon tut. Ist nur die Frage, ob sich eine solche Ideologie so glauben lässt wie ein religiöser Glaube.

Wenn man denn schon mit „nüchternen Tatsachen” operieren will: dass ich mich vorfinde und mich nicht mir selbst verdanke, sondern „etwas anderem“, das erlebe ich auf Schritt und Tritt. Dass die Menschheitsgeschichte auf einen prometheischen Homunculus zulaufen wird, der Himmel und Hölle ersteigen wird, den Tod aufheben und die Ganzheit des Weltalls verbürgen, das ist eine Zumutung an meine intellektuelle Redlichkeit, die diese viel mehr strapaziert als jeder religiöse Glaube.

 

Moderne und Postmoderne

Damit ist ansatzweise deutlich geworden, was ich mit Verantwortung und Vertrauen meine, dass beide Verhaltensweisen einander bedingen und am Grenzpunkt ineinander übergehen müssen, damit sie vollzogen werden können. Anders ausgedrückt: dass „Moderne“ und „Postmoderne“ sich nicht als Epochen ablösen können, dass das Weltbild der “Moderne“, die Autonomie, nur auf der Basis einer religiösen Grenzvermittlung möglich ist und umgekehrt.

 

Glaube denk- und lebensnotwendig

Im „Oben-Ohne“-Weltbild geht auch die Autonomie nicht mehr auf. Ohne Repräsentation der Ganzheit in Gott und individueller Teilhabe erstirbt die Möglichkeit der Autonomie, sowohl was die Denkmöglichkeit angeht, wie das psychologische Funktionieren.

Es ist nicht denkmöglich, weil die Autonomie offensichtlich die Ganzheit des Weltalls nie garantieren kann. Ein solcher Anspruch führt auch psychologisch in lähmende Resignation. In der Resignation kann die absolute Autonomie aber in die absolute Heteronomie umschlagen; wenn ich mich zuerst ganz mir selbst verdanken wollte, lege ich mich jetzt ganz einem andern in die Hände.

Das Individuum ist Subjekt des Leidens und Denkens, aber nicht Subjekt der vermittelnden Tat. Die Kluft muss symbolisch überbrückt werden: Einerseits im Symbol der ethischen Norm, die das Sollen einer gesuchten Ordnung für den zeitlichen Vollzug im Leben eines Individuums repräsentiert, andererseits im Symbol der Ganzheit, in der das zeitlich und sozial-individuell gespaltene und nur über das gesollte Tun vermittelbare Sein symbolisch bereits zu einem harmonischen Ganzen verbunden ist, als Vorwegnahme der Tat, die diese erst ermöglicht.

 

Gläubig werden

So entsteht aus dem Sollenden am Umschlagspunkt der Grenze ein Glaubender. Die im Symbol vorweggenommene Ganzheit ersetzt das Tun, das im Sollen gefordert wird, nicht. Sie ermöglicht es aber als Zielbestimmung und psychische Ausrüstung.

Sollen und Glauben, Verantworten und Vertrauen, schliessen sich also nicht aus, sie sind je verschiedene Repräsentationen der Ganzheit im Augenblick der geschichtlich-individuellen Existenz. Die eine appelliert an seine Freiheit, an sein Tun-Können, die andere an sein Vorstellen-Können; die eine nimmt seine Freiheit ernst, die andere seine Grenze, aber nicht nur die Grenze. Auch unterhalb der Handlungsgrenze ist das Handeln auf eine symbolische Vorwegnahme des Ziels angewiesen.

Unstatthaft wäre es, die Grenze segregativ zu ziehen:

  • Hier bin ich überfordert, sorge Du, lieber Gott, dafür, dass die Welt aufgeht und dass der Begriff meines Sollens zu seinem Recht kommt. Z.B. beim Welt-Hunger: da bin ich überfordert, und trotzdem empfinde ich unabweisbar meine Verantwortung für das Problem. Löse Du das ein, stille mein Harmoniebedürfnis… Da wird symbolische Versöhnung zur Ausflucht, Religion zu „Opium“.
  • Genauso unmöglich ist ein Verantworten-Wollen, das die ganze Verantwortung allein mir zuschiebt. Beides muss ineinandergreifen.

Aus Notizen 1987

 

Rück- und Ausblick

 

In der Aufklärung begann das grosse Freiheitsprojekt der Moderne. In der Französischen Revolution begann die Aufklärung, ihr politisches Programm umzusetzen. Nach wenigen Jahren schlug die Befreiung in Anarchie um, in Gewalt und Staatsterror. Das Bürgertum (das revolutionäre Subjekt dieser Zeit) einigte sich mit einem autokratischen Herrscher und engte unter Napoleon die Spielräume wieder ein.

Die Romantik suchte nach einer Lösung für diese Dialektik von Autonomie und Heteronomie, von Freiheit und Unfreiheit. Sie fand sie in der idealistischen Philosophie, die die Versöhnung der Gegensätze im Geist vorstellte, und in einem neuen Nachdenken über Religion, wo die Versöhnung in Gott gesetzt ist, der einzelne aber Anteil hat im Glauben.

Die Autonomie ist hier nicht mehr total, als ob der Mensch Autor seiner selbst wäre – das wurde nur in einigen totalitären Ideologien behauptet, die die religiöse Heilslehre beerbten und in eine politische Utopie übersetzten – die Autonomie ist in der Sicht der Religion begrenzt. Wird die Versöhnung der Gegensätze in einem Absoluten gesucht und gefunden, wird der einzelne als Handelnder entlastet.

Die Versöhnung von Sein und Sollen wird nicht mehr dem Menschen aufgelastet – er würde von einer solchen Aufgabe erdrückt – sie ist religiös beantwortet in einer Heilserzählung, die diese Harmonie protologisch in einem Ursprungsparadies gegeben sah (das nimmt die Intuition auf, dass die Welt an sich eine gute Wirklichkeit darstellt, dass sie nicht unversöhnbar zerrissen ist), und eschatologisch in der Harmonie einer Endzeit (das nimmt die Erfahrung ernst, dass das Leben heute von Unrecht und Tod verletzt und gefährdet ist, und die Intuition, dass mit dem Leben, auch mit meinem Leben, etwas anderes gemeint sei, dass jedes Leben zur Erfüllung kommen soll.)

So ist der Mensch aufgerufen, seine Autonomie wahrzunehmen, die Verantwortung zu übernehmen in jenen Dingen, die ihm als Handlungsbereich gegeben sind, aber nicht die ganze Welt erlösen zu müssen. Ein solch absolutes Autonomie-Projekt führt die Ethik in Lähmung und Resignation, sie lässt den einzelnen, der sein Leben richtig führen will, verzweifeln. Hier wird er offen für die Erzählung der Religion (Hegel hat sie ins Philosophische gewendet), dass die Versöhnung der grossen Fragen durch ein anderes Handlungs-Subjekt geleistet wird, dass die Rätsel von Leben und Tod bei Gott geborgen sind.

(Luther hat das als Krise erlebt. Seine Lösung ist in die protestantische Theologie eingegangen als Lehre von Gesetz und Evangelium: der Mensch resigniert an den nicht erfüllbaren Forderungen des Gesetzes und verzweifelt. Er flieht zu Gott, der ihm im Evangelium Anteil an der von Gott gewirkten Versöhnung zusagt.)

 

Autonomie stösst auf Heteronomie. Der Mensch, wenn er in der Pubertät zum Bewusstsein seiner selbst kommt, findet sich in dieser Welt vor, er will Verantwortung übernehmen für sich, sein Leben und alles, was dieses ausmacht. Mit dem ersten Schritt, seine Autonomie wahrzunehmen, stösst er auf Widerstände und konkurrenzierende Bestimmungen.

Nach dem historischen Grossprojekt der Französischen Revolution war das Autonomie-Projekt in eine Krise geraten. Die Vernunft, eben noch gefeiert als Instrument der Erkenntnis und der freien Willensbestimmung, sah sich als stumpfe Waffe gegen Emotionen, ja, sie wurde verdächtigt, an der Entartung selber beteiligt gewesen zu sein. Die Romantik hat aber nicht einfach das Gefühl gefeiert und die Vernunft verdächtigt, sie hat auch gefragt, was das Verhalten des Menschen bestimmt, wie es zur Versöhnung kommen kann, was die Bedingungen sind für einen Ausgleich und eine Vermittlung der Gegensätze.

Die Autonomie musste auf sich selbst zurückwirken, Bedingungen schaffen, dass die Vernunft überhaupt zum Zuge kommt. Es mussten Institutionen geschaffen werden, die den Fluss der Handlungen anleiten, um die Ziele und Werte, welche Anerkennung fanden, in die empirische Wirklichkeit überzuführen.

Geist und Körper wirken hier zusammen, es braucht Institutionen der Sittlichkeit, die die Ideen der Moralität umkleiden und ihnen Kraft geben auf dem Feld der Handlungen. Dann, wenn Körper und Geist vermittelt sind, steht die Vernunft nicht mehr ohnmächtig vor ihren Zielen, die sie nicht zu verwirklichen weiss oder nur in einer Schreckgestalt, wo die ursprünglichen Ziele nur noch in einer verzerrten Fratze zu erkennen sind.

So entstanden neue Projekte der Vermittlung, die bei einzelnen ansetzten, bei der Erziehung, aber auch bei Reformen in Gesellschaft und Wirtschaft. Im Hintergrund stand noch lange die Erfahrung der Revolution und die Demut, mit all diesen Projekten nicht die Grossfragen des Daseins beantworten zu wollen: Leben und Tod, das war in Gott gesetzt. Für diese Generation wäre der Gedanke lachhaft gewesen, dass der Mensch, der sich irgendwann auf dieser Welt vorfindet, diese unter den Arm nehmen und in seine Verantwortung übernehmen könnte, als ob er sich geschaffen hätte, als ob er nicht selber ein spätes Produkt dieser Wirklichkeit wäre.

Die Zuspitzung der Gegensätze hatte allerdings wieder Ideologien aufgebracht, die das Absolute versprachen. Nicht im Glauben sollte es genossen werden, nicht in den Symbolen der Religion, sondern in der sinnlich erfahrbaren Wirklichkeit. Es war alles dringlich geworden, man hatte zu viel versprochen. Es gab keine Zeit mehr, um auf eine „Endzeit“ zu warten, keine Geduld, um die symbolische Erfahrung über die Ermutigung, die im Gottesdienst erlebt wurde, in Handeln umzusetzen. So wurde das Absolute versprochen in empirischer Gestalt und das Absolute wandelte sich zum Totalitären.

 

Das Sollen kehrt zurück

 

Viele Menschen können heute mit dem Pflicht-Begriff, mit dem wir Älteren aufgewachsen sind, nichts mehr anfangen. Es geht nicht mehr in erster Linie um das Sollen, sondern um das Wollen. Das Problem ist aber nicht nur, dass wir nicht können wie wir sollen, sondern dass wir uns beim besten Willen verfehlen können.

Darum war ich fasziniert von dem „Erbsünden“-Gedanken, der das thematisiert. Es gibt „Verstrickungen“, so dass wir das Falsche tun, auch wenn wir das gar nicht wollen. Es gibt „objektive Sünde“ in den Strukturen des Charakters oder der ganzen Weltwirtschaft, so dass wir Profiteure werden von ungerechten Verhältnissen, ob wir wollen oder nicht. Und wir können auch nicht aussteigen. Wir tun im Moment nichts Falsches, tun etwas scheinbar Unschuldiges, wie eine Hose kaufen. Wir sind subjektiv unschuldig und durch dieselbe Tat objektiv schuldig.

 

Die Verbannung der Ethik aus der Politik…

Das Problem: „ich kann nicht wie ich soll“, stammt aus der Ethik. Da gibt es eine jahrhundertelange Debatte über die Willensfreiheit. In der Politik spricht man von „Willensbildung“. Dass diese sich unter ein „Sollen“ ducken soll, diese Vorstellung ist ein Relikt aus älteren historischen Phasen (als die Politik ein Teil der Ethik war).

In der Politik frage ich: Wie kriege ich eine Mehrheit für ein Vorhaben? Es geht um Willensbildung beim Erlass von Gesetzen, Verfassungsänderungen, Wahlen. Und wo das Parlament auch in Exekutiv-Fragen mitbestimmt, geht es um Strassenführung, den Bau von Schulhäusern und Turnhallen etc. Die Vorstellung ist fremd, dass der Souverän nicht könnte wie er wollte. Die Frage nach dem Sollen ist als historisch überholt verabschiedet. Die Frage, die die Ethik klären wollte: wie man zu intersubjektiv gültigen Normen gelangt, wird nicht mehr philosophisch beantwortet durch die Frage nach dem „Menschen“, was er brauche, was sein Glück oder seine Bestimmung sei, etc. Das riecht heute nach Kommunismus, Sozialismus, nach einer dieser Ideologien, die im 20. Jahrhundert so viele Millionen Tote gefordert hatten.

Diese Frage wird durch ein formalisiertes Verfahren ersetzt: Normen sind gültig, wenn sie rechtmässig und legitim zustande gekommen sind in einem rechtsstaatlichen Verfahren. So hatte jeder Gelegenheit, mitzuwirken. Jeder ist „Souverän“, weil er nur den Gesetzen gehorcht, die er selber erlassen hat. Er hat ja Wahl- und Mitbestimmungs-Rechte, so jedenfalls in der Theorie.

 

Die in gewissen Ländern massenhaft auftretende Staatsverdrossenheit, die Wahl-Abstinenz etc. zeigen aber, dass nicht jedes Wahlgesetz jedem eine selbe Chance gibt. Die formalen Regeln des Staatsrechts müssen sozial unterfüttert werden. Eine Demokratie nach dieser Façon ist überhaupt nur denkbar, wenn ein Mittelstand da ist, der über Bildung und Freizeit verfügt und im Arbeitsprozess nicht völlig ausgepowert wird.

 

Das alles fliesst zusammen in das Erfordernis einer „Öffentlichkeit“ als sozial-kulturellem Unterbau des Staates, wo Fragen formuliert, diskutiert und konterkariert werden, wo jede Erfahrung eine Chance hat, formuliert und eingebracht zu werden, so dass andere Menschen sich in ihr spiegeln können. So konstituieren sich „Themen“, so werden sie wahrgenommen und Gegenerfahrungen ausgesetzt, so bündeln sich Meinungen, so kanalisieren sich Interessen. So ist die Gesellschaft schliesslich bereit, das in die Politik einzugeben. Vielleicht trauen sie es einer bestehenden Partei zu, das aufzunehmen. Vielleicht entsteht eine Bewegung, die sich erst nach und nach zu einer Partei formt.

 

… und ihre Rückkehr

Der Vorfall von Fukushima bringt etwas Neues. 2011 bebte die Erde vor der Küste von Fukushima. Eine 23 Meter hohe Flutwelle zerstörte viele Häuser und die dort gebauten Kernkraftwerke. In der Folge kam es in drei von sechs Reaktorblöcken zu einer Kernschmelze.

 

„Grosse Mengen an radioaktivem Material – mehr als das Doppelte von Tschernobyl – wurden freigesetzt und kontaminierten Luft, Böden, Wasser und Nahrungsmittel in der land- und meerseitigen Umgebung. Ungefähr 100.000 bis 150.000 Einwohner mussten das Gebiet vorübergehend oder dauerhaft verlassen. Hunderttausende in landwirtschaftlichen Betrieben zurückgelassene Tiere verendeten…“ (Wikipedia)

 

Der Vorfall ist bis heute nicht unter Kontrolle.[3] Hier stösst die politische Willensbildung auf ihre Grenze: sie kann nicht wie sie will. Hier taucht auch die ethische Frage wieder auf, die man durch die Formalisierung (Legitimation durch Verfahren) so elegant entsorgt hatte: Politik, Parteien, NGOs und neue Bewegungen nahmen die Frage nach der Angemessenheit und Nützlichkeit wieder auf, nach den zumutbaren Risiken, nach den zerstörerischen Nebenfolgen (die die Kosten-Nutzen-Rechnung völlig über den Haufen werfen) und nach dem richtigen Entwicklungspfad dieser Zivilisation.

 

Ich kann nicht wie ich soll

Und jetzt taucht auch das Problem wieder auf: „Ich kann nicht, wie ich soll!“ und diesmal auf politischer Ebene. Plötzlich gibt es wieder eine politische Ethik, oder es sollte sie geben. Sie wird schmerzlich vermisst. Wo sind die Antworten auf diese Fragen?

 

Die etablierte Politik läuft ab wie gewohnt, die grossen Interessen dominieren. Sie haben den ganzen idealistischen Überbau aus der Zeit, als Europa sich aus den Fesseln eines Adelsstaates befreite und sich auf revolutionärem Weg Demokratie und Rechtsstaat erkämpfte, unterlaufen. Das ist nur noch Fassade, nicht ganz so schlimm wie in den afrikanischen Diktaturen, wo Korruption, Günstlings-Herrschaft und die Kollaboration einer einheimischen Führungsschicht mit internationalen Grosskonzernen bei der Ausbeutung des Landes und seiner Bodenschätze helfen, wo also diese Vorgänge mit den Uniformen einer fremden Verfassungskultur verbrämt sind. Als ob es unter solchen Verhältnissen echte Wahlen und Sachabstimmungen geben könnte. Das Beispiel, auf die Schweiz angewandt, überzeichnet, aber es macht die Richtung deutlich. Das ist nicht das total andere der europäischen Verfassungs-Wirklichkeit aber eine Verfallsform davon, die graduell auch hier zu beobachten ist.

 

Die Menschheit vor der Frage nach dem «Richtigen»

Jetzt entsteht auch in der Politik wieder die Frage, wie man das „Wollen“ zum „Sollen“ hinbewegen kann. Welcher Weg, welches Ziel als „richtig“ erkannt werden kann und wie man das anwendet und verwirklicht. Jetzt macht man die Entdeckung, dass man nicht immer kann, was man soll, und dass es Vorhaben gibt, die man als legitim und notwendig anerkennt – und trotzdem scheitert man daran. Man kann es nicht, beim besten Willen nicht.

Darum hat mich die Erbsünden-Tradition so fasziniert, weil sie genau diesen Sachverhalt diskutiert: Ich kann nicht wie ich soll und selber will. Ich will das Gute und tue das Schlechte. Ich kann mir selber zuschauen dabei. Ich tue etwas, was ich gar nicht will. Es gibt „Verstrickungen“, so dass wir das Falsche tun, auch wenn wir nicht wollen. Es gibt „objektive Sünde“. Das falsche Tun hat sich dort objektiviert, in Gewohnheiten und Institutionen niedergeschlagen. Es wohnt in den Strukturen des Charakters. Aber es ist nicht nur die Frage eines einzelnen Menschen, der sein Leben schlecht geführt hätte. Es betrifft die ganze Zivilisation, vielleicht die ganze Menschheit. Es hat sich niedergeschlagen in der ganzen Weltwirtschaft so dass wir Profiteure werden von ungerechten Verhältnissen, ob wir wollen oder nicht. Wir können auch nicht aussteigen.

Wir tun im Moment nichts Falsches, wir tun etwas scheinbar Unschuldiges, wie eine Hose kaufen. Aber dieser Kauf sendet Impulse über den ganzen Globus, die Hose macht eine Reise über viele Kontinente. Da wird der Stoff gewoben, dort die Baumwolle angepflanzt. Dort wird sie gefärbt, dort geschnitten und zusammengenäht, dort erhält sie das Design, dort wird sie vermarktet. Kürzlich ist eine Fabrik abgebrannt, wo Textilarbeiterinnen fast wie Sklavinnen arbeiteten, unter Bedingungen, die die Fabrik- und Gesundheits-Gesetze in den Abnehmerländern schon im 19. JH verboten haben. Die Struktur verbiegt unseren Willen, „uno actu“ sind wir „subjektiv unschuldig“ und „objektiv schuldig“.

„Die Sünde Adams“ – so konnte man früher sagen, wenn man das Gute wollte, aber das Schlechte bewirkte. Schon der Stammvater des Menschengeschlechts hat uns auf einen falschen Pfad gebracht. „Der Mensch ist wie ein verbogener Pfeilbogen“, klagt Gott bei einem Propheten im Alten Testament. Man kann noch so genau mit ihm zielen, man trifft nicht ins Schwarze. (Hosea 7,16)

 

Wiederholungs-Zwang

Wir sind nicht nur Einzelmenschen, sondern Teil unserer Gattung, so hört man das Argument heute. Schon in der Urzeit der Menschwerdung wurde ein Schalter umgelegt, sodass wir seither auf einem Entwicklungsweg laufen, der in die Irre führt.

Dieser Gedanke ist heute wieder vertraut, da die Oeko-Bewegung nicht nur einzelne Projekte anprangert, wie Einkaufszentren am Stadtrand, oder Technologien, wie die Kernkraft, oder Folgen der Globalisierung, wie das Leerfischen der Meere. Sie setzt mit ihrer Kritik viel früher an und kritisiert den Entwicklungsweg dieser Zivilisation, die sich gegen die Natur wendet und darum die Konflikte mit der Umwelt schon in ihren Genen trägt. Darum muss jede einzelne Tat diese „Ursünde“ wiederholen, weil Zivilisation auf diesem Weg gar nicht anders konzipiert werden kann.

Der Erbsünde-Gedanken ist heute also verbreitet, wenn die Tradition auch nicht mehr bekannt ist. Bringt es etwas, diese Tradition wieder aufzuhellen? Können Religion und Ethik hier einen Beitrag leisten? Schon zur Zeit Kierkegaards war die Zeit dieser Debatte vorbei. Er hat sie als Unzeitiger wieder aufgenommen. Er war interessiert am Zwang, der sich mitten in der Freiheit erhebt und wollte ergründen, wie es dazu kommt. Er fand Angst. Und so hat er den Gedanken rekonstruiert.

Es ist die Angst, die uns vor dem Richtigen zurückschrecken lässt. (Ich versuche, es in eigenen Worten wiederzugeben.) Sie verkörpert sich schon bald in Strukturen, so dass sie uns wie von aussen begegnet und wir sie gar nicht mehr als „unsere Angst“ erkennen. Seit frühester Kindheit üben wir uns in Angst-Abwehr. Das wird verankert in reaktiven Mechanismen des Verhaltens. Taucht ein Reiz auf, der uns an eine starke Verletzung erinnert, so wird das Entscheidungs-Verhalten aus- und das reaktive Verhalten ein-geschaltet.

Das Tun, das wir tun, ist nicht mehr unser Tun und es ist es doch: Denn wir haben es getan, es ist unsere Handlung und die Folgen müssen wir uns zurechnen. Aber es ist nicht das, was wir vor Augen hatten, was wir tun wollten. Oft genug ist es das Gegenteil davon. So stossen wir die Menschen ab, auf die wir zugehen wollten, etc.

Wir ängstigen uns bald vor unserer eigenen Angst und was sie zustande bringt. Wir misstrauen unserem Charakter. Eine Zeitlang versuchen wir, auf diesen einzuwirken. Er zeigt sich ziemlich resistent gegen Einsichten, Aha-Erlebnisse, Therapien. Auch die «neuen Erfahrungen», von denen wir viel erwarten: dass sie die Angst falsifizieren könnten, dass sie uns zum Vertrauen befähigen sollten, weil wir erfahren, dass das befürchtete Schlimme nicht eintritt – auch diese Wege der Selbst-Vervollkommnung haben ihre Grenze, und sei es nur die begrenzte Lebenszeit, die keine endlosen Verbesserungs-Schlaufen zulässt. Irgendwann ist das Leben gelebt. Und das war es dann. Und es wird nur noch schlimmer. Wenn ein gehemmtes Kind noch als „schüchtern“ angesprochen wird, im Alter ist es ein „sturer Bock“. Ist der Junge noch „scheu“, so wird seine Zurückhaltung später als „Arroganz“ begriffen. Und man gibt ihm die Antwort, die ein solcher Kerl verdient.

 

Freiheit

Kierkegaard war interessiert an Freiheit. Er wollte den Zwang aufheben. Denke ich mich als Nachfolger von Adam, so überwiegt das „Erbe“ im Begriffspaar Erb-Sünde. Ich bin bedingt in meinem Tun und unfrei. Dafür trage ich auch keine Verantwortung, da ich ja aus Zwang in diese Lage kam. Denke ich mich „gleichzeitig“ mit Adam, wird der Mythos also aufgehoben, dass durch den ersten Menschen ein Defekt ins Handeln-Können all seiner Nachfolger kam, dann bin ich frei. Ich muss dann aber auch die volle Verantwortung für mein Tun übernehmen. Jetzt überwiegt die „Sünde“ im Begriffspaar Erb-Sünde.

 

Die Menschheitsgeschichte könnte auch einen anderen Verlauf nehmen. Tut sie das? Kann der Begriff Angst etwas beitragen zur Aufhellung der heutigen Verstrickungs-Erlebnisse? Können wir, wenn wir die Angst um unser Fortkommen ablegen, diese Weltwirtschaft verändern? Können wir andern eine Chance geben? Vielleicht schon bei der nächsten Verhandlungsrunde im internationalen Handel?

 

Aus Notizen 2014

 

 

Katastrophenerfahrungen in der Bibel

Die Aufklärung hat die Menschen im 18. JH mit ihren Projekten begeistert, ihr Umschlag in die Schrecken der Revolutionszeit hat die Hoffnung traumatisiert. Immer wieder finden sich solche Umschlags-Phänomene nach historischen Gross-Ereignissen. Auch die Bibel erzählt von grossen Ereignissen. Zwei Katastrophen stehen in der Mitte des ersten und zweiten Testamentes. Sie prägen die Auffassung davon, was Wirklichkeit sei und wie die Hoffnungen der Menschen darin zur Geltung kommen. Psalm 89 bringt die Frage im Gebet vor Gott.

 

Die Katastrophe des Exils

In der Frühe, im Dunkeln vor dem Tag, höre ich Psalmen. Heute Psalm 89.

«Ich will singen von der Gnade des Herrn ewiglich und seine Treue verkünden mit meinem Munde…»

 

Das klingt nach einem ruhigen Psalm, der Gott lobt. Aber die Erfahrung lässt aufhorchen. Hier wird das Thema angegeben: Gnade, und das heisst wohl auch, sie wird problematisiert.

»Ich habe einen Bund geschlossen mit meinem Auserwählten, ich habe David, meinem Knechte, geschworen: Ich will deinem Geschlecht festen Grund geben auf ewig…»

 

Die Verheissung

Das ist die Davidsverheissung, eine der vielen Zusagen, die das Volk in seiner Geschichte erhalten hat und auf die es sich im Gebet beruft: Volksverheissung, Landverheissung, Davids-Verheissung, Bundes-Schluss…

«Wenn aber seine Söhne mein Gesetz verlassen und in meinen Rechten nicht wandeln, wenn sie meine Ordnungen entheiligen und meine Gebote nicht halten, so will ich ihre Sünde mit der Rute heimsuchen und ihre Missetat mit Plagen; aber meine Gnade will ich nicht von ihm wenden und meine Treue nicht brechen.»

Die Könige auf dem Davids-Thron werden erwähnt, die vom Bund abgewichen sind und bestraft wurden, die Königsbücher berichten davon. So ist das Nordreich untergegangen. Aber die Herrschaft in der Davids-Stadt besteht weiter.

«Ich will meinen Bund nicht entheiligen und nicht ändern, was aus meinem Munde gegangen ist. Eines habe ich geschworen bei meiner Heiligkeit und will David nicht belügen: »Sein Geschlecht soll ewig bestehen und sein Thron vor mir wie die Sonne…»

Über viele Zeilen geht es weiter, das Gotteslob. Am frühen Morgen bin ich darüber eingeschlafen. Aber plötzlich war ich hellwach:

«Aber nun hast du verstossen und verworfen und zürnst mit deinem Gesalbten!»

Also doch! Die Gnade, die auf ewig geschworen wurde, scheint vorbei. Der Bund, der nie brechen sollte, scheint aufgehoben.

«Du hast zerbrochen den Bund mit deinem Knecht und seine Krone entweiht in den Staub.»

Der Psalm ist ein grosses Nachdenken nach der Katastrophe des Südreichs, als auch Juda zerstört wurde und seine Bewohner ins Exil geführt.

«Du hast eingerissen alle seine Mauern und hast zerstört seine Festungen. (…) Du hast seinem Glanz ein Ende gemacht und seinen Thron zu Boden geworfen. Du hast die Tage seiner Jugend verkürzt und ihn bedeckt mit Schande. Wie lange, Herr, willst du dich verbergen und deinen Grimm wie Feuer brennen lassen? (…) Herr, wo ist deine Gnade von einst, die du David geschworen hast in deiner Treue?»

Da ist sie jetzt, die Gnade, die der erste Vers anstimmt und die der Betende besingen will. Aber alles, was er erlebt, was dem Volk widerfährt, läuft auf das Gegenteil hinaus. Jerusalem fällt, der Tempel wird zerstört, auch das Südreich Juda geht unter. Eine Wirklichkeit im Gegensatz zu allen Verheissungen! Die Geschichte scheint kein Ort mehr, die die Verheissung fassen kann, diese Wirklichkeit kein Ort, wo es eingelöst werden kann.

«Wo sind, o Herr, deine früheren Gnadenerweise, die du dem David in deiner Treue zugeschworen hast? Gedenke, o Herr, an die Schmach, die deinen Knechten angetan wird, die ich in meinem Gewand trage von all den vielen Völkern, mit der deine Feinde dich, Herr, schmähen, mit der sie schmähen die Fussstapfen deines Gesalbten! Gepriesen sei der Herr ewiglich! Amen, ja, Amen!»

 

Der Riss in der Wirklichkeit …

Es geht ein Riss durch die Wirklichkeit, wie der Beter sie erfährt. Die geschichtliche Erfahrung und das Vertrauen auf Gott, fallen auseinander. Und sie lassen sich nicht mehr wie in den Königsbüchern vermitteln durch das Konzept von Abfallen von Gott und Strafe. Die tiefsten Verheissungen, die tiefsten Erfahrungen von Geborgenheit in der Welt sind erschüttert.

Gott scheint seine Treue aufgehoben zu haben, seine Schwüre vergessen. Das schien so fest wie die Berge, so zuverlässig, wie die Sonne aufgeht. «Ich will ihm seinen Thron erhalten, solange der Himmel währt.» Die Davids-Verheissung scheint gebrochen. Trotzdem lobt der Betende Gott. Er muss die Erfahrung festhalten. Und er will die Intuition von Gott festhalten, auch wo beides auseinanderfällt.

Die Wirklichkeit, wie er sie erfährt, kann er nicht belügen. Dass es so etwas wie Gerechtigkeit gibt, ein Lebensrecht für alle Menschen, das ist eine Intuition, ohne die er auch nicht leben kann. So endet der ganze lange Psalm, die bittere Erforschung der Geschichte, der heiligen Überlieferungen, der Hoffnungen, die von einer Generation auf die andere übertagen wurden, nicht in Anklage, nicht in Selbstverfluchung, sie endet in einem Lob Gottes. «Gepriesen sei der Herr ewiglich! So sei es, ja so sei es!»

 

… und seine Vermittlung

Er muss die Erfahrung festhalten. Und er muss die Intuition von Gott festhalten, auch wo beides auseinanderfällt. Beides braucht es zum Leben. Die Lösung ist ein kontrafaktisches Festhalten an den Verheissungen – noch ist das Ende der Geschichte nicht da, dass sie sich nicht doch als wahr erweisen könnten! Es ist – gegen alle schreckliche Erfahrung – ein Vertrauen in einen Daseinsgrund, der sich jetzt zwar schrecklich zeigt, weil alles, worauf man hoffte, wovon man lebte, verloren ist. Aber Gott ist da, auch wenn er nicht zu sehen ist, er ist gegenwärtig, auch wenn man nichts von ihm fühlt, er trägt alles und er wird auch unser Leben wieder tragen, wenn wir nur das Vertrauen nicht fahren lassen. – Und ich brauche ihn jetzt!

 

Die Katastrophe der Kreuzigung

Es ist ein Vertrauen, das kontrafaktisch gefunden wird, ohne Anhalt an der sinnlichen Erfahrung. Es ist ein Glaube, wie er am Karfreitag unter dem Kreuz gefunden wird. Da ist alles, was Menschen vermögen, am Ende. Aber unter dem Kreuz, wenn Gewalt und Unrecht sich ausgetobt haben, in der Stille, wenn das Tun des Menschen verhallt, ist das andere spürbar: das, was allem Leben vorausgeht, was es trägt, was es möglich macht, früher und auch in Zukunft. Und es ist auch jetzt da, man muss nur hindurchsehen durch den Schleier der schlechten Erfahrung, man muss nur auf Gott sehen, der alles trägt und dem wir unser Leben anvertrauen, was immer auch wird, denn bei ihm sind wir aufgehoben über alles hinaus, was die Welt geben oder absprechen kann.

 

Traumatisierung und Vermittlung

Der Versuch, ein eigenständiges und eigenstaatliches Leben zu führen, wird wieder und wieder enttäuscht. Jetzt scheint er den letzten Schlag erhalten zu haben. Das Freiheitsstreben wird traumatisiert.

Was es sich ersehnt, was es an Hindernissen erfährt, das wird vermittelt im Glauben an Gott. Das geschieht kontrafaktisch, gegen alle Erfahrung. Führer ist die Intuition, dass es letztlich zusammenstimmt: das Sehnen und Erreichen, das Aufstehen und Ankommen, das Wollen und Vollbringen, die Werte und die Welt, wie sie sich darstellt.

Letztlich wird die Welt sein, wie sie von Gott gedacht ist.[4] Sein und Sollen sind versöhnt, was die Bibel mythologisch ausdrückt in den zwei Bäumen von Erkenntnis und ewigem Leben. Seit Adam hat der Mensch nur vom einen Baum gegessen, er weiss, was er soll. Aber dank der Erlösung in Jesus Christus, nach christlichem Glauben, hat er Zugang zum andern Baum. Der steht in dem andern Garten am Ende der Geschichte, da sind Früchte des ewigen Lebens. Und wenn der Mensch davon isst, kann er was er soll.

Was ihn hinderte, das ist im ersten Testament beschrieben worden als «Hartnäckigkeit» [5] in einer Erfahrungsgeschichte, die zunehmend skeptisch beurteilte, dass der Mensch erfüllen kann, was er soll. Paulus sprach vom Widerspruch von Geist und Fleisch. In der Taufe haben wir schon Anteil an der neuen Welt. Doch leben wir noch in der sinnlichen Welt, wo das Fleisch dem Geist widerstrebt. So hindern wir uns selbst. Und wir können uns selber zuschauen, wie wir tun, was wir nicht wollen, und was wir sollen, lassen wir.

 

Erbsünde und Endversöhnung

Augustinus hat das im Konzept der «Erbsünde» formuliert. So ist es vielleicht verständlich, hinter dem Konzept der Erbsünde diese Erfahrungsgeschichte zu sehen: wie Menschen wollen und nicht können; wie ganze Völker aufbrechen, und Gott scheint mit ihnen, aber sie kommen nicht ans Ziel; wie Menschen beten und auf Gott vertrauen, aber sie verstossen selber gegen das, was sie erbeten. Die «Erbsünde» sagt nicht einfach die Unmöglichkeit aus. Das ist nur eine Erfahrung, die sie aufnimmt. Sie hält aber auch an der Intuition fest, dass es gelingen soll, dass Welt und Werte nicht immer unversöhnlich auseinanderfallen. Um es mit biblischen Bildern zu sagen: Am Ende wird Gott alle Tränen abwischen. Er tröstet die Traurigen, ermutigt die Verzweifelten, richtet die Gedemütigten auf. Er macht das Krumme gerade und bringt alle Verlorenen zurück.

 

 

Rückblick

Ende oder Transformation

Das Konzept der „Erbsünde“ hat den Charme einer uralten Debatte. Das allein reicht nicht, um sie wieder hervorzuholen. Aber wir haben einen neuen Zugang zu den alten Debatten. Sie werden verständlich gerade heute, angesichts der Engpässe der zivilisatorischen und globalen Entwicklung.

Das Konzept der Erbsünde kann beschreiben, wie man „unschuldig schuldig“ wird und dass es auch „objektive Schuld“ geben kann (obwohl „Schuld“ und „Sünde“ ursprünglich subjektive Kriterien sind, eine Frage der persönlichen moralischen Entscheidung). Es gibt Verstrickungen, die das Handeln-Können so lähmen und vorbestimmen, dass es notwendig in die falsche Richtung läuft und kein individuelles Aussteigen mehr möglich ist.

Endet diese Dynamik erst, wenn die Verstrickung als Ganzes ausläuft, wenn der gordische Knoten einer falschen Entwicklung zerhauen wird? Ist keine Transformation des Systems denkbar? Und wenn doch, wann könnte diese wirksam werden? Reicht die Zeit?

 

Richtig leben im falschen

Bereits heute brauchen wir eine Antwort. Wir müssen auch „im Falschen“ leben können, so lang es dauert. Wir sind misstrauisch gegen alle Versprechungen vom „Wahren“, nachdem diese der westlichen Welt totalitäre Systeme beschert haben (und nicht nur der westlichen Welt, diese hat auf den ganzen Globus ausgegriffen, weshalb Gegenkonzepte sich heute so oft gegen den „Westen“ richten).

Die kulturelle Antwort ist ein „softer“ Weg, er kostet nicht viele Ressourcen, kann aber gewaltige Kräfte entfalten. V.a. kann er die Lücke schliessen, die der heutige zivilisatorische Weg gerissen hat, wodurch er immer mehr von den sozial-kulturellen Grundlagen zerstört, von denen er lebt. So kann er kein Vertrauen erzeugen, obwohl das Wirtschaftsleben elementar davon abhängt. Es müssen nur die Sparer in Griechenland ihre Banken stürmen (weil sie kein Vertrauen mehr in sie haben), so geraten diese in Bankrott und die Wirtschaftskrise wird zur Eurokrise. Die sozialen und politischen Begleiterscheinungen dieser ökonomischen Krisen hat Europa und die Welt in den letzten Jahren erlebt.

Kredit kommt von credere, glauben, vertrauen. Es ist eine der wichtigsten moralisch-religiösen Ressourcen der Gesellschaft in ihrer wirtschaftlichen, politischen und sozialen Existenz. Es betrifft nicht nur die Wirtschaft. Auch den Vertrauensverlust der Bevölkerung in ihre Eliten und Institutionen haben wir erlebt. Die Folgen sind Staatsverdrossenheit, Wahlabstinenz oder die Wahl von Jux- und Protestparteien. Wir sehen die Zersplitterung der Parlamente, die in Geiselhaft von extremen Kleinstparteien geraten, Bürgerwehren, Selbstorganisation in mafiösen Gruppen, Abspaltungstendenzen, „gated communities“, zerfallende Staaten.

 

Der Mensch und Gott

So habe ich das Konzept der Erbsünde kennengelernt von den Engpässen der ethischen Diskussion her. Es erscheint auch im Kontext der Theodizee-Debatte. Woher kommt das Leid, das Unheil, wenn Gott gut und allmächtig und vollkommen ist? Wenn die Spaltungen nicht mehr zu überwinden sind, wenn die Grenzen sich nicht mehr vermitteln lassen, wenn das Unheil nicht integriert werden kann, kommt es oft zur Aufspaltung Gottes (in Teufel, Mächte etc.). Eine Alternative dazu ist die „Erbsünde“. Der Mensch bringt den Umschlag von Freiheit in Unfreiheit und damit die Verstrickung.

 

Vermittlung und Versöhnung

Ich habe das Konzept der Erbsünde kennen und schätzen gelernt von den Engpässen der Autonomie her. Die Erbsünde lässt das Ineinander von Schuld und Unschuld begreifen: wie Freiheit in Zwang umschlägt, so dass man handelt, wie man nicht will, und nicht handelt, wie man will. Und man wird „beim besten Willen schuldig“, weil das Handeln sich in Institutionen und Gewohnheiten objektiviert und auf das Handeln zurückschlägt.

 

Das gilt für das Individuum in den Prägungen seines Charakters, in dem frühe Entscheidungen weiterleben und das zukünftige Leben bestimmen, weil die frühen Prägungen nur schwer zu verändern sind. Das gilt für die ganze Zivilisation, für den Entwicklungspfad, den die Menschheit genommen hat. Sie greift intensiv in die natürlichen Lebensgrundlagen ein und entfaltet sich extensiv über den Globus. Es ist ein Weg der technisch-instrumentellen Gestaltung aller Lebensbedingungen. Es ist ein Integrations-Weg, der alles erfasst und erfassen muss, obwohl dieser Weg zur Universalisierung mittels technischer Zivilisation an sich selber fast zerreisst, weil er immer neue ökologische und soziale Disparitäten erzeugt.

 

So entsteht die Frage nach einer anderen Form von Universalisierung, wie die „Ganzheit“ des Menschen gedacht, erfahren und gelebt werden kann. Gesucht ist ein Weg, der unterscheiden kann zwischen verschiedenen Formen der Vermittlung. Es gibt Grenzen, die man technologisch aufheben oder hinausschieben kann (beim Individuum z.B. durch medizinische Behandlung), es gibt Grenzen, die man akzeptieren muss (beim Individuum. z.B. den Tod) und wo eine kulturelle Antwort nötig ist: sich verstehen lernen aus einer nicht hergestellten „Ganzheit“ und diese symbolisch repräsentieren in Form von Gott, Glaube und Hoffnung. Das ist der Weg der vormodernen Kulturen, sie stellen einen Traditionsschatz bereit von Hilfsmitteln der religiösen Existenz: Gebet, Vergemeinschaftung im Glauben und diakonische Hilfe etc.

 

Verantworten und Vertrauen

Der letzte Abschnitt weckt vielleicht das Missverständnis, als ob man Bereiche abtrennen könnte, wo entweder die Ethik oder der Glaube zuständig wäre. Als Lebensvollzug können Vertrauen und Verantworten aber nicht auf bestimmte Provinzen des Daseins begrenzt werden. Vertrauen will immer vertrauen, verantworten immer verantworten.

Das Verhältnis besteht nicht darin, dass Glaube dort anfängt, wo Ethik aufhört. Wer glaubt, gibt nicht nur Tod und Leben in Gottes Hand, er übergibt im Gebet alles Gott und erhält es von ihm zur Gestaltung zurück. Aber er weiss sich jetzt aufgehoben in einem Ganzen, das er nicht herstellen muss (das würde ihn überfordern), wo ihm aber eine Aufgabe zukommt. Diese ist menschgemäss, er muss nicht an die Stelle Gottes treten und die Daseinsbedingungen verantworten wollen.

Verantworten, Ethik, endet in Überforderung und Resignation, wo die ersten Bedingungen des Daseins nicht ins Vertrauen gesetzt werden können. Und ein Vertrauen, das keine Folgen im Handeln hat, stirbt ab. So bedingen sich Vertrauen und Verantworten, Ethik und Glaube, gegenseitig. Man könnte es in die Maxime fassen: Handle, als ob es nur von dir abhinge, und vertraue dabei, als ob es nur von Gott abhinge.

 

Zum Schluss

Erbsünde und Freiheit? Das scheint wie die Faust aufs Auge. Beschreibt die Erbsünde nicht die «völlige Verderbnis der menschlichen Natur»? Wo Freiheit verneint wird, ist sie oft verborgen, in einer entstellten Gestalt, in Form von enttäuschten Hoffnungen, als Nachdenken, woher die Unfreiheit denn stammt und wie sie zu heilen wäre. Erbsünde, das die Vermutung dieser Texte, ist die Suche nach Freiheit unter der Bedingung von gegenteiligen Erfahrungen.

So wird das Dogma der «Erbsünde» heute kaum noch diskutiert, die Frage ist aber aktuell, wie Freiheit möglich sein soll in einer Welt, wo menschliches Handeln mehr und mehr auf sich selbst zurückschlägt, wo die vergangenen Taten, die aus Freiheit entsprangen, wie Naturzwang zurückkehren und den Menschen gängeln und Alternativen abschneiden. In der Klimakrise ist das ein allgemeines Lebensgefühl geworden.

 

Die Frage nach dem rechten Leben

Wie Handeln möglich sei, was ein gutes, richtiges Leben sei, diese Frage begegnet in den ältesten Kulturen. Es ist eine zentrale Frage der heiligen Bücher. In antiken Mythen wird die Ursprungswelt als gut dargestellt, die Uebel werden dem Menschen angelastet. Die Sintflut-Erzählung, wonach Gott die Welt wegen ihrer Verderbtheit untergehen lässt, findet sich in verschiedenen Kulturen. In der Bibel wird der Mythos vom Sündenfall vorangestellt, die Erzählung, wie es Gott «reute», dass er die Welt geschaffen hatte [6] und wie er mit Noah einen neuen Anfang machte.

Die folgenden Bücher der Bibel berichten von der Geschichte des Volkes, von dem Weg, von den Hoffnungen und Rückschlägen. Immer wieder mischt sich die Reflexion der Propheten in die Berichte. Woran liegt es, wenn ein Vorhaben gelingt oder misslingt, wenn Fortschritte oder Rückschläge erfolgen?

In der Bibel, die Stimmen aus vielen Jahrhunderten vereint, wird die Frage zunehmend skeptisch beurteilt. Beim Propheten Hosea beklagt sich Gott über den Menschen, er sei wie ein verzogener Bogen. Man treffe damit nicht ins Ziel, auch wenn man noch so genau ziele. [7] Im ersten Testament lässt sich über die vielen Jahrhunderte seiner Entstehung eine «Schuldvertiefung» beobachten. Wird am Anfang ein Tun geboten, im Sinn einer Lebensregel, wächst bald die Einsicht: der Mensch kann nicht, wie er soll. Der Pfeilbogen ist verzogen.

Die Gebote werden jetzt negativ formuliert: «Du sollst nicht…!» heisst es im Dekalog, der diese Erfahrung in einer für Jahrhunderte geschichtswirksamen Form festhielt. [8] Etwas nicht zu tun, das kann man gebieten, das steht dem Willen frei. Aber etwas zu tun, das kann man nicht einfach anordnen. Die Bedingungen stehen dem einzelnen nicht immer zu Gebot. Eine autoritative Festlegung würde den einzelnen in tausend Konflikte und Versagens-Ängste stürzen und eine Psyche heranbilden ohne Vertrauen auf Autonomie und Selbstwirksamkeit.

Die christliche Lehre nimmt mit dem ersten Testament die Erfahrung der Schuldvertiefung auf: der Mensch kann nicht wie er soll. Neben die Ethik tritt die Verheissung einer Erlösung. Schon das erste Testament sprach von einer «neuen Schöpfung», wo Gott dem Menschen «die Gebote ins Herz schreibt», damit er kann, wie er soll.

Aber steht dem Menschen die Welt nicht offen? Ist sie nicht eine Bühne für sein Tun? Die Welt der Bibel und die Antike haben gleichermassen Erfahrungen gemacht, die den Glauben ans Wirken und Handeln erschüttert und den Sinn für Freiheit traumatisiert haben. Israel wurde durch seine Lage im «fruchtbaren Halbmond» immer wieder von benachbarten Grossmächten überrollt. Das salomonische Reich zerfiel, die Nachfolgestaaten im Norden und Süden, Israel und Juda, wurden zerstört, die Bevölkerung ins Exil getrieben. Das römische Reich, das erst wie ein Erbe aller vorangehenden Grossreiche auftrat und alle Territorien in sein Reich aufnahm, zerfiel in der Spätantike. Das Echo, das dieser unerhörte Vorgang auslöste, ist auch bei Augustinus zu sehen, der sein optimistisches Weltbild revidierte. Der Kirchenvater Hieronymus fragte: «Wenn Rom zerfällt, wer kann da noch sicher sein?»

 

Die Moderne hat ähnliche Erfahrungen gemacht, in denen das Freiheitsstreben erschüttert und traumatisiert wurde: die Aufklärung war das Freiheitsprojekt der Moderne und die Französische Revolution der erste Versuch, dieses in die Praxis umzusetzen. Viele Menschen in ganz Europa blickten hoffnungsvoll auf dieses Experiment. Umso grösser war die Erschütterung, als die Revolution in Terror umschlug und das Wechselbad der Staatsformen, die sich in rascher Folge ablösten, erst in der Diktatur eines «Empereurs» zu einer gewissen Ruhe fand. Er bezog die Schlösser des gestürzten Adels und übertraf die Monarchie mit seinem «Empire», das er über ganz Europa ausbreitete. Um seine Herrschaft zu stabilisieren, war er auf militärische Erfolge angewiesen. So übertrug sich nicht nur die Unruhe der Revolution auf das übrige Europa, sondern auch der Lärm von gewonnen und verlorenen Schlachten. Und das Militär wurde zu einem Garanten innerer Herrschaft gegenüber weitergehenden revolutionären Bestrebungen. [9]

Damit war nicht nur die erhoffte Freiheit in ein neues Untertanenverhältnis umgeschlagen, die Vernunft, der man zugetraut hatte, die menschlichen Verhältnisse rational zu regeln, hatte in Terror und Bürgerkrieg eine unbekannte Fratze gezeigt und Gräuel von Gewalt, Revanche und Sadismus zutage gebracht. Freiheit war in Unfreiheit umgeschlagen.

Eine ähnliche Erfahrung machen die Menschen heute im Klimawandel, wo das Tun des Menschen auf sich selbst zurückwirkt, wo die Freiheit als Naturzwang zurückkehrt. So gibt es vielleicht ein Interesse an dem alten Thema «Erbsünde», das nicht nur ein Unding aus der christlichen Sündenlehre ist, mit dem niemand zu tun haben will.

 

Eine Freiheitsgeschichte

In der «Erbsünde» steckt die menschliche Freiheitsgeschichte, die Hoffnung, die damit verbunden war. Darin stecken aber auch die Enttäuschungen und – schlimmer noch – die Traumatisierungen, wenn schmerzlich ersehnte Freiheitsprojekte in Zwang umschlugen, wenn Menschen malträtiert und beiseitegeschafft wurden. Darin steckt das Erschrecken, die Angst des Menschen vor sich selbst, wenn die Vernunft ein dunkles Gesicht zeigte: den Gewaltcharakter, den sie annimmt, wenn Dinge und Menschen sich nicht fügen, wenn sie sich widerständig zeigen. Es ist nicht nur die «Bosheit», die sich im Widerstand zeigt. Der Pfeilbogen ist verzogen. Der Mensch kann nicht einfach, wie er soll.

Im Konzept der «Erbsünde» steckt ein jahrtausendealtes Nachdenken über menschliches Handeln und wie es gelingen kann, trotz aller Widerstände, die von aussen kommen, die aber auch aus dem Menschen selber stammen. So versucht die «Erbsünde», die Freiheit zu retten, indem sie diese mit dem Gegenteil vermittelt, der absoluten Abhängigkeit im Vertrauen auf die Güter des Lebens und die Bedingungen des Daseins, die dem menschlichen Tun vorausliegen. Vertrauen wird so zu einer Kraft, es ist keine leere Formel. Es begrenzt die Autonomie nicht, sondern macht sie möglich, auch dort, wo diese an einer absoluten Grenze ansteht.

 

Befreiung

Im Glauben sind auch Tod und Leben keine letzten Hindernisse, sie sind aufgehoben bei Gott in einem Symbol, wo Sein und Sollen zusammenfinden. «Glauben» als religiöse Praxis ist ein aktives Vertrauen auf das Zusammenstimmen der Gegensätze, auch in den Erfahrungen, die einen Riss durch die Welt zu treiben scheinen. Es ermutigt das Tun, ermöglicht Verantwortung, trägt die Intuition eines autonomen Lebens. Es verhindert dieses nicht, sondern ermöglich es und befreit es aus seinen lähmenden Gegenerfahrungen.

 

Anhang

Erbsünde in einem reformierten Bekenntnistext

Um die optimistische oder pessimistische Beurteilung der Welt und des Menschen wurden auch in der Kirche seit der Antike weltanschauliche Kämpfe ausgefochten. Ist dem Menschen von der Schöpfung her noch eine Freiheit des Willens geblieben oder ist diese völlig korrumpier? Kann er das Heil nur durch Gnade und Erlösung erlangen oder gibt es eine gewisse Mitwirkung daran? Der reformatorischen Lösung «sola fide, sola gratia» wurde verdächtigt, den Ernst der ethischen Forderung zu untergraben.

Im Streit um das richtige Verständnis des christlichen Glaubens wurde dieser oft in Bekenntnistexten ausformuliert. Grosse Verbreitung in reformierten Kirchen fand der Heidelberger Katechismus, der 1563 in Heidelberg gedruckt wurde. Hier finden sich (in Frage und Antwort) eindrückliche Texte zur Erbsünde:

 

Der erste Teil
Von des Menschen Elend
Woher erkennst du dein Elend?
Aus dem Gesetz Gottes.

Was fordert denn Gottes Gesetz von uns?
Dies lehrt uns Christus mit folgenden Worten:

 

»Du sollst den HERRN, deinen Gott,
lieben von ganzem Herzen,
von ganzer Seele
und von ganzem Gemüt.
Dies ist das höchste und größte Gebot.
Das andere aber ist dem gleich:
Du sollst deinen Nächsten lieben
wie dich selbst.
In diesen beiden Geboten
hängt das ganze Gesetz und die Propheten.«

 

Kannst du das alles vollkommen halten?
Nein, denn ich bin von Natur aus geneigt, Gott und meinen Nächsten zu hassen.

 

Hat denn Gott den Menschen so böse und verkehrt erschaffen?
Nein. Gott hat den Menschen gut und nach seinem Ebenbild erschaffen, das bedeutet: wahrhaft gerecht und heilig, damit er Gott, seinen Schöpfer, recht erkenne, von Herzen liebe und in ewiger Seligkeit mit ihm lebe, ihn zu loben und zu preisen.

 

Woher kommt denn diese böse und verkehrte Art des Menschen?
Aus dem Fall und Ungehorsam unserer ersten Eltern Adam und Eva im Paradies.
Da ist unsere Natur so vergiftet worden, dass wir alle von Anfang an Sünder sind.

 

Sind wir aber so böse und verkehrt, dass wir ganz und gar unfähig sind zu irgendeinem Guten und geneigt zu allem Bösen?
Ja, es sei denn, dass wir durch den Geist Gottes wiedergeboren werden.

 

Tut denn Gott dem Menschen nicht Unrecht, wenn er in seinem Gesetz etwas fordert, was der Mensch nicht tun kann?
Nein, sondern Gott hat den Menschen so erschaffen, dass er es tun konnte. Der Mensch aber, vom Teufel angestiftet, hat sich und alle seine Nachkommen durch mutwilligen Ungehorsam der Gabe Gottes beraubt.

 

Will Gott diesen Ungehorsam ungestraft lassen?
Nein, sondern er zürnt schrecklich über die sündige Art des Menschen und seine sündigen Taten. Beides will er nach seinem gerechten Urteil schon jetzt und ewig strafen, wie er gesprochen hat:

 

»Verflucht sei jeder,
der nicht bleibt bei alledem,
was geschrieben steht in dem Buch des Gesetzes,
dass er’s tue!«

 

Ist denn Gott nicht auch barmherzig?
Gott ist wohl barmherzig, er ist aber auch gerecht. Deshalb fordert seine Gerechtigkeit, dass die Sünde, die Gottes Ehre und Hoheit antastet, mit der höchsten, nämlich der ewigen Strafe an Leib und Seele gestraft wird.

Quelle: https://www.ekd.de/ekd_de/ds_doc/heidelberger_katechismus.pdf

 

 

 

 

 

Erbsünde? Das scheint eine alte Debatte, aber die Symptome,
wie sich das anfühlt, das wird heute weit geteilt.
Das ist das Lebensgefühl in der Klimakrise,
wo menschliches Handeln sich vom Willen des Menschen emanzipiert und auf ihn zurückschlägt.

 

Es ist ein fremdes Werk, er kann sich darin nicht
wiedererkennen. Was als Freiheit begann,
die Geschichte der menschlichen Zivilisation,
schlägt in Naturzwang um und begegnet uns
in Form von Überschwemmungen, von Dürren,
von Stürmen und Tornados, die in wenigen Minuten
ganze Häuserzeilen ausradieren.

 

 

Peter Winiger, Grampenweg 33, CH-8180 Bülach – info@vongotterzaehlen.ch
www.vongotterzaehlen.ch

 

[1] Die Erzählung von «Dorian Gray» gibt eine moderne Ausgestaltung dieser religiösen Tradition.

[2] Als Beispiel Jeremia 31,31ff: «Siehe, es kommen Tage, spricht der Herr, da ich mit dem Haus Israel und mit dem Haus Juda einen neuen Bund schliessen werde; nicht wie der Bund, den ich mit ihren Vätern schloss an dem Tag, da ich sie bei der Hand ergriff, um sie aus dem Land Ägypten herauszuführen; denn sie haben meinen Bund gebrochen, obwohl ich doch ihr Eheherr war, spricht der Herr. Sondern das ist der Bund, den ich mit dem Haus Israel nach jenen Tagen schliessen werde, spricht der Herr: Ich will mein Gesetz in ihr Innerstes hineinlegen und es auf ihre Herzen schreiben, und ich will ihr Gott sein, und sie sollen mein Volk sein.»

[3] Das kontaminierte Kühlwasser wurde in Tanks aufgefangen und muss jetzt ins Meer abgelassen werden, was den Protest der Anrainerstaaten auslöst.

[4] Am siebten Tag heisst es im Schöpfungsbericht: Und Gott sah alles an, was er geschaffen hatte, und siehe, es war sehr gut!» (Gen 1,31)

[5] «Schwer von Nacken» – Gott beklagt sich beim Propheten, die Menschen seien schwer zu lenken wie zwei Ochsen, die den Pflug ziehen.

[6] Genesis 6,5 Als aber der Herr sah, dass der Menschen Bosheit gross war auf Erden und alles Dichten und Trachten ihres Herzens nur böse war immerdar, 6 da reute es den Herrn, dass er die Menschen gemacht hatte auf Erden, und es bekümmerte ihn in seinem Herzen, 7 und er sprach: Ich will die Menschen, die ich geschaffen habe, vertilgen von der Erde.»

[7] Hosea 7,16

[8] Aus dem Dekalog: „Du sollst nicht töten.“ „Du sollst nicht die Ehe brechen.“ „Du sollst nicht stehlen.“ etc. (Ex 20, 2-17, Dtn 5, 6-21). Positiv formuliert ist das Sabbatgebot. Den Sabbat halten heisst, Gott die Ehre geben, er trägt und erlöst die Welt, er versöhnt die Brüche, er vermittelt Sein und Sollen. Das Ehren der Eltern hat eine Verheissung bei sich: «Ehre deinen Vater und deine Mutter, damit du lange lebst in dem Land, das der Herr, dein Gott, dir gibt!“

[9] Vgl. den Aufstand der Pariser Kommune von 1871.

Gebet

Gott, ich weiss, dass Du da bist!
Ich höre Dich nicht, aber ich weiss es gegen alles Schweigen!
Ich sehe dich nicht, aber ich weiss es gegen alles Dunkel!
Ich spüre Dich nicht, aber ich weiss es gegen alle Beweise meiner Hand, die ins Leere tastet.

Ich weiss es einfach, und damit weiss ich was „Wissen“ ist.
„Wissen“ ist einzig und allein diese Gewissheit, mit der ich Dich weiss.

Alles andere ist nur Panik, Illusion, falsche Beweise.
Mein Stolpern beweist nichts, meine Hände stolpern wie die Beine,
die Augen irren wie die Hände…

Lieber Gott, führe mich, hier meine Hand.
Ich bitte – ich weiss, du wirst mir geben.
Ich klopfe an – Du machst auf.

Du bist, ich bin. Weiterlesen

Ich lese von jemandem, der seinen Grossvater sucht. In seiner Familie ist auf Vaterseite alles klar, auf Mutterseite nicht. Ich lese es atemlos, obwohl es kunstlos aufgezählt wird. Diese Frage hat eine Notwendigkeit bei sich, da ist es egal, wie es literarisch daherkommt. Weiterlesen

Vorwort

Dieser Text kommt daher wie ein Stein, er wirkt abweisend wie ein Gestrüpp.

Damit schütze ich ihn vor mir selbst. Ich fürchte Ablehnung, will gefallen – schon neige ich mich nach links und rechts und schreibe krumme Zeilen.

Darum setz ich mich auch nicht hin, um ein „Buch“ zu schreiben. Ich folge den Texten, die sich angesammelt haben in meinem Leben. Sie wissen nichts von dem Titel, sie wollen nichts beweisen und haben ihr Unschuld bewahrt. So kann ich sie nachträglich befragen, was es denn damit auf sich habe: mit innen und aussen, was das ausbringen soll an Erkenntnis. Lässt sich das Leben besser verstehen?

Es sind jedenfalls spannende Fragen. Irgendwann ist mir aufgegangen, dass das in meinen Texten, im Tagebuch, in beruflichen Texten auftaucht, und dass da etwas dranhängt. Darum nahm ich, als ich pensioniert wurde, einige Texte, die ich mit einer Suchmaschine fand, indem ich das Wort „aussen“ eingab, und stellte sie zusammen.

Das Ergebnis liegt hier vor.  Es war spannend für mich, einem (meinem) Lebenslauf zu folgen unter diesem Blickwinkel. Im Nachwort nahm ich das Bewusstsein dazu, das ich bei der Sammlung der Texte ausschalten wollte, und begann, die Texte zu befragen. Was sagt das nun aus über ein Leben, wenn man ihm „innen“ und „aussen“ folgt? Was zeichnet sich ab, was sich mit anderen Fragestellungen nicht so leicht finden liesse? Und Fragen gibt es ja genug, jede Wissenschaft hat eigene Fragen, eine eigene Neugier.

Gern würde ich einen Namen unter dieses Vorwort setzen. Das Buch wäre dann kein Stein mehr. Der Autor wäre gefällig, die Angst vor Ablehnung käme zurück. Ich verlöre mich im Gestrüpp der Erwartungen, denen ich immer schon gefolgt bin, bis ich nicht mehr wusste, was es denn ist, um das es geht im Leben.

XY

 

«Meine Psyche enthält das Labyrinth in sich. Darum ist nichts verloren, egal, ob ich zuerst ins Zentrum vorstosse oder aussen herum gehe.

Ich muss wohl alle Wege in diesem Labyrinth abschreiten. Also ärgere Dich nicht um ein vertanes Leben. Es ist immer ganz und eins. Auch wenn ich nur die Bruchstücke sehe, auch wenn es mir in der Mitte zerbricht.

Aber die Mitte ist da, und ich kann mich hineinstellen. Und dort erfahre ich das Ganze. Dort ist Gegenwart und Schauen. Dort zeigt Gott dem Moses das gelobte Land.

6. Juli 2013

 

 

Kurzes Inhaltsverzeichnis

 

Afrika oder der Weg nach innen. 4

Ich kann nicht stillhalten. 6

Der Traum.. 19

In Blaubarts Zimmer 28

«Suchweg der Seele». 34

Im Labyrinth. 45

Der Innere Altar 52

Innen und Aussen. 63

Vom Umrunden des Berges. 78

Neue Infragestellung. 92

Weltinnenraum.. 103

Das Leben besichtigen. 121

Nachwort 123

 

 

Afrika oder der Weg nach innen

 

  1. Oktober 1991

Zurück von einer Wanderwoche im Jura. Meist kamen wir am Regen vorbei. Auf dem Weg nach St. Ursanne mussten wir mehrmals umsteigen, mit schlechten Verbindungen. In Delémont hatten wir Zwischenhalt. Wir hasten beim Regen über die Strasse zu einem Café, um dort die Zeit zu überbrücken.

Zunächst scheint es, als ob wir in eine enge Welt eingedrungen seien. An einem freigewordenen Tisch räumt die Serviertochter das Geschirr weg. Sie unterhält sich mit dem Mädchen am Buffet. Der Geruch von Kaffee, die Geräusche erinnern mich.

 

Zauber
Das ist wie im Tea-Room meiner Eltern! Wie damals, als ich ein kleiner Junge war! Die Serviertochter wäre mir nicht fremd wie jetzt, wo ich als Tourist dasitze, an „Tisch drei“. Sie würde mir ein Lächeln schenken oder auch nicht, ich würde jedenfalls dazugehören: zu dieser Lebens- und Arbeitsgemeinschaft, die „Tea-Room“ heisst.

Eigentlich ist es wie damals, diese jetzige Zeit ist nicht zum vornherein abqualifiziert, weil sie nicht mehr zur Kindheit gehört und zu den goldenen Tagen. Sie hat noch die Offenheit, zu einer Kindheitszeit zu werden: für Kinder, die kommen, für jeden, der offen ist, sie zu leben wie ein Kind – aufnahmefähig, prägefähig, offen, empfindsam, neugierig auf sie zugehend.

Die vertrauten Verrichtungen, die bekannten Geräusche – als ob die Zeit aufgehoben wäre. „Le Café mystique et plastique“ sage ich später zu Antonia und frage sie, ob sie sich vorstellen könnte, statt Frau eines Pfarrers zu werden ein Café zu führen.

 

Zeit-Maschine
Diese Gegenwart hat eine Tür zur Kindheit, aber – als Gegenwart – auch eine Tür zu mir. Diese Verbindungstür möchte ich finden! Ich will nicht in die Kindheit zurück, sondern in die Gegenwart – aber so, wie ich in der Kindheit fähig war, Gegenwart zu leben.

 

 

Ich möchte in der Jetzt-Zeit leben. Die Kindheit der Erinnerung ist ein Modell behüteten Lebens – die Eltern lebten noch, die Familie war beisammen. Ein solches Modell besteht in einem verkleinerten Massstab, daher ist es ein „Modell“, nicht die Wirklichkeit selbst. Paradox: Ich gehe in das Modell hinein, in die Vergangenheit – und ich lande in der Gegenwart. Je tiefer ich ins Modell hineingehe, desto grösser wird es – bis es Massstab eins zu eins ist. Ich bin ganz eingetaucht, wie damals, oder umgekehrt: Was war, ist jetzt. Ich lebe mit demselben Gefühl, mit derselben Wachheit – mit demselben unenttäuschten Vertrauen.

Ich möchte umblättern, wieder anknüpfen, einen dicken Strich ziehen – nicht neu anfangen, sondern weiterfahren wo ich schon mal war – einfach sein. Dass das Leben wieder „Poesie“ enthält, auch im Schrecklichen. Poesie nicht als Anschein von heiler Welt. Aber auch nicht jene furchtbar biedere Sicht der Welt, die alles in Schuldbewusstsein taucht – die angebliche Allverantwortung, Allzuständigkeit, die doch nur lähmt und sich nur in Verdrängung retten kann, das Gegenprinzip von „Poesie“.

 

Mein letzter „Aufbruch“, das war in Bern, als ich die Arbeit im zweiten Beruf aufnahm und den Schock etwas überwunden hatte: die Scheidung, das Misstrauen, den Misserfolg bei der ersten Stelle. Ich wollte „zeigen, dass ich‘s kann“. Als es so weit war, als ich das Gefühl hatte, ich hätte genug „Karriere“ gemacht, ging die Motivation verloren. Die Sklaverei war zu Ende. Und das Interesse wandte sich nach innen. Es war wie eine andere Türe, die aufging.

Ben aus der WG fuhr mit seiner Freundin per LKW durch Italien nach Afrika. Ich teilte seine Unternehmungslust, aber ich fuhr nicht mit. Ich machte mich auf eine Reise in die Vergangenheit – oder in das, was sich innerlich bei mir anmeldete, was angesehen werden wollte.

 

 

Ich kann nicht stillhalten

 

  1. Juli 1983

Es sind Ferien. Aber ich habe nicht die Ruhe, mich hinzusetzen, mein Leben auszubreiten und alles anzuschauen. Morgens wälze ich mich im Bett, um die verantwortete Zeit hinauszuschieben, bis der Mechanismus des Morgenessens und Aufstehens das Strukturieren und die „Verantwortung“ übernimmt. (Habe ich Angst, meinen grossen Anforderungen nicht genügen zu können?).

Dann ist es bald Mittag, ich stelle mich dem bürgerlichen Tag. Jetzt ist Pause, bald gehen die Büros wieder auf. Es ist Zeit, dieses oder jenes zu tun. Ich lasse mir die Struktur von aussen geben, noch schlimmer, ich rette mich in diese Fremdbestimmung, weil ich fühle, die Verantwortung freier Entscheidung nicht tragen zu können, mich als Versager fühlen zu müssen, wenn nichts dabei herauskommt.

Und bald ist es Abend, eine emotionell aufgeladene Tageszeit, in der Sehsüchte und Ängste erwachen, wo der Sog zwanghafter Empfindungen und Reaktionsweisen noch viel stärker ist. Lähmt mich am Morgen die Angst vor der Verantwortung, so ist es am Abend der Zwang, Anschluss zu finden.

Es ist aber gut, dass ich dieses Experiment mache: Ich habe vieles über mich erfahren, was ich nicht wusste oder längst gelöst glaubte. In Gesprächen taucht es etwa auf in dem typischen Satz: „Ja, das hat mir früher auch grosse Mühe gemacht“. Vor allem die Rolle der Ängste ist geradezu phänomenal. Dass ich bei solchen Korsetts und Zwangsjacken überhaupt noch atmen kann! Mit solchen Fussangeln und Abgründen kann man nicht gerade gehen, nur verkrüppelt humpeln. Und so was träumt von autonomer Lebensgestaltung!

 

 

Sieht aus wie Autonomie

 

  1. April 1985

„Das Gegenteil der Angst ist nicht Sicherheit, sondern Vertrauen“ (Luther). Aber Angst will Sicherheit. Sie kann nicht vertrauen, sich hingeben, glauben. Es ist „unechte Autonomie“, weil es von aussen aussieht, als ob dieser Mensch sein Leben „im Griff“ hätte. Er vertraut nur sich selber, ist seines Glückes Schmid. Aber es ist eine zwanghafte Autarkie, weil Schwäche zu zeigen ihn an traumatische Verletzungen erinnert und die Angst, verlassen zu werden, neu belebt.

So löst die Glaubenszumutung geradezu Panik bei ihm aus. Und ein Weg in den Glauben würde für ihn zu einer Geisterbahn, in deren Verlauf er allen Gespenstern seines bisherigen Lebens begegnen würde. Wenn er das nicht passiv erleiden wollte, so dass er immer wieder, im dümmsten Moment, wenn er in einer Sitzung ist, wenn er vor Menschen reden soll, wenn er als Mann auf eine Frau zugehen will, von seinen Ängsten überfallen wird, dann müsste er aktiv seine Ängste aufsuchen.

Denn schlimmer noch als die Ängste ist das Angstabwehr-Verhalten, das er seit frühester Kindheit eingeübt hat, so dass es ihm gar nicht mehr bewusst ist. Aber bevor er die Hand ausstreckt, hat es schon gehandelt, bevor er den Mund aufmacht, hat sich schon etwas mitgeteilt, bevor er selber sich überlegt, was er denn eigentlich will und was er tun soll, ist die Situation schon bereinigt. Er fand die Worte nicht in der Sitzung, er war blockiert, und die Hand, die schon ausgestreckt war zu der Frau hin, sie bleibt in der Luft stehen, die Geste kommt nicht ans Ziel.

Die Angst-Abwehr-Mechanismen lassen nichts aus. Sie schützen ihn und haben ihn ganz umgeben wie mit einem Panzer. Dazu gehört schon die Wahrnehmung. Er kann die Situation gar nicht mehr unbefangen wahrnehmen. Er sieht sie im Licht seiner Ängste. Da ist Bedrohung, da ist Konkurrenz. Und selbst, wenn Menschen ihm Akzeptanz und Respekt entgegenbringen, es kommt bei ihm nicht an. Er denkt, sie seien „auf ihn reingefallen“, eines Tages würden sie schon noch herausfinden, wer er sei. Und dann komme die „verdiente“ Strafe. So sehr hat er sich schon selber verraten.

 

«Dableiben»

So wäre es das Erste, wenn er sich wiedergewinnen will, so wäre es das Wichtigste, wenn sein Leben eine gute Wendung nehmen soll, dass er nur einmal lernt, standzuhalten, nicht wegzugehen, sich selber nicht zu verraten und die Ansprüche für ein ganzes und volles Leben. Jetzt steckt das nur noch in der Enttäuschung, die er empfindet, wenn er abends nach Hause kommt. In seinem Bewusstsein hat er den Anspruch aufgegeben. Denn so etwas verdient er doch nicht, oder? So steckt es nur noch in den Rückenschmerzen, weil der Kopf ihn schon verraten hat. Und die Schmerzen mahnen ihn beharrlich: Nein, er möchte ein Leben ohne Schmerzen. Nein, er möchte ein ganzes Leben. Anders geht es gar nicht! Ohne die Zuversicht, dass das Leben gelingt, kann man es nicht führen. Ohne die Garantie, dass es am Schluss ankommt, ist schon der erste Schritt nicht möglich.

Dann mache dich auf den Weg. Suche deine Ängste auf. Dass sie dir nicht weiterhin in den Rücken fallen. Schau dem ins Gesicht, was dir im Nacken sitzt. Und mache dich gefasst: auch das Allerschlimmste, was du dir gar nicht vorstellen kannst, das „Loch“, das alles verschlingt, wo das Denken aufhört und die Panik anfängt – es sieht bei jedem anders aus – auch das wird dir begegnen.

Aber dort im Grenzgebiet, wo du die Kontrolle aufgibst, dort am Fluss, wo du spürst, dass du nur auf die andere Seite kommst, wenn du dich anvertraust, dort wird dir das begegnen, was du brauchst. Und diese Zuversicht kannst du wie einen Segen mit dir nehmen, wenn du dich auf diesen Weg machst: „ich finde, was ich brauche.“

 

 

Dumm und leer werden

 

  1. August 1987

Ich stelle das Telefon auf Beantworter und schliesse das Geschäft – zögernd, als sollte ich noch was erledigen; aber es gibt nichts mehr zu tun. In der Fussgänger-Unterführung ertappe ich mich, wie ich den Schritt beschleunigen will. – Wozu denn, ich habe doch Feierabend? Das Weggehen hinterlässt ein schlechtes Gewissen, als Reaktion verfalle ich in Geschäftigkeit, in die Hülle der Geschäftigkeit, denn es gibt nichts mehr zu tun. Dieser Arbeitstag ist vorbei. Ich versuche, mich los zu schütteln und gehe weiter, zum Bus, um nach Hause zu fahren. Mein Atem geht flach, bewusst ziehe ich den Atem ein. Ich darf einatmen.

 

Die Menschen verunsichern mich. Ich möchte ihnen sicher und ruhig entgegengehen. Ich will ganz im Augenblick leben, um auf jeden zugehen zu können, jeden annehmen zu können. Aber ich fühle mich selber nicht, wie ich sollte. Es ist, als ob ich auf einem Seil balancierte. Nur schon, dass einer mir in der Unterführung entgegenkommt, verunsichert mich, als ob er mir auf demselben Seil entgegen käme und für mich kein Weg mehr wäre. Ich halte den Schritt zurück, weiche aus und verunsichere damit den Entgegenkommenden, der auch ausweicht, so dass wir uns wieder in die Quere kommen.

 

Ich bin verunsichert. Wenn mein Bürokollege mit mir plaudert, kann ich ihm nicht ruhig zuhören, ab und zu etwas entgegen, wie es gerade so kommt. Ich bin mir seltsam meiner selber bewusst, als ob ich mich selber von aussen beobachtete.

Ich versuche, eine Pose zu finden, um ihm zuzuhören, versuche, die Unschuld eines Zuhörers zu finden. Aber ich spiele sie ja, ich spiele das Ungespielte. Ich kann nicht in der Situation aufgehen, ich weiss um die Situation und fürchte, er bemerkt es. Ich bin sicher, dass er es bemerkt. Er findet mich sicher doof, naiv, beschränkt. „Der ist seltsam, nicht ganz gebacken. Die Arbeit ist nichts Besonderes, die er macht; dazu ist er ein komischer Kauz.“

 

 

Ich habe das Gefühl, nicht zu genügen, so werde ich ein «Braves Kind». Ich höre besonders brav zu, mache Konversation. Was denke ich selber? Weiss nicht, ich bin nur Ohr, nur Stichwort-Lieferant, versuche, doch ab und zu etwas Eigenständiges einzuwerfen, damit es echt wirkt, aber gerade dadurch ist es unecht. Alles Pappe, Plastik, Fassade, Kulisse.

So lässt mich Gott die Demut lernen. Ganz dumm und leer werden. Ich versuche, sie anzunehmen, wenn ich mir meiner Situation bewusst werde. Ich mache nichts mehr richtig, weder mein Studium noch eine Arbeit. Ich möchte beides gut machen. Ich habe viele Ideen. Gerade so habe ich immer gewusst, mir Anerkennung zu verschaffen, mir Achtung und Selbstachtung zu holen. Jetzt ist alles abgeschnitten.

Wenn ich lernen soll, wirklich aus dem Vertrauen auf Gott zu leben und nicht im Verlass auf meine Tricks und Schlichen, mir Sicherheit zu verschaffen, dann muss dieser Halt mir aus der Hand genommen werden. Dann muss ich dieses Geländer los lassen: den Halt des „tüchtigen Mitarbeiters“, des geschätzten und etwas gefürchteten Kollegen, der mit seinen Anstrengungen die Konkurrenz-Normen hoch schraubt. Dann muss ich leben und lachen und auf Menschen zugehen lernen, auch wenn ich nicht der bewunderte „gescheite Kopf“ bin, der dieses und jedes weiss etc.

Ich bin verunsichert, kann nicht lachen, nicht Konversation treiben. In der Unterführung verunsichern mich die Entgegenkommenden, als ob sie mir den Weg auf einem Seil abschnitten. Aber diesen Weg will ich annehmen.

 

Ich will dumm und leer werden, ohne „ausgezeichnete Ideen“, ohne „geschätzte Beiträge“, ohne gefürchtete Alleingänge. Ich will die Impulse verpuffen lassen, die mich antreiben, geschäftig etwas in die Hand zu nehmen, eine „unerhörte Idee“ zu verfolgen… Ich will das Image tragen, das Bild eines dummen, beschränkten und naiven Mannes, der offenbar doch nicht so viel taugt, wie es der ihm vorauseilende Ruf meinte, eine Enttäuschung, eine Niete. ‘Und wenn der in dem Alter noch studiert, so liegt das wohl nur daran, dass er mit seinem Leben nicht zurechtkommt, ein Trick, um sich wichtig zu machen…’

 

 

Wenn dieses Sicherheitsstreben mich noch von Gott trennt; wenn es mich immer wieder zurückzucken lässt; wenn es mich immer wieder Halt an jenem Geländer suchen lässt, wo es doch darauf ankäme, endlich los zu lassen, mich Gott anzuvertrauen, mit Gott ernst zu machen, nicht nur vom Glauben zu reden, sondern so zu leben, ALS OB ES DIESEN GOTT TATSÄCHLICH GÄBE. Dann muss ich genau diesen Reflex verlernen. Dann muss die Hand einsam in der Luft stehen bleiben, die nach dem Geländer sucht.

Dann muss ich es ertragen, wenn ich in der Unterführung nur flach atmen kann, als ob es mir nicht erlaubt wäre, den Atem einzuziehen wie ein vollwertiger Mensch, weil ich mich in der Arbeit heute nicht als „kleines Genie“ entpuppt habe.

Dann muss ich haargenau diesen Weg gehen, auf dem ich jetzt stehe – nicht um aus dem Unbehagen auszubrechen, um das Gefühl, dass ich nichts mehr richtig mache, weder studieren noch arbeiten, zum Anlass zu nehmen, jetzt erst recht ins Zeug zu liegen… Dann muss ich loslassen, das Verdikt annehmen: Ja, ich bin nichts besonders. Ich könnte vielleicht etwas Wind machen, Erfolgs-Wind, aber das ist nichts Besonderes. Gebe ich es doch lieber gleich zu: Ich bin der, als den ihr mich seht, sogar der, als den ihr mich sehen wollt, wenn ihr mir schlecht gesinnt seid, wenn ihr auf mich herabsehen wollt, um von euch selber eine bessere Meinung zu haben…

 

Herablassung zum Glauben

Ich will glauben und es doch nicht nötig haben. Ich will nicht als Bettler zu Gott kommen, eher als Gleichgestellter auf Staatsbesuch. Ich will tüchtig sein, von meinem Wert überzeugt, meinem unabhängig von ihm geltenden Wert.

Dann will ich mich herablassen und glauben.

 

Jetzt habe ich eine Gelegenheit, dumm zu werden, jetzt ist Gelegenheit, mich auszuliefern, abhängig zu werden, gefährdet. Jetzt kann ich erproben, ob ich tatsächlich leben kann – mit nichts in der Hand als – Vertrauen.

 

 

Jetzt steigt alles auf, was Angst macht, was Angst bändigen kann, was Sicherheit gibt, einen Geländer-Griff. Jetzt stellt sich die Situation schrecklich dar: “Dann hält er mich ja für einen Dummkopf! Dann denken sie vielleicht, ich sei gar nicht ein so wertvoller Mitarbeiter! Dann triumphieren vielleicht meine alten Neider, dass jetzt endlich für alle offenbar ist, zu was ich tauge!“ Dann bricht alles zusammen.“

 

Dann kann ich selber nicht mehr an mich glauben. Denn wie soll ich an mich glauben, wenn ich das Leben verfehle? Wenn die Arbeit nichts taugt, die ich mache? Früher konnte ich mich wenigstens fallen lassen und auf meinen „eigentlichen Interessegebieten“ etwas leisten, was mir in meinen Augen Wert verlieh und das Gefühl gab, das Leben nicht umsonst zu leben.

 

Jetzt ist mir auch dieser Weg abgeschnitten. Ich stecke in einem Nirgendwo, wenn ich da vor meinem Kollegen sitze und versuche, ein idealer Zuhörer zu werden. Ich weiss selber nicht mehr, was ich denke. Ich bin nur Kulisse für ihn, alles um mich ist Papier. Ich weiss selber nicht mehr, was ich denke, ich habe mich selber verloren.

 

Und wieder will ich mich verlieren. Ist es Gott, der mich diesen Weg führt? Es ist der Weg, der zu Gott führt. Für mich ist es dieser Weg. Mein Weg musste mich einmal durch dieses Tal führen. Wer so abhängig ist, sich seine Selbstachtung und das Gefühl des Wertes über seine Leistung und die Anerkennung durch andere zu sichern, der muss durch das Erlebnis des Unwertes und der Selbstverachtung hindurch gehen, wenn er das alles loslassen will, um etwas Neues zu lernen: Vertrauen.

 

Sonst rede ich immer nur von Gott, aber ich lebe, als ob es diesen GOTT NICHT GÄBE! Will ich leben, ohne Gott erfahren zu haben? Will Gott mich leben lassen als einen, der immer davon läuft? Ich will dumm und leer und abhängig werden. Ich bin nichts und niemand. Gott, hilf mir!

 

 

Aus der Deckung kommen

 

  1. März 1990

Meine Verwirrung zeigt, dass ich mich einem neuralgischen Punkt nähere: Ich will Dinge versuchen, die ich nach verletzenden Versagens-Erfahrungen jahrzehntelang umgangen habe. Jetzt könnte ich in meine Ängste hineingehen, Grenzen abbauen, neue Freiheitsbereiche erobern. Andererseits mobilisiert das eine (für Aussenstehende völlig unproportionale) Versagensangst. Sie wundern sich über das Verhalten eines erwachsenen Mannes, der sich so gar nichts zuzutrauen scheint. Doch in mir ist alles Zittern und wie „Gelée“. „Nur weg von hier…!“ Vorderhand tue ich weder das eine noch das andere. Das ist der Ort der Verwirrung und Ungewissheit!

 

Wenn

In der Prüfungsvorbereitung erhielt ich einen Hinweis auf eine Stelle im Journalismus. Ich griff danach wie nach einer erlösenden Hand. Eine berufliche Zukunft: fertig mit dem dauernden Zittern und Zagen (ob ich allenfalls doch versuchen sollte, in einem kirchlich-praktischen Beruf tätig zu werden, da mir das mit zunehmendem Studium nun ja offenstehen würde).

Nach der Prüfung sah es wieder ganz anders aus. Ich praktizierte, was ich dort erlebt hatte: In der absurden Übersteigerung des „Wenn“, unter das ich mich mit der Prüfung gestellt hatte („wenn“ ich das erst bestanden habe…, „wenn“ ich nur bestehe…, „wenn“ das mal vorbei ist…) entstand unübersehbar die Einsicht, dass alles Wichtige ohne „Wenn“ formuliert wird.

Der Kontrast war derart lachhaft (dass ich als 40Jähriger nochmals die Schulbank drücke und mehr Angst vor der Schulprüfung habe als ein Primarschüler), dass hinter allem „Wenn“, hinter aller scheinbaren Bedingung dafür, dass ich „endlich“ das Wichtige und Richtige tun könne, unüberhörbar meine Entscheidung sichtbar wurde, meine Verantwortung hervortrat in all der scheinbaren Fremdbestimmung…

 

 

Ohne Wenn

Nach der Prüfung also versuchte ich, aus diesem „Hier und Jetzt“ zu leben. Ich machte mich auf, ging auf Menschen zu. Und was sich ereignete, gab dem „hier und jetzt“ recht. So habe ich mich orientiert, wie die zweite Studienhälfte aussehen könnte. Nun wage ich vielleicht doch noch, zu der Faszination zu stehen, die jene praktischen Teile auf mich ausüben, denen ich mit meinen journalistischen Plänen aus dem Weg gehen wollte. Das hiesse jetzt also: Praktika absolvieren, mich aussetzen, hervortreten. Die ersten neuen Kontakte zur Kirchgemeinde haben bereits zu einer Anfrage geführt, ob ich mich nicht für die Kirchenpflege wählen lassen wolle. Jetzt rückt es mir auf die Pelle.

Damit nähern sich aber auch jene sozialen Rollenfelder, die ich nie auszufüllen gelernt habe, wo ich früher nur traumatisierende Grenz- und Versagens-Erfahrungen gesammelt habe: vor vielen Menschen stehen, sie ansprechen, Ruhe bewahren, einen sozialen Ablauf gliedern…

 

Jetzt gilt es!

Ich muss mich an das Seil binden, das ich selber geknüpft habe: meine Einsichten, wie ich das Leben zum Gelingen bringen kann, obwohl ich täglich mein Scheitern erlebe – im Vertrauen, im Hier und Jetzt. Gott lebt, hier und jetzt. (Ich muss es mir in der Angst vorsagen wie eine Formel; bis ich mich hineinfinde). Ich kann auf ihn vertrauen und das tun, was ich als richtig erkannt habe.

 

Das ist der heilige Augenblick und der Ort, an dem Gott erscheint. Die Angst will alles in ein fahles Licht tauchen, aber das Licht seiner Gegenwart ist heller. Hier ist Heil; kein Wenn und Aber. Hier ist alles in Gelingen getaucht. Meine Angst will, was mich bedroht, auf das Gegenüber projizieren. Aber Gott will in ihm erscheinen, er löst alle Angst. Gott blickt auf mich – in seinem Blick wird alles heil, in seinem Blick wird die Welt, wie sie von ihm gedacht ist. In ihm kommt sie in sich selbst an. Das ist Ankunft, Advent, Epiphanie. „Ich wusste nicht, dass dieser Ort heilig ist“. „Das ist heiliger Boden, zieh deine Schuhe aus“. „Hier ist das Haus des Herrn“ – hier die Himmelsleiter, auf der Engel auf- und niedersteigen. Eine tiefe Ruhe breitet sich aus.

 

 

Im Innern gespalten

 

  1. August 1990

Warum bin ich immer blockiert? Warum komme ich nie zu einer Handlung?

Im Halbschlaf hatte ich ein „Aha-Erlebnis“: Es sind nicht einzelne Widerstände, die ich nach und nach abbauen könnte, sodass ich immer näher zur Handlungsfähigkeit gelangte. Meine Widerstände zielen auf das Handeln selbst.

Durch eine Tat würde ich sichtbar, ich würde mich offenbaren, Profil zeigen. Ich wäre definierbar, müsste den Schutz der Unerkennbarkeit verlassen, den Bunker und den Unterstand, den Graben, das Bombenloch, in dem es nur Schlammpfützen gibt. Da möchte man nicht wohnen, aber das ist immer noch besser als „hinaus“ zu müssen, wo die Kugeln pfeifen, wo sich Visiere auf jeden richten, der sich zeigt.

 

Ich würde einen Konflikt riskieren. – Aber Konflikte kenne ich doch schon, ich bin voller Konflikte, mein Leben ist nichts als ein Versuch, meine Konflikte so auszubalancieren, dass ich gerade noch in der Gesellschaft mitschlüpfen kann, ohne doch so standfest darin zu werden, dass ich Verantwortung übernehmen muss – dann würde ich nämlich sichtbar!

 

Tanz auf der Grenze

Ist das gewollt? – Ist meine angebliche Randständigkeit nicht nur, wie ich immer meine, das Ergebnis meiner inneren Unausgeglichenheit, so dass ich es gerade noch schaffe, mich einigermassen zu integrieren? Ist es in Wirklichkeit eine höchst laborierte und kontrollierte Weise, mein Leben zu führen? Dass ich zwar noch als integriert gelten kann und nicht die Kosten einer Desintegration zahlen muss (Vereinsamung, Abhängigkeit, Demütigung, Stadtstreicherleben…). Dass ich aber doch nie derart reüssiere, dass man auf mich aufmerksam wird, mich auswählt, den Blick auf mich richtet, Erwartungen entwickelt, denen ich als „Braves Kind“ nicht widerstehen kann, so dass ich mich dabei selber verliere, weil ich nicht Nein sagen kann…?

 

 

Aus Unfähigkeit, mit externen Konflikten umzugehen, habe ich die Konflikte ins Innere verlagert. So habe ich mich selber blockiert, damit es nicht zu einem äusseren Konflikt kommen kann: Ich nehme Ansprüche zurück, die eigentlich unaufgebbar wären, die ich mir von aussen nie bestreiten lassen dürfte. Ich nehme meine Meinung zurück, mein Persönliches. Ein Konflikt scheint mir schlimmer, als zu schweigen (und im Verborgenen einen privaten Ausweg zu suchen?).

Ich kann wählen: Konflikt habe ich immer, entweder in mir drin, wo ich nicht mehr kreativ mit ihm umgehen kann, oder in meinem Sozialleben, wo ich vielleicht ein neues Verhalten lernen kann, wo ich vielleicht noch Kreativität entwickeln kann.

Darauf kommt es an, kreativ nach einem neuen Umgang zu suchen. Die Alternative nicht einfach so hinnehmen: innere Lähmung oder äussere Katastrophe; Selbstaggression oder „etwas Furchtbares“; Sich-Abtöten und Kadaver werden oder Aggression nach aussen richten und „etwas Furchtbares“ anrichten.

„Etwas Furchtbares“ – das steht als Chiffre für die Blendwirkung meiner früh gelernten Ängste. Es ist nicht furchtbar. Es gibt nicht-katastrophale Weisen des Konflikt-Umgangs: Verhandeln, Konsens suchen, Kompromiss, Diplomatie, Tausch, Humor, Lachen, sich kennenlernen und vermeintliche Probleme auflösen…

 

 

Innen und aussen begegnen sich

 

  1. Februar 1990

Wie lange habe ich nicht mehr geschrieben… Habe wieder mal das Wasser am Hals, ich will an der Schreibmaschine eine Arbeit erledigen und vorher kurz anhalten und hinblicken. Es ist ein Anwendungsfall für das, was ich suche – nicht die Problemlosigkeit, aber die richtige Haltung. Ich will mich hineinstellen, hinausstellen, in den Augenblick. Mich vor Gott stellen, Gott als lebendig denken, mich hineinstellen, gegenüberstellen, von ungeheurer Freude durchflossen werden – aber auch Angst vor der Freiheit…

 

Vor Monaten ist in Gebeten etwas Neues entstanden. Von den Nebenrändern des Bewusstseins her ist ein Einfall immer mehr ins Zentrum gerückt: wie wäre es, wenn wir ernst machen würden mit dem Gedanken, dass es Gott „gibt“, habe ich manchmal gesagt. Mein Gebet war aber mehr ein Mich-Anvertrauen. Eines Tages rückte dieser Gedanke ins Zentrum des Gebets, ich kann es hier nicht richtig aus der Erinnerung wiedergeben; ich muss mich selber wieder hineinversetzen. Wenn ich ernst nehme, dass Gott lebt – dann wird alles anders, mit einem Schlag bin ich frei, trete der Welt in derselben Freiheit gegenüber, wie Gott ihr gegenüber steht.

 

Es war, bis in physiologische Reaktionen hinein, ein gewaltiges Erlebnis. Schon bald aber folgte die Angst, die Angst vor dieser Freiheit, vor der Verantwortung, dem Loslassen der „Welt“ … (Ich bin zu sehr in Eile, um sorgfältig nachzudenken).

Der Gedanke verschwand wieder etwas, blieb aber immer im Hintergrund: als Wissen um den Weg, der bereit steht und den ich nur zu gehen brauche.

 

 

Jetzt

Jetzt also ist der Augenblick (wenn ich ihn ergreife). Wenigstens habe ich den Weg an die Maschine geschafft, die von der Panik eingeklinkte Routine durchbrochen.

Herr, Gott, Du lebst, auch wenn ich Dich nicht als lebendigen (Gott) denke, verzeih mir, dass ich solche Spiele nötig habe, dass ich mit meiner Angst Versteck spiele und mir dabei den Anschein gebe, als könnte ich mit Dir umgehen wie ich wollte. Ich weiss oft nicht, was ich von Jesus Christus halte und fühle mich für meinen fehlenden Glauben schuldig, aber jetzt möchte ich mit den Augen des Evangeliums zu Dir hinsehen, mich in diese Begegnung wagen.

 

Mit dem Evangelium vertraue ich, dass Du mich rufst und Geduld mit mir hast. Jesus blickt in Mitleiden und Liebe auf die Verstockten und Zögerer und die, die nicht folgen können. Wenn ich den Schritt nicht sofort schaffe, will ich nicht alles für verloren halten und es nie mehr versuchen, ich will es immer und immer wieder wagen, statt mich nach einem Scheitern schon für verloren zu halten.

 

Ich will hinaustreten -„coming out“ – in den Augenblick, in seine Pflicht, in seine Einladung, in Deine Gegenwart. Was kann mir geschehen, wenn ich in Dir stehe?

 

Ich gehe über ein dünnes, schwankendes Seil, links und rechts der Abgrund, aber Du bist da, du hältst mich. Wenn ich falle, falle ich in Deine Hände. Sollte ich da nicht hüpfen und das Fallen herausfordern? Sollte ich nicht lachen und den Weg – statt ihn als Weg der Angst und des Scheiterns zu fürchten, als Weg des Lebens, der Fülle, geniessen…?

 

Der Traum

Auf Leben und Tod

 

  1. November 1996

Im Traum sehe ich eine grosse Palast-Landschaft. In der Mitte ein Ei, das zerschlagen werden soll. Viele versuchen es. Alle möglichen Tricks und Machtspiele. Sie bleiben im Vorhof, dringen nicht ins Innere vor. Einer schafft es nicht. Wird ihm der Kopf abgeschlagen? Einer schafft es. Er hat nichts bei sich ausser, was er trägt. Er dringt bis in die Mitte vor. Er schüttelt sein T-Shirt, da erscheint sein Sohn. Dieser zerschlägt das Ei. In diesem Augenblick erschallt ein Satz: „Ein innerer Friede und wir können was wir sollen.“

 

(Der Traum hat mich lange beschäftigt, noch Jahre später habe ich mich in Gedanken dort eingefunden und mich den Bildern überlassen. Schon das Eintreten war von grossem Frieden begleitet, weil dort all der Lärm der Kämpfenden verhallte.)

 

 

Der Weg ins Innere

 

  1. Januar 1997

Der Traum hat mich lange Zeit begleitet. Hier ist er ein erstes Mal gedeutet. Er zeigt einen Weg nicht über Grübeln, nicht über zwanghaftes Sich-ändern-wollen. Es ist ein stiller Weg, der Traum führt in die Mitte.

 

Vieles fügt sich einfach, und als die Frage auf Leben und Tod auftaucht, ist der Helfer da. Am Schluss steht die Lösung, nach der ich von Anfang an suchte: Wir können, was wir sollen. (Sein und Sollen sind versöhnt, Welt und Mensch sind wie sie sein sollen.) Und es wird ein Weg dazu gewiesen: „Ein innere Friede und wir können was wir sollen.“

 

Es ist nicht ein kontemplativer Weg, auch wenn der Traum ein Bild vor Augen stellt – ich muss ihn wirklich gehen. Es ist aber auch kein ethischer Weg – ich kann ihn nicht willkürlich beschreiten, er gehorcht meinem Wollen nicht. Es ist auch kein psychologisch-therapeutischer Weg, auch wenn sich auf diesem Weg Versöhnung ereignet. Es ist ein „spiritueller Weg“, die Taufe leiht ihr Bild dafür mit den Stationen von separatio, initiatio und ordinatio:

 

Das Labyrinth zeigt ein Bild, das vom Aussen ins Innere führt und wieder hinaus. Denn das Leben will aussen gelebt werden, wie es der Taufritus in seinen drei Schritten sagt: Der Täufling nimmt Abschied vom Alten (separatio), denn so wie bisher, ging es nicht weiter. Er wird in etwas Neues eingeführt (initiatio). Und er geht damit ins alte Leben zurück (ordinatio), übernimmt alles, wie er es zurückgelassen hat. Er kann es aber jetzt tragen und bewegen, mit dem, was er „innen“ gesehen und erfahren hat.

 

 

Gegenwärtig sein

 

  1. November 1997

Es ist anstrengend, Hausfrau zu sein, Kinder zu erziehen, immer präsent zu sein. Kinder brauchen viel Aufmerksamkeit, sei es in Form von Zuwendung, sei es, dass sie Grenzen suchen. Auch das Berufsleben fordert uns bis ins letzte. Gut, dass es in unserm Alltag immer wieder Inseln gibt, wo wir auftanken können, wo wir uns wohl fühlen, wo alles irgendwie leichter geht, die Arbeit, die Begegnungen. Es ist, als ob wir dort in besonderer Weise in uns selbst ruhten.

 

Nicht Freizeit

Was ist es denn, was diese Inseln so schön macht? Es ist nicht unbedingt die Freizeit, oft erleben wir solche Inseln auch in der Alltags-Arbeit, es ist dann ein Bereich, den wir besonders gern machen. Es ist nicht das Ausruhen; oft arbeiten wir dann sogar besonders intensiv, aber es läuft irgendwie spielerischer, mit weniger Anstrengung, mehr von innen heraus. Es ist mit weniger Kampf verbunden. Es liegen keine Konflikte im Weg, die Energie absorbieren, weil wir dort auf innere Widerstände stossen und gegen uns selber kämpfen. Die Pferde, die unsern Wagen ziehen, sind oft an verschiedenen Seiten des Wagens angeschirrt. So ziehen sie und ziehen, und der Wagen kommt nicht vom Fleck. Bei diesen Inseln ist es anders; da ziehen unsere Kräfte am selben Ort, und es geht ohne Kampf, mit kleinem Aufwand.

 

Inseln der Gegenwart

Was diese Inseln so schön macht ist – die Gegenwart: dass es uns dort gelingt, gegenwärtig zu sein, und das heisst auch ganz in Übereinstimmung mit uns selbst zu sein. Da ist kein schlechtes Gewissen, das uns antreibt, keine Angst, die uns lahmlegt. Wir müssen nicht vorausdenken und uns gegen Eventualitäten vorbereiten – und wenn der Moment kommt, spulen wir das Vorbereitete ab und wir zwingen den Moment in die Vorstellung, die wir früher davon hatten. Aber es passt dann nicht. Es passt nicht für uns, es passt nicht für die andern beteiligten Menschen.

 

 

Der Moment lebt dann nicht aus der Gegenwart, sondern aus Bildern, die wir uns von ihm machten. Da ist die Freiheit aufgehoben, es darf sich nichts ereignen. Alles soll so ablaufen, wie geplant, weil das Sicherheit verspricht. Alles ist unter Panzerglas, oder im Märchenbild gesprochen: alles ist verzaubert und liegt wie unter einem Glasberg. Es will – wie im Märchen – „erlöst“ werden.

 

Aus dem Glasberg

Erlösung wäre, wenn sich diese Inseln verbreitern könnten. Im Märchen wären es Tore, durch die wir in eine andere Welt eintreten könnten, eine Welt der Ruhe und Übereinstimmung. Und diese Ruhe wäre nicht Stillstand, unser Handeln wäre von seinen Blockierungen befreit. Diese Tore gibt es, wir können durch sie eintreten. Die Inseln können sich ausbreiten. Wenn wir begriffen haben, dass es nur daran liegt, dass wir ganz gegenwärtig werden, dann scheint das doch immer möglich, nicht nur in bestimmten Bereichen unseres Alltages. Warum soll ich nicht schon in dieser Haltung aufstehen, zur Arbeit gehen oder das Frühstück machen? Warum soll ich nicht auch jenen Bereich meines Alltags, der mir Bauchschmerzen macht, aus dieser Haltung leben?

 

Was uns am Alltag Mühe macht, ist meist nicht der Alltag selbst, sondern Erfahrungen, die er wachruft. Der Alltag mit seinen Aufgaben erinnert uns an schmerzhafte Erlebnisse. Da steigen alte Gefühle wieder hoch, da klinken sich alte Verhaltensweisen ein, die wir als Reaktion auf solche Situationen gelernt haben. Wir haben für das Aufstehen einen bestimmten Ablauf, in dem wir uns nicht stören lassen wollen. Der Abend hat sein Gerüst – genau so muss er ablaufen, wenn wir uns erholen wollen. So sind grosse Teile des Alltags wie in Ritualen gefangen. Sie beschneiden unsere Freiheit – auch wenn wir wollten, könnten wir oft gar nicht von unseren Gewohnheiten abgehen – aber sie geben uns Ruhe, sie helfen Stress abbauen, sie verhindern, dass wir mit alten Ängsten konfrontiert werden.

 

 

Eingefroren

Diese Ruhe ist nicht die Ruhe, die wir in jenen Inseln erleben. Das hier ist die Ruhe unter dem Glasberg, der unerlöste Zustand. Die Ruhe der Inseln ist nicht in Rituale gebannt, sondern frei. Da wird Energie nicht eingefroren, sondern sie fliesst. Da fliehen wir nicht aus dem Augenblick, sondern werden gegenwärtig. Gegenwärtig zu sein, ist also unerhört schön, aber auch unerhört schwer, weil es bedeutet, sich mit seinem ganzen Leben zu konfrontieren. Es heisst, die Verantwortung für sein ganzes Leben zu übernehmen, nicht nur im Tun, sondern auch im Leiden, nicht nur in dem, was unser guter Wille tun möchte, sondern auch in dem, was uns widerfährt, nicht nur für die Zukunft, sondern auch für die Vergangenheit. Einfach gegenwärtig sein, alles kommen lassen und nicht davonlaufen, sich nicht in Rituale der Zerstreuung flüchten, nicht innerlich abschweifen.

 

Die Toskana im Alltag

In der Einsamkeit geht das besser. Es gibt eine alte Tradition der Lebensweisheit, die einsames Leben empfiehlt. Das muss nicht für immer sein, aber in bestimmten Situationen, für eine bestimmte Zeit. So lässt sich „Gegenwart“ im geschützten Rahmen einüben, weil die tägliche Überflutung fehlt. Unsere Zeit kennt keine Eremiten mehr, kaum noch Klöster. Und doch gibt es das in verwandelter Form noch immer: in Krisensituationen zieht sich jemand zurück. Jüngere besuchen vielleicht einen Kurs in der Toskana, Ältere machen eine Kur. Und der Versuch, durch Urlaub dem Alltags-Stress zu entfliehen und wieder aufzutanken, gehört zum massenhaft geübten Lebensstil.

 

Es ist aber auch im Alltag möglich. Was alte Lebensweisheit empfiehlt, wird auch heute wieder gelebt. Da gibt es Gruppen, die buddhistische „Achtsamkeit“ üben. Man atmet, lässt alles auf sich zukommen, rezitiert vielleicht Verse. Das gibt es aber auch in der christlichen Tradition. Dort ist es die Schule des Gebets. Das klingt vielleicht altmodisch. Es sieht nach nichts aus, es geht unter im Marktgeschrei des Neusten und Allerneusten. Aber es ist schön. Es ist ein Weg.

 

 

In die Mitte fliehen

 

  1. März 1999

Die Psychologin sagt im Coaching den Satz: „lch bin für mich da!“ Früher konnte ich nichts damit anfangen, ich hörte daraus eine unerhörte Anforderung an diese „lch“. Wenn ich diese Kraft hätte, dann hätte ich es ja schon bisher getan! Das ist es ja, darum renne ich immer davon. Jetzt habe ich begriffen: Es ist nicht nur eine Aufgabe, sondern eine Erlaubnis. Und das „Ich“, das diese Kraft besitzt, das für mich da ist, ist nicht das handelnde Ich, das ich kenne und dem ich diese Kraft aus Erfahrung nicht zutraue.

 

In der Mitte

„Ich bin für mich da“: das Subjekt-Ich und das Objekt „für mich“ sind nicht identisch, jedenfalls nicht an der Oberfläche. Das Subjekt-Ich ist eher das „Selbst“, die Mitte der Welt, die auch in mir ist, der ruhende Pol aller Wirklichkeit. Es ist, religiös gesprochen „Christus in mir“ (Galather 2,20). Das objektive Für-mich, das ist das mir bekannte, im Bewusstsein aufscheinende Ich, das immer wieder zu handeln versucht, das aber auf enge Grenzen stösst.

Ich für mich“ – wenn ich es richtig meditiere, kann ich präsent sein, denn da ist keine Aufgabe, der ich nicht gewachsen bin. Ich stelle mich in die Mitte der Welt, ich stelle mich „unter“ – gerade dann, wenn es regnet, wenn das bewusste Ich sich überfordert fühlt und „davon“ gehen will – aus der Präsenz in die Absenz, in die Flucht. Es ist das Abschweifen in Tätigkeiten und Träume. Aber hier fliehe ich nicht.

„Ich für mich“ – untergestellt unter einem Dach, geborgen in der Mitte der Welt, aus der ich nicht herausfallen kann. Ich bin schon da, wie der Igel im Märchen. Der Hase kann noch so rennen, der Igel ist immer schon da. Es ist wie in den Ferien, wenn Antonia vor mir in den Zug einsteigt. Ich kann die Nachdrängenden einsteigen lassen ohne Angst, einen Platz zu verpassen. Einer ist für mich bereit.

 

 

Aus der Mitte fallen

Eine zweite Erfahrung, die mir hilft: Ich hatte wieder einen „Absturz“. Nächtelanges TV-Schauen ohne Ende. Das demütigt mich, da ist etwas stärker als ich. Es ist ein Grenzerlebnis, wie andere, die ich heute akzeptieren kann. Aber dieses hat noch Schärfe, es demütigt mich. Hilfreich ist die Frage: „Wie schaffe ich es, dass ich immer wieder abstürzen kann?“ Das lenkt den Blick auf mich selbst, statt auf das andere. Ich bin nicht nur Opfer, sondern Täter. Auch hier ist ein Ich, ein handelndes Subjekt, aber ein anderes, verborgenes. Auch hier ist eine Art Selbst, das Symptome erzeugt, Strategien entwickelt.

Die Furcht vor dem Weg

Warum brauche ich das, immer wieder abzustürzen? Ich muss nur fragen, schon taucht eine Antwort auf. Ich suche genau das, was ich fürchte: dass ich gedemütigt werde. Ich suche es nicht wegen eines Masochismus (oder wenn doch, dann muss ich diesen anders verstehen als bisher), sondern weil ich so wieder in Ohnmacht falle, weil ich dann nicht kann wie ich soll und will. Ich fürchte mich davor, zu sollen und richtig zu wollen, das erscheint mir als übermächtig, verschlingend. Daher fliehe ich aus der Macht in die Ohnmacht, aus der Freiheit in die Unfreiheit. Daher fliehe ich aus dem Augenblick in Zukunft oder Vergangenheit und aus der Präsenz in die Absenz, in Tätigkeiten und Träumereien.

Sich sabotieren

„Absturz“ – wie schaffe ich das, immer wieder, abzustürzen? Weil ich das suche, das Leiden am Absturz. So erfahre ich die Ohnmacht wieder, die zwar demütigend ist und schrecklich (sie lähmt mich und trennt mich von meinen Lebenszielen), aber sie bietet mir doch auch einen Ausweg an. Denn das andere erscheint mir noch viel schrecklicher: nicht ohnmächtig, sondern mächtig zu sein, nicht unfrei, sondern frei, nicht absent, sondern präsent – und das heisst, handeln zu müssen, wollen zu müssen.

Ich fürchte mich, zu sollen, denn dann taucht das Gespenst auf, der Moloch, der mich auffrisst und dahinter das ganze Dämonenheer, die Aufgaben, die nicht mir gehören.

 

 

Sich bekreuzigen

Katholiken bekreuzigen sich: „Nicht ich“ heisst das, „sondern Du“. „Ich trete zurück, komm Herr Jesus Christ! Mein „ich“ soll gekreuzigt und begraben sein wie der alte Adam; komm Du hervor, Jesus Christus, der Auferstandene. Handle Du, rede Du, Du in mir, zu den Menschen und dem Christus, der in ihnen ist. Du bist das lebendige Wort, der Logos in aller Wirklichkeit. Du bist die Mitte der Welt.“

Ich – was tue ich, wenn ich durchs Dorf gehe und all die Erwartungen auf mich lospreschen und ich ihnen auch nicht ansatzweise entsprechen kann? Wenn ich mich schäme und mich verstecken will? Wenn ich keine Freiheit habe, um mit den Kindern da durchzugehen? Dann sage ich mir den Satz vor: „Darf ich mich vorstellen: PW, ich bin Pfarrer und nicht der Erlöser, der hängt am Kreuz.“

 

Babuschka

Viele «Ichs» sind da, die wie Puppen einer Babuschka ineinander stecken. „Ich bin für mich da“ – vieles schwingt in dem Satz mit:

Da ist Erlaubnis, Zuwendung, Geborgenheit, denn da ist ein grosses Ich, das für mich da ist. Ich stelle mich dort unter, wenn es regnet, ich hülle mich damit ein, wenn es stürmt, ich bin dort gehalten und werde neu geboren, wenn alles untergeht. Da ist Christus, da ist die Mitte der Welt, das Geheimnis aller Wirklichkeit – auch in mir und in allen andern.

Da ist das heil werdende Ich, das sich wehrende Ich, das symptom-bildende Ich – ein Ich, das sich oft verkleidet in Nicht-Ich. Da ist die Autonomie, die aussieht wie Heteronomie.

Und da ist das kleine bewusste „Ich“, wie der Lichtkegel einer Taschenlampe, der mal da auftrifft, mal dort etwas ans Licht hebt, in der ungeheuren Nacht des Lebens. Das fühlende, zitternde Ich, wie ein kleines Kaninchen.

 

 

Ich finde den Weg

 

  1. Mai 1999

Ich träumte, wie ich in einer fremden Stadt nach langem Herumirren eine Haltestelle fand. „Ich kann handeln und finde den Weg.“ Die tiefe, fast metaphysische Beruhigung aus diesen Worten. Es nimmt das Gefühl des Fremd– und Verlorenseins auf, die Anspannung des Weg-Suchens und die Angst, ihn nicht zu finden.

 

Doch, ich finde die Haltestelle. Es ist noch nicht das Ziel aber ein Unterpfand, dass ich hingelange. Es ist das, was jetzt möglich ist. (Wie der Glaube uns auch erst Unterpfänder gibt, dass wir das Reich Gottes erreichen: Vergebung, Liebe, die vorausnehmende rituelle Feier in Abendmahl und Taufe, der Zuspruch des Evangeliums.)

 

 

In Blaubarts Zimmer

 

Aus Notizen 2000 – 2002

Wie ein Fanal steht am Anfang des Millenniums der Anschlag von „Nine Eleven“. Als ob der Terror dem neuen Jahrtausend seinen Stempel aufdrücken wollte. Aber es war nicht der Terror allein. Ökologie und Ökonomie produzierten immer neue Schreckensmeldungen. In der Schweiz ist das Jahr 2001 als eigentliches „Katastrophenjahr“ in die Geschichte eingegangen.

In meinem privaten Leben war das Jahr 2000 ein schwieriges Jahr, weil Antonia ankündigte, mich verlassen zu wollen. Mit einem Mal war alles in Frage gestellt: Beziehung, Familie, Beruf – denn wie sollte ich so weitermachen können?

Vielleicht war ich deshalb empfänglich, um die Ereignisse „draussen“ deutlicher wahrzunehmen. Oder umgekehrt: All die Akte von Terror, Verzweiflung und Gewalt fanden bei mir ein grösseres Echo, als wenn ich in meinem privaten Leben unangefochten meinen Weg gegangen wäre.

(Aus dem Vorwort zum Buch «Katastrophen und Wendepunkte, der Weg ins neue Millennium, Notizen 2000 – 2002»)

 

Teufel und Dämonen

 

  1. Juli 2002

Telefonanruf. Eine junge Frau, sie fühlt sich vom Teufel besessen. Wenn ich nachher hingehe, zählt nicht, was ich theoretisch weiss über Satanismus oder Psychologie, es zählt nur die Frage, wie ich hingehen kann.

Ich kann nur hingehen, wenn ich durch und durch davon überzeugt bin, dass ich selber, mit allem, was zu meinem Leben gehört, mit allem, was mir schwerfällt, mit allem, wo ich mit mir selbst in Konflikt stehe, mit allem, wo ich an mir selbst verzweifle… – dass ich restlos mit allem von Gott angenommen bin.

 

 

Dann ist diese Haltung spürbar hinter allem, was ich sagen mag. Das ist entscheidend. Es sind nicht die Worte, die zutreffend oder falsch sein mögen. Es ist die Frage: „Evangelium“ (alle Wirklichkeit ist in Gott geborgen) oder eine verzweifelte Vertiefung der schlechten Erfahrungen („diese Welt ist ein Loch, in dem man nur krepieren kann“). Ob das dann eine Macht ist neben Gott oder mehrere, ob sie dämonisiert wird oder säkularisiert, spielt keine Rolle.

 

 

Sie trug die Mitte in sich selbst

 

  1. November 2002

Es gibt Menschen, die sind anders als andere Menschen. Es ist, als ob sie eine Mitte in sich trügen. Sie leben irgendwie selbstverständlicher, mit mehr Erlaubnis. Sie rennen nicht irgendeinem Ziel nach, das ausserhalb von ihnen wäre. Und so lange sie es nicht erreicht haben, sind sie unruhig.

 

Nein, sie leben so, als ob sie schon am Ziel wären, oder als ob sie sich angenommen wüssten ohne Bedingung. Und sie strahlen Ruhe und Frieden aus. Es ist, als ob eine Kraft von ihnen ausginge, aber es ist ohne Anstrengung. Menschen, die ihnen begegnen, werden gefangen genommen von dieser Kraft. Sie sind gern bei ihnen und finden so auch für sich selbst ein Stück Ruhe und Frieden.

 

 

Aus der Mitte leben

 

  1. September 2000

Kennen Sie das: Sie stehen am Bahnhof und warten auf den Zug. Sie sind den ganzen Vormittag herumgehetzt. Es fällt ihnen schwer, nur so dazustehen und zu warten. Und jetzt fällt Ihnen ein, Sie haben vorhin eine alte Bekannte angetroffen. Sie spürten, es geht ihr nicht gut, aber weil Sie es eilig hatten, auf den Zug zu kommen, haben Sie sie nach einer gewissen Zeit stehen lassen. Jetzt tut es Ihnen leid. Wofür haben Sie eigentlich Zeit? Sie hetzen im Leben herum, rennen immer etwas nach, aber für das, was Ihnen wichtig wäre, fehlt es ihnen an Zeit.

 

Solche Gedanken beschäftigen Sie, während Sie warten. Sie schauen Ihr Leben an. Auch das ist ein grosses Gehetze. Lang sind Sie in Ihrem Leben etwas nachgerannt, was Sie sich ersehnten: eine Familie haben, Liebe, Zuneigung; ein Wunschbild, das tief in der Kindheit entstanden ist; die Suche nach Geborgenheit.

Bis Sie merken mussten: Eine Familie kann Ihnen die Geborgenheit nicht geben. Im Gegenteil, die Kinder erwarten sie von Ihnen. Sie selber müssen in sich einen ruhigen Kern finde, einen Pol von Ruhe und Geborgenheit, der nach aussen strahlt und wo auch die Kinder zur Ruhe kommen können, wo sie „Daheim-Sein“ erfahren und Aufgehoben-Sein.

 

Auf den Zug warten

Und jetzt, wo Sie so da stehen und auf den Zug warten, steigt in Ihrer Phantasie ein Bild auf von einem Leben, wie es sein müsste. Sie haben genug vom Herumhetzen und etwas nachrennen, was aussen doch nie zu erreichen ist. Sie wollen in Zukunft so leben, dass Sie das Ziel in sich selber tragen. Nicht mehr immer alles von aussen erwarten, sondern selber einen Anfang machen und ein Anfang sein im Leben. Nicht mehr nur suchen „wer gibt mir?“ und „wo finde ich?“ und darüber die Menschen vergessen, die etwas von uns erwarten, sondern selber für die andern ein Ruhepol sein.

 

 

Sie beschliessen in diesem Moment, wo Sie da stehen und auf den Zug warten und Ihr ganzes Leben vor Ihnen vorbeizieht: Sie wollen in Zukunft so leben, dass Sie ihre Mitte immer in sich selber tragen, den Ort, wo Sie zur Ruhe kommen können, wo sie Frieden finden. Sie wollen Zeit haben für die, die ein Anrecht auf Sie haben. Sie wollen Zeit haben für sich selber – Schluss mit dem Gehetze. Sie wollen zum Frieden kommen.

 

 

Vom Unterscheiden der Sprachen

 

  1. November 2002

„Rückfall“: Ich fühle mich als Abschaum und von Gott verdammt. Ich möchte mich verkriechen und muss doch unter die Leute. Schuld und Scham! Ich will nicht gesehen werden und mache mich klein.

 

Alte Sprachen

„Rückfall“ steht in Anführungszeichen, weil es die Sprache der Moral ist. Ich habe da etwas in die Verantwortung übernommen, was da nicht hingehört. Ich fühle mich als Ungeheuer, das man bei Geburt schon hätte beseitigen sollen. Aber das ist nur die Sprache des Kindes, das begreifen will und das sein Verlassen-Sein als Ausdruck von Widerlichkeit und Widersetzlichkeit interpretiert. So ist es lieber schuldig als widerlich, lieber böse als eine Ausgeburt. Denn das scheint ja einen Ausweg offen zu halten: dass man ganz und gar lieb und brav sein kann.

Heute könnte ich lernen, es als Folge der Situation meiner Eltern zu begreifen, die in eine neue Stadt zogen und mit fünf Kindern und einem neuen Geschäft überfordert waren. Die Leute prophezeiten, sie würden darauf Bankrott machen. (Sie haben es ihnen aber „gezeigt“.) Ich muss und darf die Sprache revidieren. (…)

Meine erste Frau war Sängerin. Nach einer Vorstellung schilderte ich ihr meine Eindrücke, bis sie mich unterbrach: Singen heisse, sich zu exponieren. Man fühle sich nackt und brauche nichts als einen Mantel, der einem um die Schultern gelegt werde. Für Kunst-Kritik ist da noch keine Zeit.

 

 

Die Erlösung deckt unsere Blösse zu, sogar die Blösse der berechtigten Scham, wo wir nicht sind, wie wir sein sollen, wo die ganze Kluft an uns offenbar wird, wo die Übelwollenden lachen und die Kinder spotten. Gott bedeckt die Blösse von Adam und Eva, die das Paradies des unangefochtenen Gottvertrauens verloren haben.

 

Eine Sprache für die Scham des falsch gelebten Lebens

Was bedeutet dann ein „Rückfall“ in einer anderen, nicht-moralischen, Sprache? Dass ich das Vertrauen verloren habe. Christus kommt mir durch den Sturm auf dem Meer entgegen. Ich steige aus dem Boot. Ich kann über das Wasser gehen. Aber da sehe ich die Wellen und höre das Tosen. Schon sinke ich ein, das Wasser schlägt mir über dem Kopf zusammen.

 

Die Welt ist also doch ein finsteres Loch, wo man nur untergehen kann! Ich halte mich für ein Ungeheuer und glaube mich von Gott verdammt. Doch da kommt er mir entgegen und sagt: „Wie klein ist doch dein Vertrauen.“ Er streckt mir die Hand entgegen und zieht mich aus dem Schlund.

 

 

Das eine ruft dem andern

 

  1. November 2002

Ich gehöre vielleicht zu jenen Menschen, die sich dauernd selber hinterfragen. Bei einem Konflikt machen sie Gewissenserforschung bis zur Selbstentblössung. Gleichzeitig taucht in der Gesellschaft ein neuer Ton auf: rotzfrech, rüpelhaft, beleidigend. Da stellt sich jemand ins Zentrum, als ob alle Welt nur für ihn da wäre.

Diese Rollenteilung ist wohl nicht Zufall, sie wird in der Familie gelernt. Und sie wird in der Politik fortgesetzt, wenn die Übervorsichtigen nicht lernen, auch einmal nach aussen aufzutreten. Skupelhaftigkeit und Skrupellosigkeit haben miteinander zu tun. Durch das Abtauchen in die Innenwelt überlasse ich die Aussenwelt den andern.

 

 

Abends habe ich plötzlich die Empfindung, als ob ich in einem gewissen Alter eine „Inversion“ gemacht hätte: Es gleicht einem Nach-Innen-Stülpen wie bei einem Handschuh. Jetzt bin ich für den Schmerz unberührbar und für das Leben unerreichbar. Aber ich bin auch abgeschottet von diesem Leben. Oft fühle ich mich wie hinter einem Schaufenster.

 

 

In Blaubarts Zimmer

 

  1. Dezember 2002 – Erster Advent

Irgendwann geht der Weg bis ins Innerste. Dort wird auch das Äussere verständlich. Die Rätsel klären sich. Erst im Innersten kehrt die Bewegung um. Wenn ich das Innerste aufgesucht habe, bin ich fähig und bereit, mich nach aussen umzuwenden. Sonst sitzt es mir als Angst im Nacken.

Im Innersten aber, wo die Angst am dichtesten scheint, kehrt Ruhe ein. Im Innersten klären sich auch die Rätsel der Familien-Geschichte.

Ich war gestern bei meiner ersten Frau. Mit dabei waren ihr Mann und ihre Schwestern, meine Ex-Schwägerinnen, und ihre Männer. Ausserdem ein befreundetes Ehepaar aus dem Chor. Meine jetzige Frau begleitete mich.

 

Zauberhaft

Das „Zaubertrückli“ ist aufgemacht – eine andere Wirklichkeit. Da ist die Schatzkammer – und das Blaubart-Zimmer der Familiengeschichte. Hier werden Schicksale geprägt und Lebensläufe entschieden. Die Begegnungen hier haben Zauberkraft.

Es ist Eintritt in einen anderen Raum, ich spüre es sofort. Es hat nichts zu tun mit der Welt draussen. Diese erscheint als unerheblich, von weniger dichter Seinskraft. Ich streife sie ab wie eine lästige Erinnerung. Hier bin ich am Eigentlichen… Es ist wie Erlösung, Heimkommen (oder wie Erstarren und Verdammt-Sein).

 

 

Friede

Es war eine Begegnung mit meiner „ersten Frau“. Noch nie haben wir uns bisher gesagt, dass die Verletzung vorüber ist. Es war wie Auftanken, an die Sonne kommen. Mit dem Eintritt ins „Trückli“ bin ich durch eine Tür gegangen. Hier wird ein anderes Spiel gespielt. Es ist „New Deal“, mit anderen Karten. Und die Zwänge der alten Existenz gelten nicht mehr – in dem Moment, wo ich die Karten aufnehme.

 

Was war das?

War ich im Zauber-Trückli, im Spiegel-Kabinett? Waren das gestern Begegnungen mit alten Gespenstern? Haben sie zu mir gesprochen? Habe ich Frieden gefunden für meine Seele? Bin ich frei geworden von meinen Ketten und (Selbst-) Verdammungs-Flüchen, die ich in meinen kindlichen Jähzorn-Anfällen einst so grosszügig ausgestossen habe?

 

«Suchweg der Seele»

 

Das Gefühl von „letzter Wirklichkeit“ stellt sich ein, wie man es erlebt, wenn man die Landschaft seiner traumatischen Verletzungen betritt. Hier ist alles in helles Licht getaucht. Es ist schmerzhaft, aber auch „heilig“. Es ist Blaubarts Zimmer, wo die Rätsel des Daseins sich lösen.

So rutscht mir die Formulierung damals einfach so unter: der Suchweg der Seele. Es meint diese innere Resonanz, die äussere Erzählungen in uns finden, wenn sie an gewisse Ahnungen rühren, die im Innern schon bereit liegen, aber noch nicht zu Bewusstsein gekommen sind, die noch keine Gestalt gewonnen haben.

 

 

Der Einschlags-Krater

 

  1. Januar 2003

Zwischen den Jahren war es etwas lockerer. Ich war in Basel, im Museum und in einer Buchhandlung. Ich habe einen Comic gekauft: „Akira“ von Katsuhiro Otomo.

 

„So ist es!“

Am Anfang steht eine Explosion wie seinerzeit die Atomexplosion über Japan. Und wenn ich sein Buch lese, spüre ich, dass ich seither – trotz Ende des Kalten Krieges – immer noch den Kopf eingezogen habe.

Die Japaner leben in dem Land, in dem die Bombe niederging. Sie haben sich in den Trümmern wiedergefunden. Sie mussten die Städte wieder aufbauen. Sie kämpfen mit den Spätfolgen bis heute. Sie mussten hinsehen. Das macht das Packende dieser Erzählung aus und das Gefühl: hier ist Wahrheit. Sie ist in Comic-Form, aber die Bilder wirken authentisch.

 

Das grosse Erzählen …

Dazu kommt das grosse Erzählen. Es nimmt die Grunddaten der Weltwerdung auf, beginnt bei der Stunde null, mit dem Einschlag der Bombe, in der zerstörten Welt und spielt „38 Jahre danach“, als der Wiederaufbau erst begonnen hat, aber die Zerstörung überall noch weiterwirkt, auch in der Traumatisierung der Menschen.

 

… angefangen bei der Stunde null

Das ist auch eine Grundtatsache im subjektiven Erleben der Menschen, dass sie vom „Alten“ immer wieder eingeholt werden, dass das Leben immer wieder in dieselbe Kerbe schlägt. Ihr Leben steht wie unter einem Bann. Und diese Traumatisierung greift jetzt bereits auf die zweite Generation über: auf Jugendliche, die nicht erhalten, was sie brauchen, die bis in die Mimik hinein zeigen, dass sie „kaputt“ sind, die sich mit Jungend-Gangs Umgang und Sicherheit organisieren und mit Tablettenschlucken „Speed“ oder Benebelung „einwerfen“.

 

 

Die Bombe hat auch im Erleben der Menschen einen ungeheuren Krater geschlagen, so wie er im Eröffnungs-Bild zu sehen ist, als die Jugendlichen ausbrechen, in die alte Stadt fahren (in unbewusster Suche nach der Ursache ihrer Misere) und plötzlich vor diesem ungeheuren schwarzen Loch stehen.

 

… entlang dem Suchweg der Seele

Eine solche Art des Erzählens, das beim Donnerschlag ansetzt, bei den Grunddaten des Daseins und Erlebens, eine solche Art des Erzählens, das den Suchweg der Psyche nachzeichnet, die ihre Labyrinth-Wege verstehen will, die sich versichern will, woher sie kommt und wo sie gehalten ist, die spüren will, dass sie auf einem grossen Weg geht, der durch alles hindurch führt [1], eine solche Erzählung kannte seinerzeit auch die Bibel. Es hat sich durch Wiederholung und Distanz abgeschliffen. Die Bilder reden nicht mehr. Ausser sie werden auf diese Art mit Erfahrungen aus unserer Zeit, aus unserem eigenen Erleben aufgefüllt.

 

Innere Wegmarken

Das ist ein Modell, wie man wieder erzählen kann. Vergleiche nur mal das Erlebnis, mit Kindern durch einen Dunkelraum zu gehen. Das ist heute verniedlicht und zu einem Erlebnispfad in Freizeitanlagen verkommen. Ursprünglich ist das Dunkel (wie der Wald im Märchen, wie die Nacht auf See) die Folie, vor der die Kräfte aus dem eigenen Innern sich bemerkbar machen.

Im Dunkeln orientiert sich die Psyche wie im Traum. Sie setzt Wegmarken. Sie entfaltet das einmalige, grosse Abenteuer des Menschseins, ja der Menschheit auf ihrem grossen Weg. Sie weiss nicht, woher sie kommt, sie weiss nicht wohin sie geht. Sie hat nichts als Ahnungen. Sie hat nichts als die Furcht, die sich immer wieder in Katastrophen-Ängsten konkretisiert, dass ihr Weg im Dunkeln endet.

 

 

Sie hat nichts als die Hoffnung, die sie immer wieder in Herkunfts-Erzählungen vergewissert, dass sie aus einem anderen Ursprung entstanden ist, einem Ursprung, der die eigene Kraft übersteigt. Sie hofft in diesen Herkunfts-Erzählungen, dass ihr Weg einem anderen Willen folgt, so dass sie sich dort gehalten weiss – über alle Schwäche menschlicher Kraft hinaus, über all die Böswilligkeit und Unfähigkeit des Menschen hinaus, die immer nur Zerstörung zu bewirken scheinen.

 

Äussere und innere Welt

Zur Wahrnehmung der äusseren Realität, wie es Katsuhiro Otomo eindrücklich zeigt, gehört die Wahrnehmung der inneren Welt. Das Erzählen gewinnt seine Gewalt erst zurück, wenn die Mechanismen der inneren Welt, ihre Bilder und Mythen, aufgenommen werden. Das ist eigentlich schon ein Gemeinplatz im Zeitalter der Re-Mythologisierung.

 

 

Vom Glauben erzählen

 

  1. Februar 2004

Wir stehen kurz vor der Konfirmation – und haben das Wichtigste noch nicht angesprochen! Es ist auch nicht leicht zu vermitteln, ich weiss nicht, ob ihr so etwas von mir annehmt. Das ist der Glaube, Gott im Leben, die Mitte im persönlichen Leben. Das, worum wir all das machen, weshalb es Konfirmation und Kirche gibt. Ohne das ist alles nichts. Um das dreht sich alles.

 

Äussere Erzählung…

Es ist das Wichtigste, gerade darum fühle ich mich besonders ohnmächtig. Denn man kann es nicht lehren, nicht in eine Schulstunde packen. Man kann es eigentlich nur abrufen, wenn es da ist, aber nicht erzeugen. Ich kann von mir erzählen, weiss aber nicht, ob ihr es von mir annehmt.

 

 

Wenn ich anfange und von Gott und Christus erzähle, dann kommt das für euch wie von aussen. Das sind Namen. Sie sind belegt mit Bedeutungen; ihr habt vieles davon gehört. Es scheint eine Sache wie von andern, nichts was man in sich selber trägt. [2]

 

… und innere Erfahrung

Für mich ist es etwas Inneres: Das Gebet ist wichtig, beim Aufstehen, beim Schlafengehen, immer wieder. Das gehört zu der Art, wie ich mein Leben führe, wo ich Mut und Freude finde, wo ich Danken kann für Schönes, wo ich an andere denken kann, die ich gern habe und sie anvertrauen.

Es gibt Menschen, die leben strategisch; sie überlegen sich Ziele und Mittel, die dazu führen können. Das kann ich nicht. Ich habe die Übersicht nicht über all das, was ich brauche und was gut ist für mein Leben. Im Gebet stelle ich mich vor Gott, ich mache mich auf für seine Gegenwart. Dort kann ich alles hinbringen. Dort finde ich Kraft und Orientierung, dort kann ich meine Sachen übergeben – und mich selber.

 

Der Weg über die Mitte

So können wir im Gebet ins Zentrum der Wirklichkeit gehen. Dort gibt es Begegnung, Übergabe, Vertrauen. Und aus dem Gebet folgt alles Übrige.

 

 

Arbeit am Innersten

 

  1. Juni 2004

Ich möchte erzählen aus dem Leben eines Menschen, der viel erlebt hat von Unrecht und Gewalt und viel nachgedacht über den Frieden. Er hat dafür den Nobelpreis erhalten. Es ist Elie Wiesel, der in vielen Büchern von seinen Erlebnissen berichtet hat. Er war zwölf Jahre alt, als seine Familie zum ersten Mal deportiert wurde. Sie lebten damals in einem kleinen Dorf in Rumänien. Hitler-Deutschland hatte den 2. Weltkrieg entfesselt und begann, systematisch die Juden auszurotten. Mit 14 wurde er mit seiner Familie nach Auschwitz getrieben.

 

Die Nacht

Nie werde ich jene Nacht vergessen“, so erzählt er, „die erste Nacht im Lager, die aus meinem Leben eine siebenmal verriegelte lange Nacht gemacht hat.

Nie werde ich diesen Rauch vergessen. (…)

Nie werde ich die Flammen vergessen, die meinen Glauben für immer verzehrten.

Nie werde ich das nächtliche Schweigen vergessen, das mich für alle Ewigkeit um die Lust am Leben gebracht hat.

Nie werde ich die Augenblicke vergessen, die meinen Gott und meine Seele mordeten. (…)

Nie werde ich vergessen, und wenn ich dazu verurteilt wäre, so lange wie Gott zu leben. Nie.“

         

(Zitate aus Elie Wiesel, „Die Nacht zu begraben, Elischa“, München 1961, S. 56)

 

Das Trauma

Diese Erlebnisse haben ihn im Innersten verstört. Wie soll man das auch verarbeiten, was er und seine Familie erlebt haben? Gewalt und Verfolgung – vielleicht weniger schlimm als damals, aber schlimm genug – gibt es an vielen Orten dieser Welt, auch heute noch. Wie sollen Menschen damit fertig werden? Da hört das Nachdenken oft auf.

 

 

Wir hören in den Nachrichten davon, wir fühlen uns hilflos, schweigen still und gehen weiter, wir haben keine Antwort. Elie Wiesel geht den Weg weiter. Er wird zum Zeugen für uns, kann erzählen, wie es ist an diesen Orten der Gewalt, wo der Hass entsteht und der Wunsch nach Vergeltung.

Das Ende des 2. Weltkrieges befreit ihn aus dem Konzentrationslager. Aber die Gewalt lässt ihn nicht los. Er ist jung, etwa 17 Jahre alt, und wird für die zionistische Bewegung rekrutiert. Diese kämpft für einen unabhängigen Staat Israel. Dabei setzt sie auch Gewalt und Terror ein. (Es ist das, was wir auch heute aus vielen Konfliktgebieten dieser Welt hören.) Wieder sieht sich Elie Wiesel mit Gewalt konfrontiert, aber jetzt steht er auf der anderen Seite!

 

Der Kampf

„Ich hatte schon einmal getötet. (…) Seit meiner Ankunft in Palästina, vor einigen Monaten hatte ich teilgenommen an zahlreichen Scharmützeln gegen die Polizei, an Dutzenden von Sabotageakten, an Überfallen auf Truppentransporte, die die grünen Pfade Galiläas oder die weissen Strassen der Wüste durchzogen. Häufig hatte es auf beiden Seiten Tote gegeben. Indessen war das Verhältnis immer zu unseren Gunsten ausgefallen, denn die Nacht war unsere Verbündete. Unsichtbar und unangreifbar konnten wir an den überraschendsten Stellen, in den unerwartetsten Augenblicken zuschlagen, ein Truppenlager vernichten, ein Dutzend Soldaten niedermachen und spurlos verschwinden. Zweck und Ziel der Bewegung war: die grösstmögliche Zahl Soldaten zu töten. So einfach war die Sache.“ (S. 180)

 

„So einfach war die Sache“ – Ist sie so einfach? Ist es so einfach, aus einem Opfer zu einem Täter zu werden?

Ist es so einfach, zu vergessen, was man erlebt hat? Wie man sich fühlt, wenn man verfolgt wird? Ist es so einfach, jetzt selber zu töten und zu morden? Die jungen Menschen in der Bewegung zögern, aber sie werden für den Kampf geschult. Ein Ausbildner meint:

 

 

Keine Wahl

Ich weiss, es ist ungerecht, es ist unmenschlich, es ist grausam. Aber wir haben keine andere Wahl. Generationen hindurch haben wir besser, reiner sein wollen als unsere Verfolger. Ihr kennt das Ergebnis: Hitler und die Vernichtungslager. (…) Wir können mit niemandem rechnen, nur mit uns selbst. Wenn es Not tut, ungerecht und unmenschlich zu sein, um diejenigen zu verjagen, die ungerecht und unmenschlich gegen uns gewesen sind, werden wir es auch werden…“ (182)

 

Plötzlich sieht sich Elie Wiesel auf die andere Seite gestellt, aus einem Opfer ist er zum Täter geworden. Er schreibt (S. 183):

„Das erste Mal, dass ich an einer Aktion teilnahm, hatte ich mich unmenschlich anstrengen müssen, um meinen Widerwillen zu unterdrücken. Ich empfand Entsetzen vor mir selbst. Ich sah mich mit den Augen der Vergangenheit an. Ich sah mich in Uniform, in dunkelgrauer Uniform, in SS-Uniform.“ (183)

Elie Wiesel erschrickt. Aus Opfern sind Täter geworden und aus Unschuldigen neue Opfer. Haben sie nichts aus der Geschichte gelernt? Und was ist mit ihm selbst, hat er sich nicht selber verloren auf diesem Weg? Hat er sich nicht denen angeglichen, die er am meisten hasste? „Ich empfand Entsetzen vor mir selbst. Ich sah mich mit den Augen der Vergangenheit an. Ich sah mich in Uniform, in … SS-Uniform.“

 

Wozu war all das Leiden gut?

Wozu war all das Leiden gut, wenn es jetzt einfach so weiter ging? Sollte es nicht aufrütteln und mithelfen, diesen Irrsinn zu stoppen? Verändert einen das Leiden nicht, sodass man sich verweigert und der Gewalt abschwört?

„Nein!“ sagt Elie Wiesel, „das Leiden schwemmt das Niedrigste, das Feigste im Menschen hoch. Es gibt im Leiden einen Markstein, hinter der man ein Tier wird. (…) Die Heiligen, das sind diejenigen, die vor dem Ende der Geschichte sterben.

 

 

Die anderen, diejenigen, die bis ans Ende ihres Schicksalsweges gehen, wagen nicht mehr, sich im Spiegel zu betrachten, aus Angst, er möge ihr inneres Abbild widerspiegeln: das Ebenbild eines Ungeheuers.“ (313)

Elie Wiesel hat beides erlebt, Gewalt und Gegengewalt. Aber es hat nichts gebracht. Gewalt bringt nie Frieden hervor, immer nur neue Gewalt. Sie erzeugt immer neue Opfer und neue Täter und hat nie genug. Friede wird so nie, und Gerechtigkeit hat keine Chance. Das Reich Gottes, ein Zustand, in dem Menschen in Frieden und Gerechtigkeit zusammenleben – mit Gewalt lässt es sich nicht erzwingen.

Das „Heilige Land“ ist nichts, was man mit Gewalt erobern könnte – das hat schon jener Jünger erfahren zur Zeit Jesu, als dieser verhaftet wurde im Garten Gethsemane. Als die Soldaten kamen, zog er das Schwert. „Steck Dein Schwert zurück“, sagt Christus, „denn alle, die zum Schwert greifen, kommen durch das Schwert um.“ (Mt 26,52).

 

Arbeit im Innersten

So erlebt es auch Elie Wiesel. Liebe wäre eine Antwort, wir warten auf das Stichwort. Es ist das, was der Glaube lehrt. Aber die Liebe kommt bei Elie Wiese zu spät. Er ist zwar noch jung, als er aus dem KZ befreit wird, und er lernt auch eine Frau kennen, die ihm Liebe schenkt. Aber er kann sie nicht annehmen.

Es ist als ob etwas zerbrochen wäre in seinem Innern. Er kann Liebe nicht annehmen. Er kann es nicht fühlen, nicht auf sich beziehen. Er erkennt: Er trägt seinen bittersten Feind in sich selbst. Dort ist der Kampf noch nicht zu Ende. Dort entsteht er immer wieder neu, der Krieg, der Hass, die Ablehnung, die Scham.

Und er begreift: Er muss die Friedensarbeit bei sich selbst anfangen. Er muss hinabsteigen in sein tiefstes Inneres, wo er jene peinvollen Erinnerungen versteckt hält. Er muss seinen tiefsten Verletzungen wieder begegnen, denn dort entsteht das immer wieder neu. Aus Angst wird Hass und aus Hass Aggression.

 

 

Wenn er dort nicht zum Frieden kommt, bleibt er für immer gebunden an seine Geschichte. Sie hat sich ihm wie eingebrannt, immer wieder ist er verurteilt, sie zu wiederholen. Mit immer anderen Menschen. Wer in sein Leben tritt, der wird erfasst von seinem Misstrauen. Er sieht ihn im Bild der alten Erfahrungen, und die alten Gefühle steigen wieder auf. Er kann es nicht ändern.

Er muss Frieden finden in sich selbst. Und das gilt in grossem Massstab auch für all die Orte in der Welt, wo Konflikte herrschen, wo Krieg und Verfolgung geschehen. Da werden ganze Generationen von Menschen traumatisiert. Sie werden unfähig zum Frieden, weil man ihnen den Konflikt ins Innerste ein-pflanzt. Und so wirkt er immer weiter fort. Friedensarbeit ist eine Arbeit für Generationen, aber sie muss bei jedem einzelnen beginnen, dass er Frieden findet in sich selbst.

 

 

Ist das Leben mit 55 vorbei?

 

  1. Februar 2004

Es ist Nacht, ich liege wach und denke an Kollegen, denen es rund läuft, wo sich der Lebensweg fügt und sie zu Wachstum und Entwicklung kommen. Eines folgt aus dem andern, automatisch, wie ohne Anstrengung. Sie finden ihren eigenen Weg, das, was ihnen entspricht. Sie finden ein Gleichgewicht von innen und aussen, von Anforderung und eigener Lust. Bei mir will es nicht klappen, ich renne immer hinter Zielen und Wünschen her. Ich kämpfe immer mit Widerständen. Bald bin ich 55…

 

 

Einen Altar errichten

 

  1. Februar 2004

Ich bin auf dem Weg zum Bahnhof und begegne zwei Menschen, die mich „schneiden.“ Ich habe genug, denke ich, ich gehe weg! Später besuche ich meinen Bruder Reto. Er ist neugierig auf alle Menschen. Das ist die Gegenkraft! denke ich. Ich will aufhören, alle Begegnenden auszuforschen, ob ich in ihren Gesichtern Ablehnung lesen kann! Ich will aufhören, „Ablehnung“ oder „Ja zum Leben“ bei anderen Menschen suchen zu wollen!

Ich will in meinem eigenen Leben, in meiner Familie, an unserem Tisch mit Freunden, Gästen und in mir selbst Inseln der Lebensfreude schaffen. Da gibt es Zuwendung, Interesse und Wertschätzung.

Egal, ob andere sich für dasselbe interessieren. Wenn ich es tue, will ich nicht davon abweichen, nur weil es ausserhalb scheinbar nichts gilt.

Ich will mich nicht davon abbringen lassen, ob es sie interessiert oder nicht.

Ich will in mir selbst einen Altar errichten, ein Licht anzünden, den Tisch decken, die Hände waschen, ein schönes Kleid anziehen und feiern!

 

 

 

 

Im Labyrinth

Bevor ich gehen kann

 

Im Februar 2005

Es gibt noch was zu lernen, bevor ich von hier weggehen kann: Versöhnung, Friede, Dankbarkeit. Die Reihenfolge ist nicht: Weggehen, eine andere Stelle annehmen und Erfolg haben, um mich mit meinem Lebensweg versöhnen zu können. Das ist nur beleidigter Stolz: „Euch zeige ich es noch!“

Es läuft umgekehrt: mich mit dem Leben an diesem Ort versöhnen und mich damit als Mängelwesen annehmen, als Mensch vor aller Leistung. (Das ist ja meine Sehnsucht, so will ich akzeptiert sein! „Erfolg“ ist nur eine Kriegsbemalung. Wenn ich mich so aufplustere und deswegen bejaht werde, fühle ich mich gar nicht gemeint.) Das kann dann als Abschluss der Lehrzeit gelten. Das ist dann ein Ausweis.

Darum soll ich keinen Auftrag gegen meine eigene Überzeugung annehmen. Gegen mein inneres Nein dringe ich nicht durch. Wenn ich es versuche, erlebe ich, wie ich selber den Auftrag boykottiere. Das ruiniert meinen „Ruf“ gegen innen und aussen.

 

 

Der richtige Beruf

 

  1. März 2005

Am Radio lesen sie einen russischen Dichter: „Ich habe viele Berufe gelernt, sagt er. Die Leute lachten. Ich habe gelernt, Mensch zu sein. Die Leute lachten nicht.“ Ich muss das Ziel nicht zuerst in einem Beruf suchen, ausser mir. Das Ziel ist in mir, dort kann ich Versöhnung finden. Der richtige Beruf findet sich dann.

Das Lachen der Leute enthüllt meine Angst, die deutlich wird hinter meinen vielen Berufen, und bei keinem kann ich stehen bleiben. Die Leute spüren meine Angst und lachen. Ich muss den Weg annehmen, wie Christus es tat auf dem Weg nach Jerusalem.

Die Reihenfolge ist umgekehrt: Es ist nicht so, dass die Leute mich auslachen und ich das Fürchten lerne. Zuerst ist meine Angst vor dem Weg, ich weiche aus und führe ein uneigentliches Leben. Das spüren die Leute, darum lachen sie.

 

 

„Tritt her in die Mitte“

 

  1. Mai 2005

An jenem Abend, als die Jünger sich hinter verschlossenen Türen aufhielten, da „kam Jesus und trat in die Mitte“.

In die Mitte – wie oft hat die Bibel erzählt, dass Jesus einen Menschen bat, in die Mitte zu treten! Immer wieder, wenn er einen Kranken geheilt hat. „Tritt her in die Mitte!“ sagt er ihm. Und er fragt: „Was willst du, dass ich dir tue?“ „Dass ich wieder sehen kann“, sagt der Blinde. Dass ich wieder gesund werde, der Kranke.

Er stellt den Menschen in die Mitte, auch den Verletzten, Verwundeten, Gedemütigten, den an den Rand geschobenen und Ausgesetzten, den mit Aussatz gebrandmarkten. Jesus berührt den Aussätzigen. Und so ist er nicht mehr unberührbar, nicht mehr aus-gesetzt. Er ist in der Mitte.

 

 

In die Mitte – wir feiern Gottesdienst. Wir möchten Kontakt finden zu unserer Mitte. Zu dem, was uns Ruhe gibt. Wo wir uns gehalten fühlen und in Kontakt zu dem, was den innersten Kern unseres Lebens ausmacht. – Da „kam Jesus und trat in die Mitte.“

Friede sei mit euch! sagt er. – Bei ihm können wir zur Ruhe kommen – und jene Hektik ablegen, das Gefühl von Verlust und dass wir etwas nachrennen müssen. Wir können ablegen das Gefühl, etwas Wichtiges nicht erreicht zu haben – die ewige Anstrengung, die nie an ein Ziel kommt. – Friede mit dem, was in der Vergangenheit liegt und uns plagt. Friede mit dem, was in der Zukunft vor uns liegen mag und uns Sorgen macht. – Friede ist jetzt, wo die Mitte bei uns ist. Jetzt ist das, was am Ende geschieht, wenn Gott alles vollendet. Jetzt ist das, was am Anfang geschieht. Gott macht seine Schöpfung neu. (…)

Wie mich der Vater gesandt hat, sende auch ich euch. Die Sendung, das ist der Clou dieser Pfingstgeschichte. Er gibt Geist von seinem Geist, damit wir tätig werden können: „in seinem Geist“, in seinem Sinn, in seiner Kraft. (…)

„Wenn ihr jemand die Sünden vergebt, sind sie ihm vergeben. Und wenn ihr sie jemandem als Schuld festhaltet, so sind sie als Schuld festgehalten.“ Vergebung, das ist der Sinn der Sendung. Das ist der Schlüssel, den er in unsere Hand legt, mit dem wir Mitarbeiter werden können an seinem Werk. In der Vergangenheit sprach man viel von „Schlüsselgewalt“ und man hat Machtansprüche davon abgeleitet. (Dass die Kirche vergeben kann oder nicht vergeben, dass sie die Tür zum Paradies aufschliessen kann oder nicht.) Aber es geht nicht darum, welche Macht derjenige hat, der den Schlüssel in Händen hält, sondern es geht um das, was er damit macht: dass er nämlich die Tür aufschliesst.

Die Tür, die er öffnen soll, das ist die Schuld, das ist die Last, das ist die Ausweglosigkeit. Es ist die Last der Vergangenheit, das Gefühl, mit seinem Leben in einer Sackgasse gefangen zu sein, weil kein Ausweg sichtbar ist. – Doch! Sagt Christus: Es gibt einen Ausweg: Er beginnt mit der Vergebung! Es ist die Last der Zukunft, die Sorgen, die den Weg verstellen. Ist da kein Weg mehr gangbar für mich? – Doch! „Friede sei mit dir!“ sagt Christus.

 

 

Das Trauma, die Mitte

Schauen wir noch einmal zurück auf diese Geschichte: Es ist Abend, es ist eine Geschichte vom Ende der Zeit (auch wenn sich dieses Ende in unserer Zeit ereignet, immer wieder): Sie erzählt, wie alles vollendet wird, wie das Alte aufhört und das Neue beginnt. Es ist Sonntag, der erste Tag der neuen Zeit.

Die Jünger haben sich eingeschlossen aus Furcht. Aber da ist Er in ihre Mitte getreten, durch die verschlossene Tür. – So war es auch am Ostermorgen. Auch die Tür zu seinem Grab war fest verschlossen, und ein Stein lag darauf. Aber er ist hindurchgegangen durch Grab und Stein. Er ist hindurchgegangen durch Tod und Unrecht. Er ist hindurch gegangen zum Leben.

Er kommt zu den Jüngern, eingeschlossen wie sie sind (wie in einem Grab), und tritt in die Mitte. Er ist die Mitte für uns. In der Mitte werden wir Frieden finden, die Unruhe in uns beruhigen, die Angst ablegen. Und Türen gehen auf. Und wir können hinausgehen, auf Menschen zu und die Botschaft weitergeben.

Friede sei mit euch, sagt er. Wie der Vater mich gesandt hat, so sende ich euch! Er haucht die Jünger an. Empfangt den Heiligen Geist. Wenn ihr jemandem die Sünden vergebt, so sind sie vergeben. Denn darum hat der Vater den Sohn in die Welt geschickt, nicht um sie zu richten, sondern um sie zu retten.

So ist das Ende der Zeit gekommen (mitten in unserer Zeit). Gott vollendet sein Werk. Es ist der erste Tag der Woche, alles wird neu: dort, wo wir uns gegenseitig vergeben können; wo wir uns gegenseitig annehmen – so wie wir sind, mit unserer ganzen Geschichte, mit dem, was gelungen ist, mit dem, was fehlt, da werden wir befreit aus unserem Gefängnis. Wir können herauskommen wie die Jünger und auf die Menschen zugehen. Alles wird neu, wo einer den andern annimmt. Wir legen ab Schuld und Vorwurf, und gehen hinaus aus unsrem Grab zur Auferstehung und zum neuen Leben – in der Gemeinschaft des Heiligen Geistes.

 

 

Der richtige Ton

 

  1. Juli 2005

Im Traum bekomme ich ein altes Blasinstrument (es existiert in dieser Form nicht mehr, es wird mit einem unbekannten Ansatz gespielt). Ich versuche zu spielen – es geht. Ich kann ihm einen Ton entlocken, allmählich eine ganze Tonleiter. Ich spiele. Allmählich komme ich in ein inneres Verhältnis und es läuft wie von selbst. Ich weiss nicht, wie es geht, aber es geht. Ich „mache“ es nicht, ich stelle mir die Töne vor und blase – und sie klingen!

Vielleicht hat der Traum zu tun mit der letzten Beerdigung. Ich sitze vor dem Gottesdienst in der Kirche, ich bin aufgeregt. Geht es wohl? Treffe ich den Ton der Familie? Ich überlege mir, was ich selber glaube und sage es. So bin ich enthalten in dem, was ich sage. Und es „kommt an“, der Gottesdienst findet ein sehr gutes Echo.

Ich darf einen eigenen Ansatz haben, dann fliesst es wie die Musik im Traum. (…)

Früher dachte ich, die äussere Welt sei Realität, die innere Welt nur ihre Folge.

Heute denke ich, das Wesentliche geschieht im Innern. Das Äussere konstelliert sich nach dem, was dort geschieht oder wahrgenommen wird.

 

 

Der Tisch am Ende des Weges

 

  1. Juli 2005 [3]

Am Ende unseres Weges, da sind wir müde. Wir möchten ankommen. Wir kommen an einem Garten vorbei. Es ist Musik dort, ein Fest. Was ist es wohl?

Da kommt uns einer entgegen, und er lädt uns ein zu diesem Fest. Es ist Jesus Christus, er lädt uns ein an seinen Tisch. Und alle Menschen sind da, alle, die er hereingeführt hat zu seinem Fest. Und es ist ein grosses Wiedersehen.

Wir verstehen, was wir nicht verstanden hatten im Leben. Was verloren ist, wird gefunden. Was schmerzhaft war, ist verheilt. Was Unrecht war, ist versöhnt. Was Trauer war, ist verwandelt. Alles mündet in Frieden und Dankbarkeit.

 

 

Dieses Ineinander von Tun und Getragen-Sein

 

  1. Juli 2005

Letzte Woche hatte ich vier Beerdigungen. In einer Abdankung habe ich Halt und Haltung gefunden. Ich sass vorne im Kirchenschiff. Ich fand Ruhe in der Gewissheit, dass ich nur sage, was ich selber glaube. Das scheint belanglos. Dass es mir aber endlich gelungen ist, ist ein Meilenstein.

Vor einigen Tagen kam die Absage auf meine Bewerbung für eine Stelle. Es hat mich kaum noch berührt. Ich habe innerlich die Bewegung auf Ambach hin gemacht.

 

 

Dieses Ineinander von eigenem Tun und Getragen-Sein

Als Pfarrer habe ich die „Sendung“ entdeckt. Sie gehört zur Liturgie jedes Gottesdienstes. Ich habe sie bisher aber wenig beachtet. Vielleicht hängt das zusammen mit meiner Entdeckung des Abendmahles als einer Handlungs-Figur, die anstelle des Kämpfens das Bild des Sich-an-den-Tisch-Setzens vor Augen stellt. Dazu gehört auch das Bild des „Frucht-Bringens“.

Immer wenn ich Menschen traf, die ich bewunderte für ihre Haltung und für die innere Stimmigkeit ihres Lebens, dann sah ich, dass ihr Tun unter einem solchen Segen stand. Ihr Handeln hatte nichts von gequälter Anstrengung, so wie ich es bei mir selber kenne, wo Anfänge immer wieder abbrechen. Bei ihnen war es, als ob es einfach fliessen würde. Und wenn ich diese Menschen näher kennen lernte, hatte ich den Eindruck, als ob sie innerlich angeschlossen wären an einer Quelle. Sie mussten nicht mit sich selber kämpfen, sie konnten sich beschenken lassen.

Die Bibel hat ein eigenes Bild für dieses Geheimnis, für dieses Ineinander von eigenem Tun und Geschehenlassen, von Verantwortung und Vertrauen, das ist das Bild vom Frucht-Bringen. Derjenige führt nach biblischem Verständnis ein gutes und richtiges Leben, der eingepflanzt ist in guten Grund, der seine Wurzeln hinabstreckt bis zur Quelle.

So vergleicht uns Christus mit Trieben, die auf einem Baum wachsen. Ich bin der Rebstock, sagt er, ihr seid die Schosse. (…) Wir Menschen leben nicht aus uns selbst, wir sind eingepflanzt in ein grosses Leben. Und dort ist der Stamm, der Halt gibt, wenn auch sonst alles wankt. Dort ist die Wurzel, die hinabreicht bis zum Urgrund von allem, was ist. Dort sind wir angeschlossen an die Quelle des Lebens.

Und das ist das Geheimnis, wie es fliessen kann auch in unserem Leben: uns anschliessen an diese Quelle.“

 

Der Innere Altar

Petrus geht über Wasser

 

  1. Februar 2006

Petrus sitzt im Boot. Er ist mit den anderen Jüngern hinausgefahren. Der See ist stürmisch. Einmal, als die Wellen ins Boot schlagen, fürchtet er um sein Leben. Aber das Boot gibt ihm Schutz, hier fühlt er sich einigermassen sicher.

 

Petrus steigt aus dem Boot

Aber jetzt sieht er, wie Jesus auf den Wellen wandelt – ungeschützt, ganz ausgesetzt. Mitten im Sturm. Es hat eine ungeheure Leichtigkeit. Es ist nicht Sicherheit, es ist Vertrauen. Er stützt sich auf nichts, was ein Mensch machen kann, auf nichts, was zu dieser Welt gehört. Es gibt keine Bedingung in der Welt, die zuerst erfüllt sein müsste, damit er so leben kann, wie er sich das vorstellt. Er lebt bedingungslos und frei. Er hat sein Leben auf Gott geworfen, dieser trägt die Welt. Er hat sein Leben ihm anvertraut.

Petrus sieht Jesus auf dem Wasser gehen, und er begreift mit einem Mal, dass er sein Leben falsch verstanden hat. Es geht nicht darum, sicher im Schiff zu sitzen. So verliert er gerade, was er retten will. Es geht darum, das zu verwirklichen, was gemeint ist und was auch ihm zugesagt ist.

Und jetzt will auch Petrus den Schritt wagen.

(Wir wissen nicht wie lang er gezögert hat, hin und hergerissen zwischen dem Willen, hinauszugehen, und dem Zweifel, ob das trägt. – Ist es wirklich möglich, in seinem Leben auf nichts als auf Gott zu vertrauen? Trägt es mich, wenn ich alles loslasse und hinausgehe in das, was mir Angst macht? – So kann man ein halbes Leben verbringen, in diesem Hin und Her, bis man den Schritt wagt. Der Text sagt nicht, wie lange es bei Petrus gedauert hat; er erzählt, wie es ihm dann erging.)

Er ruft Christus an: „Herr, bist Du es, so heisse mich zu Dir auf das Wasser kommen!“ „Komm!“ sagt Jesus und Petrus steigt aus dem Boot. Und er geht. Das Wasser trägt!

Die Geschichte hat einen kleinen Nachspann, als Hilfe für uns. Als Petrus ausgestiegen ist, sieht er die Wellen von nah. Hier draussen macht der Sturm einen Höllenlärm, da fürchtet er sich. Er fürchtet um sein Leben, um seinen guten Ruf, sein dieses und jenes, wovor wir uns immer fürchten im Leben. Plötzlich ist es ihm nicht mehr geheuer, da draussen. Er möchte sich absichern, schaut sich nach dem Schiff um, um wieder einzusteigen. Da beginnt er zu sinken.

Er hat den Schritt getan, er hat erlebt, wie es ist, als freier Christenmensch zu leben. Aber „immer haben wir nicht“. Es gibt Rückfälle. Darum endet diese Geschichte mit dem ängstlichen, dem zweifelnden Petrus.

Wenn selbst das Fundament der Kirche schwankt, dürfen wir mit uns nachsichtig sein. Christus sagt wohl: „Du Kleingläubiger, warum hast du gezweifelt?“ Aber damit verurteilt er ihn nicht, damit will er uns sagen: Ihr dürft noch viel mehr glauben, ihr dürft viel mehr Vertrauen haben, als ihr denkt!

Als Christus sieht, dass Petrus sinkt, geht er ihm entgegen und hilft ihm. „Alsbald aber streckte Jesus die Hand aus und ergriff ihn.“

 

 

Das Ja von aussen

 

Im Juni 2006

Am Anfang meines Glaubensweges stand das Beispiel von Theres in der WG: Wie sie in der Küche stand, den Dreck der andern abwischte und dabei sang. Ich hatte mich verschiedentlich bei meinen Kollegen beschwert. Ich arbeitete eine 60h-Woche. Wenn ich Frühstück machen wollte, musste ich erst alles wegräumen oder im Stehen essen. Da ich mit meinen Vorhaltungen nicht durchdrang, fühlte ich mich nicht respektiert. Nicht so Theres, sie wusch den Schmutz der andern weg und sang dabei. Ich spürte: das kann ich nicht. Diese Frau, die so unscheinbar dahinlebte, konnte mehr als ich. Woher hatte sie das? Ich wusste, dass sie religiös war.

Damals schenkte mir eine Freundin eine Bibel, die dann bei mir auf dem Nachttisch lag. Ich war nicht religiös, begann aber, darin zu lesen. Mit meinen historischen Interessen fand ich auf jeder Seite etwas Interessantes. Die Bibel füllte sich mit Randbemerkungen. Aber gewisse Anklänge des Glaubens waren in mir immer noch vorhanden. Und so führte mich die Lektüre, die Beschäftigung mit der Religion, mit meiner Glaubensbiographie in ganz andere Bahnen als nur zu einem archäologischen Interesse an den alten Hochkulturen.

 

Das „Ja“ von aussen

Ist es der Begriff „Heiland“, den ich in der Kindheit gehört hatte?

Diese verrückte, wahnsinnige und ganz und gar unwahrscheinliche Geschichte? Diese Geschichte, die die innerste Sehnsucht des Menschen aufnimmt – in Übererfüllung aller Bedürfnisse, wie sie ihm kaum je zu Bewusstsein kommen, wenn ihm nicht dieses „Ja“ von aussen entgegenkommt?

Diese Geschichte, die „ja“ sagt, bevor er auch nur zu bitten wagt, denn so hoch hat die arme Kreatur Mensch nie und nimmer zu hoffen gewagt?

 

 

Diese Geschichte, dass Gott selber zur Welt komme, zu den Menschen – dass der Mensch also gar nicht in dieser Nacht zu Hause sei, in diesem grauenerregenden Nichts, in diesem Abgrund der Verlassenheit, wo einer den andern verrät und jeder nur seine eigene Haut retten will…?

Das Beispiel von Theres war die Herausforderung für mich. Es war die Frage, die ich an mein Leben stellte: Kann ich das auch? Es beeindruckt mich! Das Leben ist nicht voll, es verdient den Namen nicht, wenn einer das nicht kann. Jedenfalls zeigt es, wie vorläufig ich noch lebe, dass da noch ganz anderes ist, von dem ich keine Ahnung habe, wo es mich aber mit jeder Faser meines Herzens hinzieht.

 

Die Märtyrer

Machen die Märtyrer die Gläubigen? Menschen, die etwas können, was als innere Notwendigkeit in allen niedergelegt ist, aber es kann nicht erwachen ohne dieses Bild von aussen, das zeigt, dass es nicht nur eine Chimäre ist, sondern etwas Notwendiges und Mögliches, ein Weg, wo das Leben durchwill und durchmuss?

Die Legende von Christophorus zeigt, wie jeder dem Höchsten dienen will, und er geht von einem Herrn zum andern, bis er den höchsten gefunden hat. Aber es sind im Leben immer konkrete Gestalten, konkrete Geschichten.

 

 

Ein Garten ist nicht genug

 

  1. Juni 2006

Ein freier Sonntag, ich schaue ein altes Fotoalbum an. Erinnerungen steigen auf an die Schulzeit. In der „Sek“ interessierte ich mich für Physik und Chemie. Als ich in einem Buch das Periodensystem der 92 Elemente entdeckte, hatte ich das Gefühl, den „Stein der Weisen“ gefunden zu haben: Alles ist aus Wenigem aufgebaut, alles lässt sich verstehen! Später war es die Astronomie. Dieses Interesse nahm ich in die Lehre mit. Ich bastelte ein Fernrohr.

 

 

In die Lehre ging ich wie ein Lamm zur Schlachtbank. Ich hatte das Gefühl: man muss sich verkaufen, damit man ein Dach über dem Kopf hat und etwas zu essen. Alles, was einem wichtig ist, muss man verraten.

Diese Ambivalenz begleitet mich bis heute. Da ist die Faszination: „Alles lässt sich verstehen“, auch ich habe Zugang dazu. Da ist ein Schatz, den ich suche. Da ist aber auch das Misstrauen gegen die Welt da draussen. So ist es ein Schatz, den ich hüten muss. Es interessiert niemanden sonst oder sie machen es runter. Und ich muss ihn selber verraten, wenn ich überleben will, denn „aussen“ gelten andere Gesetze.

 

Auch das ist die äussere Welt

Ein anderes Bild im Album zeigt das „Tea-Room“ der Eltern. Damals gab es ein „Fernseh-Stübli“ und ein Gerät, das die TV-Programme auf eine Leinwand projizieren konnte. Das war eine Aufgabe für uns Kinder. So konnten wir TV schauen über die übliche Erlaubnis für Kinder hinaus.

So sah ich Bilder von den KZs, die damals  im TV gezeigt wurden: Leichen, Berge von Schuhen, Brillen, abgeschnittene Haare… Das fiel tief in mich hinein, vertiefte mein Grauen vor dem, was Leben sein kann, was unter einer Decke lauert, und wehe, wenn es hervorkommt.

 

Den Schatz suchen und verstecken

Meine Kindheit hat mir eine ambivalente Haltung mitgegeben: zwischen der Faszination, die mich den Schatz suchen lässt und einem Misstrauen gegen die Aussenwelt, so dass ich den Schatz verstecke.

Heute habe ich in den „Bekenntnissen“ von Augustinus gelesen: „Was soll all dies Reden, Gott? Kann denn ein Mensch Worte finden, die Deiner würdig wären? Aber wehe denen, die von Dir schweigen.“ Es ist paradox: Von Gott reden ist nicht möglich. Es erreicht ihn nicht. Von ihm schweigen ist aber auch nicht möglich. Auch das heisst, sein Leben zu verfehlen, wenn man es für sich halten wollte! Das Paradox kann aber auch eine Hilfe sein: Weil reden nicht möglich ist, ist auch das Stammeln erlaubt. Und der, der nur stammelt, darf der Aufgabe nachgehen, die ihm auferlegt ist.

 

Aussen und innen müssen zusammenwirken

Der Übersetzer fügt einen Kommentar bei von Adolf von Harnack: „Zur vollkommenen Religion, die im Lobpreis Gottes besteht, gelangt der sündige Mensch durch das Zusammenwirken zweier Faktoren: eines seelischen und eines geschichtlichen, nämlich der anerschaffenen Richtung des Herzens auf Gott zu und der glaubenerweckenden Verkündigung.“  (A.a.O. S. 413)

 

Glauben schützen oder wecken?

Das ist neu für mich: die Verkündigung mit dem Ziel, Glauben zu erwecken. Nicht verharren in der Genügsamkeit, dass Gott die Seinen schon zu finden wisse. Nicht nur das Kostbare vor denen schützen, die es in den Schmutz reissen. Nicht nur eine Schatz-Suche und ein Horten für eine unbekannte Zeit, die vielleicht nie kommt.

Oder kommt sie? – Jedenfalls habe ich keine Vorstellung, wie sie je kommt und wie die berufliche Stelle je beschaffen sein könnte, dass ich das aussprechen kann, was mich zutiefst bewegt und mich seit Jahren beschäftigt. Worin sich mein ganzes Leben widerspiegelt mit den „Aufträgen“, die ich gefasst habe, mit dem Skript, dem ich gefolgt bin, und wie die Motivationen alle heissen, ob sie ans Ziel führen oder davon ab.

Ob dafür die Zeit für mich gekommen ist? Weil ich selber einen Weg gemacht habe im Glauben? – Weil ich mir nicht mehr eine Rückzugsposition freihalte zu einem Leben ohne Glauben? – Weil das meine Entscheidung geworden ist, die ich nicht mehr umkehren kann, ausser ich verwerfe mein ganzes Leben?

 

 

„Glaubenerweckenden Verkündigung“

Das Wort „Erweckung“ hätte mich früher abgeschreckt. Heute fallen mir dazu Erlebnisse ein mit Kranken, Sterbenden, in der Seelsorge. Momente von grosser Ruhe, grossem Frieden. Da ist nichts von Enge, viel von Weite. Nichts von Eifern, viel von Ruhe. Es gibt verschiedene Formen von Erweckung.

Bin ich nicht selber so zum Glauben gekommen? Neben den inneren Bildern gab es doch auch die Bilder von aussen, das Evangelium? (Es gab mindestens den Satz meiner Mutter, wenn ich von zuhause wegging: „Heb‘ Gott vor Auge!“)

Soll ich das denen schuldig bleiben, die mir als Pfarrer anvertraut sind? Soll ich Gott verstecken wie einen Schatz, über dem ein Drache haust – der Drache der Angst, verlacht und verletzt zu werden?

 

 

Das schwarze Schaf der Familie

 

  1. Dezember 2006 [4]

Schönheit, ein erfülltes Leben, sich entfalten, Gesundheit – die Bilder, die wir haben vom Glück, sind geprägt von unserem persönlichen Leben. Wir leben heute vereinzelt. In der Hälfte der Haushalte lebt heute nur ein einziger Mensch. So ist auch das Glück individuell, das wir uns vorstellen. Und Bibeltexte, die von Freiheit reden, und dass Gott sein Volk aus der Gefangenschaft führt, sind uns fern.

Wie ist es denn mit unseren Erfahrungen von Gemeinschaft? – An Weihnachten kommt die Familie zusammen – nicht nur die, mit denen man im Alltag Kontakt hat. Auch jenen Bruder trifft man wieder, mit dem man sich auseinander gelebt hat, und die Schwiegermutter, von der man sich nie wirklich akzeptiert fühlte. In manchen Familien gibt es so etwas wie ein schwarzes Schaf. Wenn dem Hans etwas geschieht, so finden es gleich alle typisch. So ist er eben! Oder wenn Tante Trudy einen Fehler macht, wundert es niemanden, man hat es immer gewusst.

 

 

Bilder prägen. Sie sind entstanden aufgrund von Erlebnissen. Hans ist wirklich ein paar Mal in etwas reingerasselt und Trudy hat wirklich Fehler gemacht. Aber die Bilder, die wir von ihnen haben, weisen ihnen auch einen Platz zu. Und solche Bilder können fest werden wie ein Gefängnis, aus dem man kaum mehr ausbrechen kann.

Kein Wunder machen die Bilder etwas mit den Menschen, die das immer hören. Irgendwann sagen sie „ja“ dazu. „Ja, dann bin ich halt so!“ „Ich bin wirklich anders. Ihr wollt es ja so, jetzt müsst ihr mich auch haben.“ So entsteht ein schwarzes Schaf, das trotzig die Rolle spielt, die man ihm zugewiesen hat.

Denn es ist eine Rolle, machen wir uns nichts vor. Das schwarze Schaf hat seinen Ruf nicht nur abgekriegt, weil es immer über die Stränge schlägt. Andere haben das auch getan und werden nicht immer blossgestellt. Das schwarze Schaf hat eine Rolle, es erfüllt eine Funktion: Die Schwester, wenn ihr ein Missgeschick passiert, ist aus dem Schneider, denn der Bruder ist ja der, der immer alles kaputt macht. Oder der Bruder steht gut da, denn es gibt jemanden, auf den sich die Enttäuschung und der Zorn konzentrieren, der „abonniert“ ist auf diese Rolle vom Blitzableiter. Das geht bis in die Geschäfts-Etagen: Im Konkurrenzkampf tut es gut, wenn es einen Versager gibt in der Firma. Man hat nicht selbst den Schwarzen Peter.

Jetzt tauchen andere Bilder auf von Glück, oder was Glück beeinträchtigt. Wir leben nicht nur für uns allein, wir sind immer Teil einer Gemeinschaft. Wir erfahren die anderen Menschen in Form von Erwartungen, die sie an uns richten, als Rollen, die wir spielen, und wir erfahren Anerkennung oder Ablehnung, je nachdem wie wir den Erwartungen gerecht werden. Und mit der Zeit bildet sich ein Ruf heraus, ein Name. Man kennt die Menschen halt mit der Zeit, oder man meint, sie zu kennen. Ihr Name geht ihnen voraus. So hat man sie erlebt.

Dieser Ruf, den wir haben, ist eine Folge von dem, was wir tun. Umgekehrt beeinflusst er aber auch das, was wir machen. Und manchmal prägt er ein Bild wie ein Gefängnis. Eine Rolle verfestigt sich. Und so wird jemand zum Aussenseiter – oder auch zur „G‘müts-More“, die immer Witze macht, die sich die Verantwortung auflädt für das gute Klima in einer Familie…

 

 

Viele Rollen gibt es da, vom Anführer bis zum Mitläufer, vom Kritiker, der überall das Haar in der Suppe sieht, bis zum Berufs-Optimisten, vom Macher, der alles in die Hand nimmt, bis zum „Therapeuten“. Dieser lädt sich die Sorgen der anderen auf und spürt schon als kleines Kind, was die Mutter plagt. Er hilft ihr. So findet er Anerkennung und eine Rolle im Familiengefüge. So werden Lebenspläne geschmiedet, man spürt es kaum, Identitäten werden geprägt, die einen ein Leben lang begleiten.

«So weit, so gut!» könnte man sagen, wenn das nicht auch eine Quelle von Leiden wäre, wo ein Leben verbogen wird, oder wo eine Gemeinschaft einen unguten Weg geht.

 

Gefangenschaft
Das schwarze Schaf, das in der Familie isoliert wird, erlebt einen grossen Leidensdruck. Der Jugendliche, der nicht gut tut, und irgendwann seine dunkle Rolle übernimmt und zum Aussenseiter wird; das Kind, das von der Schulklasse gehänselt und geplagt wird und sich nicht mehr in die Schule traut; der Mitarbeiter, der am Arbeitsplatz immer wieder vorgeführt und blossgestellt wird – sie alle erleben Gemeinschaft von einer unguten Seite.

Die Gemeinschaft denkt, sie sind das Problem, die Gruppe zeigt mit den Fingern auf sie und nimmt sie als Ursache der Probleme wahr. Sie aber fühlen sich ohnmächtig und gefangen in einem Alptraum. Es ist wie verhext. Sobald sie in diese Gruppe kommen, legt sich ein Joch über sie. Sie wissen, wie sie gesehen werden, und so verhalten sie sich auch.
Mit andern Menschen, aus anderen Gruppen, können sie normal verkehren. Darum wissen sie noch, dass sie normal sind. Aber sobald sie in diese Gruppe kommen, verändert sich ihr Verhalten. Sie tun das, was erwartet wird, aber das, was sie selber gern tun würden, das können sie nicht. Sie bestätigen das Bild, das die andern sich von ihnen machen.

 

Befreiung
Es ist wie ein Gefängnis. Sie können nicht ausbrechen. Ist die Rede von Gefangenschaft also fremd für uns? Es sind nicht wenig Menschen, die sich in ihrem Leben unfrei fühlen, verstrickt in Zusammenhänge, die sie selber nicht lösen können. Ist es verkehrt, wenn sie auf Gott hoffen?

 

 

Sagt er beim Propheten nicht, dass er kommt,

um den Elenden frohe Botschaft zu bringen,

zu heilen, die gebrochenen Herzen sind,

den Gefangenen Freiheit zu verkünden

und den Gebundenen Lösung der Bande? (Jes 61, 1f)

 

Welche Hilfe gibt es für solche Menschen, die in „systemischen“ Zwängen stecken? So redet die moderne Seelsorge davon. Sie nimmt damit zur Kenntnis, dass unsere Lebenssituation mitbestimmt wird durch die Gemeinschaft, der wir angehören. Es ist klar, dass übergeordnete Stellen in diesem „System“ eine Verantwortung haben: Eltern, Lehrer, Behörden, Arbeitgeber.

 

Wertschätzung

Aber was kann der Einzelne selber dazu tun? Kann er das überhaupt: etwas tun, da er sich doch als Opfer fühlt? Ja, es gibt etwas, es gibt eine Art von Mitspielen in diesem Theater, wo auch der einzelne etwas tun kann, um davon weg zukommen. Aber es braucht viel Vertrauen. Darum ist die biblische Botschaft wichtig. Die Zusage Gottes für alle Menschen.

Solche Menschen haben oft wenig Selbstvertrauen. Sie haben oft schon in der Kindheit eine Schwächung erlebt. Darum werden sie auch „ausgewählt“, wenn eine Gruppe ein Opfer sucht, an dem sie ihre Impulse abführen können.

Ich denke an einen Menschen aus der Seelsorge. Er ist nicht von einer religiösen Gruppierung losgekommen, obwohl er dort immer wieder „abe-g‘macht“, wie Dreck behandelt wurde. Warum lässt er sich das gefallen? fragte ich mich. Bis ich begriff:

Er war das von Kindheit an gewohnt. Und wenn er wieder „abe-g‘macht“ wurde, hatte er so etwas wie ein Aha-Erlebnis: Ja, so ist es, ich bin nichts wert. Endlich sagt einer die Wahrheit über mich. Man konnte ihm hundertmal sagen, er sei ein wertvoller Mensch, er hörte es nicht. Er nahm es als billigen Trost. In Wirklichkeit, denkt er, haben sie eine ganz andere Meinung von mir. Ich bin nichts wert. Er hat die Sicht der andern übernommen. Er spielt mit in dem Spiel.

 

 

Er setzt sich selber herab und überbietet die andern noch in der Kritik, als ob er ihnen damit Wind aus den Segeln nehmen könnte – damit ihr Zorn an ihm vorübergeht.

Was hier fehlt ist Wertschätzung. Und wer sich selber nicht wertschätzen kann, wird das auch nicht von andern erfahren. Sich selber wertzuschätzen in so einer Situation, das ist aber ein Kunststück, wie sich selber am Schopf aus dem Sumpf zu ziehen. Darum ist der Zuspruch von aussen wichtig. Darum ist das Evangelium wichtig. Darum kann der Glaube eine grosse Rolle spielen beim Heilen. Denn im Glauben erfährt der einzelne einen unbedingten Wert.

Wertschätzung – das ist das, was Menschen in dieser Situation helfen kann:
Gegen die Entwertung, die sie seit ihrer Kindheit erlebt, gegen die Entwertung, die sie verinnerlicht haben, als ob es die Wahrheit sei; gegen die Entwertung, die sie immer wieder einstimmen lässt, wenn jemand verächtlich von ihnen spricht.

Der Weg ist Wertschätzung. Wertschätzung auch von dem, was sie gelebt haben. Auch wenn sie gleich widersprechen würden, sie hätten ja nichts geleistet. Aber Gott hat sie geführt auf diesem Weg. Er hat sie aufgesucht im Exil. Sie waren nicht von Gott und Welt verlassen, als sie die dunkelsten Stunden ihres Lebens erlebten (das, von dem sie niemandem erzählen). Gott war bei ihnen. Gott war im Exil, wie damals mit seinem Volk in Babylon.

Darum ist diese Zeit nicht wertlos, die sie am liebsten aus ihrer Biographie streichen würden. (Aber so lange sie sie ablehnen, so lange bleiben sie darin gefangen.)

 

Die Vergangenheit annehmen

Sie dürfen die Vergangenheit annehmen, weil Gott sie annimmt. Was schrecklich ist und unaussprechlich: Gott hat es geheiligt durch seine Gegenwart. Und so, aus dem Annehmen der Vergangenheit, aus dem Versöhnen mit dem, was war, wächst der Weg in die Zukunft. Gott führt auch heute sein Volk aus der Gefangenschaft und schenkt Befreiung.

 

 

Darum dürfen wir die Botschaft glauben, als ob sie nur für uns in der Bibel stünde. – Sie steht für uns in der Bibel: „Tröstet, tröstet mein Volk! Spricht euer Gott. Redet mit Jerusalem freundlich und predigt ihr, dass ihre Knechtschaft ein Ende hat. Um euretwillen habe ich nach Babylon geschickt und die Riegel eures Gefängnisses zerbrochen. Gedenkt nicht an das Frühere und achtet nicht auf das Vorige! Denn siehe, ich will Neues schaffen, schon beginnt es zu wachsen. Hört ihr es nicht?“

 

Segen
Der Segen richtet sich meist auf die Zukunft. Aber ohne Versöhnung mit der Vergangenheit gib es keine Zukunft. Darum steht hier ein Segen für den vergangenen Weg, den wir Menschen gegangen sind, auch wenn dort etwas Verletzendes verborgen sein mag:

 

„Ich segne deine Vergangenheit, spricht Gott,

dass du als der Mensch, der du bist,

 

den Ich hierhergeführt habe,

mit all deinem Denken und Fühlen,

 

jetzt vorwärts gehen kannst

und auf deine Gefühle vertrauen,

 

ohne Scham, voller Lebendigkeit,

denn Ich habe dich geführt!“ Amen

 

 

Innen und Aussen

Ich kann nicht mehr, ich will nicht mehr

 

Mitte Februar 2007

Mitte Februar, ich tauche nach der Grippe wieder auf. Jener 13-Stunden-Tag war offenbar zu viel, oder all das, was vorher war. Am Samstag pflege ich noch Deborah, die krank in Bett liegt, am Sonntag schreibe ich eine Beerdigung, am Montag erwischt es mich selber. Grippe.

Aussen heisst es „Krankheit“, innen sind es tausend Holzwurmgänge, durch die die Psyche geht. Gänge, Irrgänge, Auftauchen, Abtauchen, Traumbilder und Einsichten. Schmerzen werden als Weggeld gezahlt. Der Wunsch, sie nicht umsonst bezahlt zu haben! Einmal schreibe ich auf einen Zettel, um gewissermassen den Ertrag zu retten: Die Kraft des „ICH KANN NICHT MEHR!“ umsetzen!

In der ersten Woche der Krankheit war es wie Zauberei, wie sich alles löste. Es war wie die Kraft des Todes, eine höhere Gewalt. „Ich kann nicht mehr“. Und damit war es abgetan. Ich spürte, dass ich das in Handlung umsetzen müsste. Das brächte mein Leben auf eine neue Bahn. Selber nein sagen, die Folgen tragen, etwas Neues suchen, statt es einer Krankheit zu überlassen.

Ich spürte – es hat unerhörte Kraft: das „Ich kann nicht mehr!“, das zu einem „Ich will nicht mehr!“ werden möchte, könnte, sollte – wenn ich mich denn getrauen würde.

 

 

Die Möglichkeit des Scheiterns

 

Im März 2007

Ich beginne ein „Jesus Christus Tagebuch“. Über Christus nachdenken, das geht nicht abgelöst vom täglichen Leben. Denn Zugang zu ihm habe ich nur im aktuellen Leben, nicht, wenn ich daraus herausgelöst bin.

«Als wahr leuchtet nur ein, was die Möglichkeit des Scheiterns an sich trägt» Nur so findet es jene Überzeugungskraft nach Rosenkranz. So kennt jeder Mensch sein eigenes Leben. Und was beim Lesen diesen „thrill“ nicht vermittelt, ist von vornherein langweilig und wirkt wie eine Lüge. Es ist geschrieben aus einer falschen Sicherheit, abgeschirmt vom Leben durch Schreibtisch und Bankkonto.

 

 

 

 

Ein Kompass findet sich

 

  1. März 2007

Erste Woche meiner Ferien. Ich möchte dran bleiben am „Weg mit Christus“. Er ist da im Gebet, nachts, wenn ich nicht schlafen kann. Er ist auf positive Weise da. Mein Leben ist auf einem guten Weg-Stück.

Am Morgen halte ich fest: Die richtigen Gedanken über Ihn zeigen sich in einem tiefen, inneren Glücksgefühl. (Seinen Namen gegen aussen vermeiden – die Leute meinen, sie wüssten wer Christus sei, sie hören gar nicht hin.)

Ich will sein Bild in mir noch stärker werden lassen. Wie eine Ikone. Ich habe das Bild eines Berges an die Wand gehängt, ich habe es vor Augen. Das ist eine andere Art, sich etwas vorzunehmen, nicht mehr mit Agenda und Vorsatz wie früher, sondern mit einem Vor-Bild: sich das Bild einprägen, sich zum Bild auf den Weg machen, Freude auf dem Weg empfinden, auf jedem Schritt. Das ist der Weg der Ostkirche.

 

 

Das Leben selbst

 

  1. Mai 2007

Morgen ist der Todestag meines Vaters. Alles geht so schnell vorbei. In mir ist alles noch lebendig, ich möchte am liebsten hingehen und meine Eltern besuchen. Aber hier sieht alles anders aus, neue Häuser stehen da, das Grab meiner Eltern liegt anderswo auf dem Friedhof.

Was ist das eigentlich: ein Leben? Mein ältester Bruder – vieles erinnert mich hier an ihn – ist schon gestorben. Die andern sind in die Jahre gekommen. Wer weiss, wie lange ich sie noch habe.

Jene “unendliche Zeit“, die ich in mir drin spüre, wo alles noch Gegenwart ist, und wo man in der Zeit rückwärts und vorwärts fahren kann und alles ist gleichzeitig – in der Aussenwelt ist diese Zeit sehr begrenzt. Es ist, als ob die Wirklichkeit verzaubert wäre. Was ich sicher weiss, finde ich nicht. Woran ich mich genau erinnere, ist nicht mehr da. Und das, was ich finde, von dem weiss ich nichts.

Vor drei Wochen bin ich 58 Jahre alt geworden. Fast 60, dachte ich, und bin nachträglich erschrocken. 60 – ist so etwas wie eine Grenze. „Vorher“ ist das aktive Leben, die Zeit, die man zur Verfügung hat, „nachher“… Die Zahl mahnt mich wie das schlechte Gewissen: Die Zeit vergeht, bald ist sie zu Ende, ich sollte…! Aber was sollte ich? Die Zahl weiss nichts, sie drängt und mahnt und verbreitet Hektik. Als ob ich etwas verpasst hätte, gegen besseres Wissen, und bald wird es sich rächen. Aber was habe ich verpasst? Weiss ich es denn? Wo steckt das Wissen über das richtige Leben, wenn nicht im Kopf? Das schlechte Gewissen behauptet eine Verantwortung, von dem der Rest nichts weiss.

Was ist das, ein Leben? Mein Leben? Was wird es sein, wenn es fertig ist? Habe ich nicht vieles schon vertan und verpasst? Überall stehen die Schilder „man sollte!“ – Was ist ein Leben, wenn man alles falsch macht?

 

Der rote Faden im Leben

Das Leben ist ein Rätsel, ich verstehe mich nicht darauf. Wozu das alles? Ich habe es nicht im Griff. Soll ich mich treiben lassen? Das wäre unberechenbar, es würde mir Angst machen. Aber wie soll ich etwas angehen, was ich nicht in der Hand habe? Wie bin ich überhaupt hierhergekommen? Habe ich Ja gesagt zum Leben? Bin ich etwa gefragt worden? Oder gibt es ein Ja im Nachhinein? – Ich habe den Anfang nicht gewollt. Als ich älter wurde und zu denken begann, habe ich mich vorgefunden in dieser Welt. Und es gab keine Gebrauchsanweisung zum Leben.

Soll man das Weg nennen, wo ich drauf gehe? Hat es einen Anfang und ein Ziel? Oder ist es einfach eine Spur, weil hier viele schon gegangen sind? Einer läuft dem andern nach und die Füsse treten einen Pfad ins Gras, aber der führt nirgends hin. – Ist es nicht wie damals, als ich mich im Wald verirrte. Da stiess ich auf einen Weg. Aber ich freute mich zu früh. Das war nicht der Weg in ein Dorf. Er führte weiter in den Wald hinein und endete an einem Platz, wo man Holz schlägt – ein Holzweg.

Und wo stehe ich heute? Habe ich die Hälfte schon geschafft? Kommt noch viel? Liegt der Aufstieg jetzt hinter mir? Kann ich eine Pause einlegen, den Rucksack auspacken und essen und trinken? Wo ist die Mitte auf diesem Weg? Wo ist der Ort, wo ich zur Ruhe komme? –

Wie soll ich an ein Ende glauben, das nicht schrecklich wäre, weil es von aussen einbricht wie der Anfang? Ich kann nicht immer abwehren. Eines Tages mag ich nicht mehr, ich habe keine Kraft mehr.

Und doch spüre ich, wenn ich auf das Leben zurücksehe, immer auch so etwas wie einen Weg. Aber er zeigt sich erst im Nachhinein. Da finde ich etwas in der Erinnerung und dort etwas anderes, und im Nachhinein gibt es eine Verbindung, die ich damals nicht gesehen habe. Manches fügte sich im Leben. Ein Erlebnis fällt mir ein, es war schrecklich. Und so lang es dauerte, wehrte ich mich dagegen. Aber nachher hat es sich als gut herausgestellt.

Mein Leben machte damals einen grossen Schritt. Als ob im Fotoalbum eine Seite umgeblättert würde und ein neues Kapitel erscheint.

Hinterher gibt es vielleicht so etwas wie eine rote Linie in meinem Leben. Aber das war nichts, dem ich bewusst gefolgt wäre. Hätte ich dem folgen können, wenn ich es früher gewusst hätte? Hätte ich mich weniger gesträubt? Chancen deutlicher ergriffen? Kann man seiner roten Linie folgen? Oder heisst das, beim Wandern den Höhenkurven entlang gehen wollen, weil sie auf der Karte aussehen wie ein Weg?

 

Das Fest

Wenn es einen Weg gibt durch das ganze Dickicht – wie soll ich ihn gehen können, wenn er sich erst im Nachhinein zeigt? Ein Weg ist ein „Weg“ durch ein Ziel, zu dem er führt. Ich habe aufgegeben, mir Ziele zu setzen, die ich doch nicht erreichen kann.

Auf der anderen Seite kenne ich die Sehnsucht nach Ankommen. „Ankommen“ – das ist nicht „Ende“. Das Bild eines Festes stellt sich ein. Ein Garten, ein grosser Tisch ist gedeckt, viele Menschen sitzen beisammen unter Bäumen. Ich möchte vorbeigehen, ich bin ja fremd. Aber da kommt einer mir entgegen. Er ist es und lädt mich ein. Auch ich gehöre dazu. Auch für mich ist der Tisch gedeckt. Und alle sind da…

Das Haus Gottes als Einkehr-Ort? Als Taverne? – Als Tabernakel, wo er den Tisch deckt. Er lädt zum Fest, es ist das Bild des Ankommens. Es ist die Kraft für den Weg. Darum geht es hier: um Taufe und Abendmahl. Um den Weg, der hinabführt in den Tod und wieder hinauf zu neuem Leben. Um das Mahl auf dem Weg. Um den Becher von jenem Tisch, an dem am Ende alle zusammen sitzen.

Aber wie finden wir zum Brunnen, der gespiesen wird aus jener Quelle? Wir ahnen etwas, sehen es nicht. Es ist wie im Traum gesehen. Wenn wir Licht anmachen, ist es weg. Und doch ruht es in uns selbst, wir tragen ein Wissen in uns. So wie einer das Bild der Geliebten in sich trägt, schon bevor er sie kennt. Und wenn er sie sieht, ist es wie Wiedererkennen. „Es ist als ob wir uns schon lange gekannt hätten“, sagen sie.

 

Das innere Bild

Etwas kommt an ein Ziel, das in uns angelegt war, wir wussten es nicht, aber wir ahnten es. Es erscheint uns in Träumen. Es hat den Weg gezeigt in einer Sprache aus Bildern. In dieser Sprache sind die Grenzen aufgehoben. Da gibt es nicht nur ein Stück Leben, sondern das Leben selbst. Da sind nicht nur ich und Du, auch mein Vater ist da, meine Mutter, meine Brüder, und alle Menschen, die vor mir waren. Und Jakob, der am Anfang stand der Stämme. Und Adam. Und der, der uns vom Ende her entgegenkommt. Er ist es, den wir als Bild schon lange in uns trugen. Und wir wussten es nicht. Aber wenn wir ihn sehen, ist es wie Wiedererkennen. Es ist, als ob wir uns schon lange gekannt hätten. Ich erkenne ihn wieder, und werde von ihm erkannt. Und das Leben findet die Gestalt, als die es schon immer gedacht war.

 

 

Vom Auftauchen goldener Gefässe

 

  1. November 2007

Ich drehe eine Runde um das Haus. Es ist schön, in der Sonne zu gehen. Das Licht fällt golden auf die Wege. Ich wechsle die Seite, will im Licht gehen. Wie Rauch steigen kleine Nebelschwaden aus dem Bach auf und leuchten in der Sonne. Der Winter hatte schon erste Vorboten geschickt, es schneite bis zu uns hinunter. Jetzt ist noch einmal die Herbststimmung zurückgekehrt. Es sind letzte Tage. Man muss jeden Blick geniessen. Die Büsche stehen fast ohne Blätter, die Herbststürme haben sie leergefegt. Die letzten Blätter sind aufgehängt wie Lampions und strahlen in der Sonne.

Alles ist freundlich in diesem Licht. Niemand kann traurig sein. Alles wird gut. Als ob das Licht eine Botschaft hätte vom Leben.

Ich will es auch in mir aufleuchten lassen. Gestern im Gottesdienst in Unterambach ist es gelungen. Ich konnte den Kreis um die Gemeinde ziehen, uns „in die Mitte stellen“, in das Licht, das von dort ausgeht. In Ambach ging es nicht. Die Leute sassen weit weg, ich konnte nicht auf sie zugehen, ich sah sie nicht.

Alle paar Minuten knallte eine der vier Türen, weil der Sturm um das Haus zog (bis ich mitten in der Predigt hinunterging und die Tür abschloss). Ich konnte die Menschen nicht erreichen, ich hatte das Gefühl, ich stünde in einem Durchgangsbahnhof und der Wind pfiffe mir um die Ohren.

Es gibt eine Methode, um sich auf etwas vorzubereiten, um das Innere nach aussen ausstrahlen zu lassen, um das wirksam werden zu lassen, das schon da ist: es visualisieren. Sich auf das richtige Ziel besinnen: es vorstellen, innerlich hindurchgehen, wieder und wieder.

 

Die Quelle, zu der wir gehen.

Vieles ist bei mir innerlich schon da. Vieles möchte jetzt aussen leben, aber es stösst noch auf alte Hindernisse. Die Zeit vor Advent und Weihnachten ist streng, ich habe 25 Anlässe. Aber ich mache es gern, mit innerer Zustimmung. Oft, wenn ich freihabe, sitze ich hin. Es ist mir ein Bedürfnis, die Bibel hervor zu nehmen. Als ob ein goldenes Licht von ihr ausginge. Ich werde ruhig. Ich finde mich ein. Eine Empfindung von Frieden, Kostbarkeit und Schönheit. Selbst die Propheten, ihre Gerichtsansagen, strahlen jetzt in diesem Licht. Ich habe es früher nicht ertragen. Auch die Arbeit mache ich gern, und ich mache es mir nicht bequem. Ich gehe, bis ich auf Grund stosse. Oft stehe ich vor dem Morgen auf oder sitze nachts noch ein paar Stunden hin.

 

Tanz aus der Heimat

Ein Traum vor dem Aufstehen: Ein junges Mädchen tanzt, ein junger Mann sitzt unter den Zuschauern. Sie tanzt einen Tanz aus seiner Heimat, wo er herkommt. Da ist jeder Schritt gebunden, jede Bewegung der Hand vertraut aus der Welt der Kindheit. So „trifft“ sie ihn ganz.

Er ist gebannt in Schönheit. Er wird ruhig, bleibt stehen. Das Suchen hört auf. Seine Bewegungen werden still.

Er lebt nicht mehr im Land seiner Kindheit, die Szene spielt im Ausland und er ist erwachsen. Da ist viel Hektik, eine unruhige Betriebsamkeit. Aber dieser Anblick trifft ihn im Innersten. Die Bewegung einer Hand hat gereicht – er schaut auf. Und er erkennt es wieder!

Ich erinnere mich noch, dass mir beim Aufwachen durch den Kopf ging: Es ist wie Schlüssel und Schloss! Was ist es, was so aufgeschlossen wird? – Eine Botschaft geht hinüber. Der Angesprochene wird in der Mitte getroffen. Weil beide in die Mitte gehen. Nicht in das, was als Interesse beim andern vermutet wird, sondern das, was wir in uns selber schon wissen: die Mitte, zu der wir selber einen Zugang haben.

 

Die goldene Schale

Zweiter Traum: Ich will Früchte aufeinanderlegen. Einige sind schon da. Andere kommen dazu. Aber sie rutschen herunter. (Es sind zu viele, sie haben keinen Platz). Ich nehme die goldene Schale, die plötzlich da ist. Ich tue sie hinein.

Vor dem Einschlafen dachte ich an die Gottesdienste. Ich will auch den Raum vorbereiten, die Stimmung, das Licht, die Wärme. Der Traum sagt, es ist noch mehr und es ist anders: Ich darf wertschätzen, was da ist. Auch wenn andere vielleicht denken: für den lohnt es sich nicht. Ich weiss, wie teuer es ist. Ich weiss es schon lange. Aber ich habe mich damit abgefunden, dass andere es nicht sehen, wie im Märchen, wo einer aus seiner Lebensreise Gold nach Hause bringt. Und die andern sehen nur Lehm und Dreck.

Das ist die Antwort auf meine Frage vom Sonntag nach dem Gottesdienst. (In Unterambach ist es gelungen, das zeigt, dass es nicht an der Predigt lag. In Ambach nicht, das zeigt, dass das Umfeld nicht stimmte. Da ist die Angst, dass mitten im Gottesdienst das Mikro wieder ausfällt. Da ist das Haus, die Erinnerung, die es weckt. Da ist der Sturm, der wie ein Dämon alle paar Minuten zur Tür hineinbellt. Diesen Sonntag sollte die Kirche ausserdem zum ersten Mal mit einem Laser beschriftet werden, ein PR-Gag des Verwalters. Ich habe eigens das Thema umgestellt, aber jetzt wurde es doch nicht beschriftet. Der Gottesdienst war da nur Nebensache.)

Goldene Gefässe stehen bereit

Ich darf es angehen wie ein katholischer Priester, in goldenen Gefässen bewahrt er es auf. In goldenen Gefässen trägt er es auf den Tisch. In goldenen Gefässen steht es der Gemeinde vor Augen. In goldenen Gefässen hat er es vorher schon in sich getragen. Goldene Gefässe stehen bei den Menschen bereit, um es aufzunehmen.

Wenn sie die Frucht nur sehen, so taucht auch das Gefäss dazu auf – plötzlich, ohne dass man davon wusste, wie in meinem Traum.

 

Ich darf es wertschätzen, auch wenn es erst bei mir ist. Nicht wie jetzt, wo ich mitten im Schreiben unterbreche, und ans Telefon eile – und es ist nur ein Werbeanruf. Ich fühle mich beschmutzt nachher. Ich muss mich schützen, ich darf es wertschätzen.

Ich darf es wertschätzen – so sehr, dass ich ihm auch einen Platz gebe. Dass ich glaube und vertraue: dass die Menschen das Gefäss in sich tragen – oder doch, dass es sich einstellt, wenn ich die Frucht zeige. Ich will die Gottesdienste und alles was ich mache so gestalten, als ob da goldene Messbecher wären und silberne Schalen. (Und nicht Lehm und Dreck.)

 

 

Endlich darf die Wahrheit stattfinden.

 

  1. März 2008

Warum versenken sich Menschen in die Betrachtung der Passion? Da ist ja nichts Erfreuliches. Da ist von Dingen die Rede, denen man sonst eher aus dem Weg geht.

Die Menschen finden etwas in dieser Betrachtung. Sie finden die Schattenseite unseres Lebens. Da ist für einmal ausgesprochen, was sonst nie zur Sprache kommen darf. Es ist eine stille Übereinkunft in der Gesellschaft, dass man immer nur von Erfolgen redet, und wie das Leben einem Spass macht, wie man sich eingerichtet hat.

 

 

Aber es hat auch eine Kostenseite. Es kostet Anstrengung, diese schöne Seite zu zeigen. Es gibt Dinge, die nicht hineinpassen. Von ihnen redet man nicht. Es gibt Erlebnisse, die dem nicht entsprechen, die darf man nicht zur Sprache bringen. Diese Sorge um das Aussehen, diese Angst, wie es nach aussen wirkt – hier in der Passion ist das kein Thema. Hier wird radikal auf die andere Seite geschaut.

Und so schlimm es auch ist – es ist auch ein gutes Gefühl dabei: Endlich darf die Wahrheit stattfinden. Endlich findet man als ganzer Mensch Platz in der Wirklichkeit, wie sie dargestellt wird. Und man darf sich wie strecken und aufrichten.

 

 

Das innere Ziel

 

  1. Juni 2008

Ich bin immer so „am Ende“, die Katastrophe ist immer gleich um die Ecke. Da kann ich nie auf vorläufige Dinge sehen, es geht immer gleich „ums Ganze“, und oft ums Aufgeben. – Sterben tue ich sowieso. Wenn es soweit ist, will ich freundlich gewesen sein zu den Leuten und grosszügig zu den Kindern, und warmherzig.

Mein inneres Ziel, das mein Schicksal lenkte, war immer „Theres“. So wollte ich werden, das wollte ich können: wie sie den Dreck von andern wegputzten und dabei singen. (Das beeindruckte mich, trotz meiner Grossmannssucht als „Bundeshaus-Redaktor“. Sie konnte etwas, was ich nicht konnte. So klein es auch aussah, es war mir zu gross. Als ich hörte, dass sie „Christin“ sei, wollte ich das auch werden.)

Aber Sandra zeigt mir: Ich muss mein inneres Ziel ergänzen um das Bild eines Vaters, der „da“ ist für seine Kinder, der dem Leben etwas zutraut und ihnen das Bild vermittelt von einer Welt, in der man „auf seine Rechnung kommt“ und wo es sich lohnt, Verantwortung zu übernehmen. Muss ich den Platz für die Kinder erkämpfen gegen eine „enge und böse Welt“ – oder muss ich diesen Platz einfach nur „auf machen“ – in mir drin?

 

 

Der Berg vor mir

 

  1. Juli 2008

Wir meinen immer, wir wüssten, was uns fehlt. Das suchen wir. Wenn das mal erreicht wäre, so fühlen wir, dann hätten wir ein anderes Leben. Und jetzt diese Auskunft: “Du musst gar nicht deinem Ziel nachrennen, hör auf! Da ist ein anderes Ziel: Such Gott! Das andere erhältst du dann wie von selbst!“ Das ist, als ob man uns einen Pfeilbogen in die Hand gäbe und sagte: Schiess am Ziel vorbei. Gerade so triffst du ins Schwarze!

Wie macht man das: Gott suchen? – Gott suchen: das ist für mich, wie auf einen schönen Berg zugehen. – Und jetzt sehe ich den Weg, den ich gehen kann. Ich bin schon mitten drin.

Ich bin mitten in seinem Garten. Das Ziel ist schon da, auf jedem Schritt. Gott ist da, in jedem Augenblick. Das wird mir bewusst, wenn ich auf ihn zugehe. Wenn ich mein Herz ausrichte auf ihn.

Und plötzlich habe ich Zeit, wo ich früher immer weiterrennen musste. Plötzlich kann ich „da“ sein für meine Kinder, und habe nicht schon wieder etwas Wichtiges, was mich von ihnen abzieht.

Plötzlich kann ich die Menschen wahrnehmen, die mir begegnen. Und jetzt sehe ich den Weg, den ich gehen kann. Ich bin schon mitten drin.

 

 

Es wird, was ich glaube

 

  1. August 2008

Heute Morgen träumte ich, ich sei im Militär. Wir gehen in Reih und Glied, vor mir geht einer mit einem grossen Bündel auf dem Kopf. Ich sehe nicht nach vorn. Und plötzlich finde ich unsere Unterkunft und meine Gruppe nicht mehr. Wo muss ich jetzt abbiegen? Einmal trete ich in eine Baracke, da sind Rekruten. Ich wusste gar nicht, dass die hier untergebracht sind. Später sehe ich die Anlage im Plangrundriss.

 

 

Ich zeichne die Baracke für unsere Funk-Abteilung an einem anderen Ort ein, so ist es besser. Im Traum bin ich der Anlage unterworfen – gleichzeitig ich bin ihr Herr!

 

Das Buch findet einen Verlag

Dazu passt, was Antonia gestern erlebt hat. Von den Ferien zurück, checkte sie ihre Mails. Eines ist von München, von ihrem Verlag. Die Lektorin, die vor den Ferien noch sehr skeptisch geurteilt hatte, schickte einen Umschlagentwurf der Grafikerin. Ihr habe das Buch sehr gefallen, und sie habe gleich einen Entwurf gemacht. Das motiviere Antonia vielleicht für die Schluss-Arbeit. Ich freue mich mit ihr.

 

Ich lerne etwas: Gutes hat Kraft und gestaltet Wirklichkeit.

Ich dachte immer: Schlechtes habe Kraft und Gutes könne nur im Versteck gedeihen. Aber sie hat die Realität verändert, sie hat daran geglaubt, trotz allem Widerstand. Jetzt schwenkt die Realität auf sie ein und ihren Glauben.

 

Es klingt banal. Aber es deckt eine Haltung auf, die wie eine verkrustete frühe Lebenserfahrung mein Verhalten bis zum heutigen Tag bestimmt:

Ich denke immer: Schlechtes gestalte die Welt und Gutes könne nur im Versteck gedeihen. Ich lerne: Gutes hat Kraft.

 

Neuer Glaubenssatz: Was im Versteck begonnen hat, öffnet sich nach aussen. Es ist schon alles da, es ist im Schutz herangewachsen. Die Kälte kann es nicht mehr gefährden. Das Schöne entfaltet sich, Wirklichkeit wird.

Der Glaube hat es vorausgesehen, es war nicht bloss Illusion und billiger Trost.

 

Es wird, was ich glaube.

 

 

Die Halbheit im Leben

 

  1. Oktober 2008

Nach den Ferien. Wieder bringe ich viele Träume und Notizen mit, die mir helfen, zu verstehen:

 

Im Weder-Noch

Traum: Ich bin bei Medizinern. Ich bin kein Arzt. Ich gehöre nicht dazu, bin eigentlich Pfarrer, ich mache nur ein Praktikum hier. Was mache ich? Nichts Richtiges, da es weder zu einem Pfarrer noch zu einem Mediziner qualifiziert.

Ich stecke im Weder-Noch. Ich denke in Halbschlaf: Ich habe Angst vor dem Glauben, nicht Angst vor dem Unglauben. Ich habe Angst vor Gott, dass er es am Ende nicht gut mit mir meint. Darum die Halbheit immer in meinem Leben.

 

Traum: Ich bin fasziniert von einem Forscher, weil er ganz und gar in seinem Gegenstand aufgeht. Einmal mache ich auch was im Traum, ich nehme einen Gegenstand herunter. Es ist etwas Mechanisches, wie z.B. ein Vogel-Käfig. Ich sage, das gibt mehr Befriedigung, wenn es nicht ganz elektronisch ist. „So ist es“ sagt er. Er bezieht sich nicht nur auf diesen Satz, als er das sagt. Es ist eine Bestätigung für das, was Befriedigung gibt: ganz und ungeteilt in einer Sache aufzugehen. Sich nicht teilen.

Vertrauen, dass die Wirklichkeit letztlich ungeteilt gnädig ist.

 

Im Traum sehe ich eine Konfitüre, die ganz und gar nach Himbeeren schmeckt. Farbe, Geschmack, Konsistenz – alles stimmt zusammen.

 

 

Einladung

Beim Aufwachen scheint es mir klar: Es geht um die Angst, dass ich auf dem Grund der Wirklichkeit Ablehnung finde, daher das Halbe in meinem Leben.

Es ist eine Einladung, voll zu glauben und wie der Forscher zu werden, der mich fasziniert, wie die Konfitüre, die ganz und gar durchdrungen ist von ein und demselben Geschmack, durchdrungen von einer Wirklichkeit.

Die Angst meint, auf dem Grund sei die Wirklichkeit nicht einheitlich, darum kann auch ich nicht einheitlich werden. Es ist die Einladung, voll zu glauben.

 

 

Die Räuber vom Liang Schan Moor

 

  1. Oktober 2008 [5]

Ich lese „Die Räuber vom Liang Shan Po“. Sie leben am Rand, sind ausgestossen. Sie haben gegen Unrecht protestiert. Es ist ein Zustand der „Desintegration“ – er zeigt sich in ihrer Randständigkeit, er meint aber das ganze Reich, das sich nicht einen kann. Die Gegensätze nehmen zu. Auch der einzelne kann so nicht zur Ganzheit kommen und mit sich übereinstimmen.

Das Buch ist einer der klassischen Romane der chinesischen Literatur. Es kommt daher wie ein Abenteuer-Roman, es handelt aber von Korruption und guter Reichsregierung. Es kann parallel zu biblischen Geschichten zu diesem Thema gelesen werden.

 

 

Eine Gesellschaft, zwei Gesellschaften
Der in den Untergrund vertriebene Verwalter Sun verkörpert das Bild eines messianischen Herrschers, er lebt als eine Art Räuberhauptmann wie der alttestamentliche David, bevor er hervortritt und ein Regierungsamt übernimmt. Die Erwartung einer Zeit des Friedens in Gerechtigkeit knüpft sich an seine Machtübernahme, da sein Ruf schon durchs ganze Land ging. Er ist der Helfer der Bedrängten, „der Regenspender von Shantung“.

Am Anfang steht die Erzählung, wie die einzelnen „Recken“ zur Bande stossen und was sie alles können. Am Ende sind es über hundert Anführer, die mit Zehntausenden von Menschen in einem Moor leben, wo sie eine Art Gegengesellschaft bildet, bis sie begnadigt und wieder in das Reich integriert werden.

 

Sechse kommen durch die ganze Welt

Die Lesefreude am Anfang lebt wesentlich vom Motiv «der Sechse, die durch die ganze Welt» kommen. Jeder Held ist einzig in seiner Art, jeder kann etwas, das der Bande nützt. Und gerade das hat ihr bisher gefehlt. So stossen immer mehr dazu, bis alle gesammelt sind, die ein Ganzes ausmachen: eine Gesellschaft, die aus sich leben kann.

Der Räuberhaufen wird im Lauf der Geschichte immer stärker. Sie bekommen Zulauf von Ausgestossenen der Gesellschaft. Sie können jetzt auch in der äusseren Welt Paroli bieten. Allmählich sind sie zu gross, als dass man sie weiter ignorieren könnte. Sie bekommen Amnestie, werden rehabilitiert, erhalten Ämter im Reich.

Die Gerechtigkeit des Ganzen ist wieder hergestellt. Es war nicht sinnlos, dass sie in den Busch gingen. Es war notwendig und hat dem Ganzen geholfen. Jetzt kann der einzelne sich integrieren – in der Gesellschaft und in sich selber.

 

 

 

Vom Umrunden des Berges

Was wissen innere Bilder von äusseren Ereignissen?

 

Dieses Buch handelt von inneren Bildern und äusseren Wegen. [6]  Wie soll das eine mit dem andern zusammenhängen? Ist das Innere nur ein Echo für das Äussere? Oder – wenn es manchmal sogar früher auftaucht als das Äussere und in Träumen und Ahnungen eine Zukunft aufscheint – sollte da eine geheime Alchimie vorhanden sein für eine „innere Führung“ im Leben? Nicht die Spekulation interessiert hier, sondern die Lebenspraxis: Ist da etwas zu finden, was im Leben hilft?

 

Der Sturm und sein „Ende“

Heute Morgen sitze ich mit flauem Gefühl am Schreibtisch. Draussen braut sich ein Sturm zusammen. Dunkle Wolken türmen sich auf. Es rüttelt an Bäumen und Ästen. Ich denke an die Klimaveränderung und ihre Folgen. Das flaue Gefühl rührt vielleicht aber eher von meinem Leben her, weil es sich seinem Ende nähert.

 

Schon gestern haben sie eine Sturmwarnung durchgegeben. Aber morgen soll es schon wieder ruhiger werden. So nimmt die Zivilisation die Angst aus dem Sturm. Die Wetterprognose weiss: „Übermorgen“ ist es vorbei. Aber wenn man den Sturm kommen hört, identifiziert man ihn leicht mit dem, „was kommen muss“ und was allem ein Ende setzt. Da ist ein inneres Ende, ein inneres Bild für Ende, das aufwacht und sich mit diesem und jenem verbindet, das man kommen sieht.

 

Das innere Bild ist nicht falsch. Die äusseren Ereignisse haben auch das Zeug dazu, ein Ende zu bringen für vieles. Aber die Verknüpfung ist oft falsch. Das innere Bild vom Ende ist auf bestimmte Weise geprägt, es mobilisiert die Angst von „damals“. Es führt auf den abschüssigen Weg traumatischer Erfahrung, wo es „nur noch einen Schritt!“ braucht und alles stürzt ins Loch…

 

Mein Innenleben an der Zimmerdecke

Letzten Sommer waren wir in Rheinau. Es war „Tag der offenen Türe“ auf der Klosterinsel. Jahrelang kannten wir das Kloster nur von aussen. Aber wir fühlten uns zu diesem Ort hingezogen. Jetzt öffnete sich die Tür. – Wie wird es sein? Alles ist aufwendig restauriert. Alles sieht teuer aus, die Installationen sind auf modernstem Stand. Aber ich bin enttäuscht. Alles ist grau-weiss gestrichen. Ein Gefühl von Enge stellt sich ein. Nur dort, wo ein altes Treppenhaus belassen wurde, wird es weit, so dass man atmen kann.

Den Weg, der vom Kloster zur Kirche führt, kann man jetzt inwendig abschreiten. Wir gehen durch diesen Gang. Ein Wohlgefühl stellt sich ein. Obwohl es immer noch eng ist. Aber gehen, etwas abschreiten, einem Ziel entgegen gehen – das ist ein inneres Bild, wie ein „Archetyp“. Es weckt ein Echo, lässt etwas anklingen, dem wir nachhören. Wir werden nach innen geführt, wenn wir aussen gehen. Es weckt die Erinnerung und lässt die Intuition äusserlich erleben. Architektur wird offenbar als wohltuend empfunden, wenn sie erlaubt, etwas äusserlich zu begehen, was innerlich lebendig ist. Sie bekommt etwas Sakrales. Als ob es Teil von einem Tempel wäre.

Auf diesem Weg kommen wir an einem Zimmer vorbei, dessen Decke original belassen wurde. Man kann sich setzen und die Decke betrachten. Ich staune: Das hielt ich für das Allerprivateste, denn ich kenne es von meinen Träumen. Aber hier ist es öffentlich! Es sind Bilder vom „Tor“, vom „Garten“, vom „goldenen Haus“, vom „Turm“… Es sind offenbar solche Archetypen. Jedenfalls innere Bilder, wie sie auf dem Glaubensweg aufscheinen.

 

Innen und aussen

Das Erlebnis mit dem Sturm zeigt: Es gibt innere Bilder, die bereit stehen, Erlebtes zu deuten. Es gibt dunkle Bilder, die aus traumatischen Erfahrungen stammen. Und es gibt helle Bilder – und diese kommen von weiter her. Auch andere Menschen kennen sie, die nicht meine Erfahrungen geteilt haben. In alter und ältester Zeit finden sich Berichte darüber. In der Religion werden sie kultiviert.

 

 

Der Weg

 

  1. Mai 2009

„Furcht ist nicht in der Liebe, sondern die Liebe treibt die Furcht aus.“

Manche Menschen behaupten sich, andere ziehen sich zurück. Manche möchten sich durchsetzen, andere sind eher schüchtern, sie gehen einen anderen Weg. Nicht für alle ist der erste Platz, für alle aber ist ein Weg.

Ein Weg ist, in sich ganz klar zu sein. Solche Menschen betreiben schon in der Kindheit abends Gewissenserforschung. Sie können nur nach aussen auftreten, wenn sie sich mit sich selbst in Übereinstimmung fühlen. Mit ihrem Gewissen. Ihre Hilfe ist das Gebet. Sie müssten ja vollkommen werden, können das aber nicht. Sie finden den Weg zur Übereinstimmung im Glauben an Gott: Er hilft. Er vergibt Fehler, er nimmt wieder auf, er stösst nicht für immer weg.

Diese Menschen suchen nicht zuerst den Weg nach aussen, sondern erst in sich: Sie integrieren alles, was sie erlebt haben. Auch wo sie Vorwürfe haben, wo sie von andern gelitten haben. Sie finden Frieden durch Vergeben, mit dem Satz: „Ich bin genauso wie die, die ich anklage.“ So können sie Gott begegnen, so finden sie aus innerer Verstrickung heraus. So bleiben sie nicht gebunden in Vorwürfen und alten Rechnungen, in Opfer-Haltung und Ohnmacht. So können sie Menschen begegnen.

Diese Menschen gehen den Weg, alles zu integrieren, mit der Hilfe Gottes, von dem sie wissen, dass er auch ihr Recht achtet; dem sie sich anvertrauen, seiner Führung, wo sie den Weg nicht wissen; dem sie danken, für alles, was er gegeben hat; dem sie ihr eigenes schlechtes Gewissen nicht verbergen.

Der Knackpunkt ist das Vertrauen, dass sie mit allem ganz und gar von ihm angenommen sind. Denn solche Menschen gehen diesen Weg, die früh andere Erfahrungen gemacht haben. Wer immer auf Anerkennung stiess, geht ohne Mühe auf Menschen zu. Er hat ja nie Kränkung erlebt.

Wer hier nicht gehen konnte, muss erst Heilung erfahren, neues Vertrauen lernen. Ein Ja zum Leben, das immer wieder behauptet werden muss gegen schlechte Erinnerungen, gegen die Tendenz, vielleicht doch lieber einen Weg aus dem Leben fort zu suchen.

 

 

Und so geschieht es im Gleichschritt: Sie lernen Ja sagen ohne Vorbehalt; sie lernen sich angenommen wissen, ohne Rest; sie lernen auf Menschen zugehen, ohne schlechte Gefühle; sie lernen ganz und gar einheitlich werden.

Bei Johannes heisst das: die Liebe. Denn dieses Gefühl, das alles bejaht, das ist die Liebe. Diese Haltung, die sich ganz und gar angenommen weiss, ohne Rest, das ist die Liebe. Diese wachsende innere Bereitschaft, auf andere zuzugehen, ohne jeden Vorbehalt, ohne Vorwurf, ohne Angst vor Ablehnung, ohne sich kleiner zu machen, ohne die Haltung der anderen im Geringsten vorwegzunehmen in der Phantasie, in inneren Dialogen, wo alte schlechte Erfahrungen wieder das Bild trüben – diese Haltung, die auf die Welt zugeht und nur das Beste erwartet und das beste geben will, das ist die Liebe.

 

„Gott ist die Liebe; und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm.

 

Darin ist die Liebe völlig bei uns, dass wir eine Freudigkeit haben am Tage des Gerichts; denn gleichwie er ist, so sind auch wir in dieser Welt. Furcht ist nicht in der Liebe, sondern die völlige Liebe treibt die Furcht aus; denn die Furcht hat Pein. Wer sich aber fürchtet, der ist nicht völlig in der Liebe. Lasset uns ihn lieben; denn er hat uns zuerst geliebt.

 

So jemand spricht: „Ich liebe Gott“, und hasst seinen Bruder, der ist ein Lügner. Denn wer seinen Bruder nicht liebt, den er sieht, wie kann er Gott lieben, den er nicht sieht? Und dies Gebot haben wir von ihm, dass, wer Gott liebt, dass der auch seinen Bruder liebe.“ (1 Joh 4,16-21)

 

 

Der Berg

 

  1. Juli 2009

Nachfolgen ist eine besondere Art des Gehens.

Wer Christus nachfolgt, der macht eigene Schritte, er geht seinen Lebensweg und kommt dabei doch zu einem Ziel, das er aus eigener Kraft nie erreichen könnte.

 

Das Ziel unseres Lebens, das müssen wir nicht machen.
Das steht vor uns, wie der Berg am Horizont.
Mächtig steht er da, er verbindet Himmel und Erde.
Wir sind auf dem Weg dazu.
Und der Weg gelingt, wenn wir jetzt schon von dem leben, was wir anstreben.
Das ist der Glaube.
Er ist ein Stück vom Ziel, während wir noch auf dem Weg sind.

 

Wer glaubt, ist wie ein Wanderer in der Natur.
Vor sich sieht er den Berg, er steht da, mächtig und wunderbar, wie eine Achse im Kosmos.
Wenn der Wanderer sich auf den Weg macht, tritt er in diese Landschaft ein.

Wer sich den Berg zum Ziel nimmt, der ist schon mit dem ersten Schritt in der Landschaft, die zu diesem Berg gehört:
Er lässt die Häuser und Strassen hinter sich, den Lärm.
Er tritt in die Stille ein, Vögel singen, Blumen blühen am Weg.

 

Wer Augen hat dafür, der sieht das Grosse auch im Kleinen. Es ist ja nicht klein, es ist von derselben Art wie der Berg, der da vorne in den Himmel ragt.

 

 

Und vom Berg her kommt uns der Fluss entgegen. Erst ist es nur eine Quelle, dann wird sie grösser. Sie bringt das Wasser bis zu uns, die wir noch auf dem Weg sind.

So können wir jetzt schon unseren Durst stillen, an dieser Quelle, auch wenn wir noch unterwegs sind. Im Gebet, im Glauben, erfahren wir immer neue Kraft. Wir können uns anschliessen an der Quelle. So gehen wir unsern Weg.

 

 

Das Haus

 

  1. April 2010

Ich habe eine Woche frei. Ich bin allein im Haus, hier und dort zerrt es an mir, die alten Gefühle von Einsamkeit und Verlassenheit steigen auf, aber ich widerstehe den eingeübten Abwehr-Mechanismen. So wird es ein Weg ins Offene. Ähnlich wie vor 20 Jahren, als ich alles kündigte und für unbestimmte Zeit ins Ausland ging.

 

Es war eine strenge Karwochen- und Osterzeit. Vielleicht zum ersten Mal nach einer derartigen Anstrengung bin ich nachher nicht in ein „Loch“ gefallen. Jetzt bin allein im Haus, habe eine freie Woche vor mir. Sie wirkt leer, nichts ist geplant, keine Pflicht ist vorgeschrieben, kein Rhythmus vorgegeben. Da ist kein Kleid, in das ich mich stürzen kann, keine Routine, die ich nur aufnehmen muss, und schon ist diese Woche meines Lebens organisiert und abgehakt.

 

Von der Seite her zwickt und zwackt es, die alten Abwehrmechanismen der Einsamkeit melden sich. Das Bewusstsein ist etwas getrübt, als ob ich ein bisschen beschwipst oder schwindlig wäre. (Ich balanciere ja auch hoch über dem Abgrund, da sind die Verlassenheitsängste, die mich in die Tiefe ziehen.) Als Kind wäre ich „aus mir hinausgefallen“ in unfreiwilliger Ekstase. Ich hätte „von oben“ auf mich herabschauen können. Ich hätte mich verloren an die Aussenwelt, in einem Zustand unfreiwilliger Kontemplation. Alles wäre „schön“ gewesen, auch das Hässlichste. Nichts mehr hätte mich berührt.

 

 

Das Haus

Ich gehe einsam durch das Haus

Es ist wie durch die „Seele“ gehen

Nichts wegschieben

Alles zulassen

Dem Gedränge nicht nachgeben

„Da“ sein und gehen

 

Es ist wie Gehen durch die Vergangenheit

Alles steht auf

Es ist wie gehen durch die Zukunft

Der nächste Schritt entscheidet den Weg

 

Ich gehe hindurch

Ich hole mir Hilfe

Ich spiele Kirchenlieder auf dem Klavier

Ich höre Kirchen-Musik, weil es reisst an meiner Seite

 

Ich nehme Jesus Christus als Begleiter mit

Gegen die Einsamkeit und ihre Dämonen.

Jetzt ist die Zeit nach Ostern, bald ist Auffahrt.

 

Karsamstag und Ostern beschreiben einen mythologischen Weg. Er steigt hinab bis zum Tod.

 

Am anderen Ufer

Als er über das Meer fuhr, kam er zum anderen Ufer. Von dort her kam ihm ein Elender entgegen, der in den Grüften wohnte. Und die Dämonen zerrten an ihm:

„Sie kamen an das andere Ufer des Sees, in das Gebiet von Gerasa. Als er aus dem Boot stieg, lief ihm ein Mann entgegen, der von einem unreinen Geist besessen war. Er kam von den Grabhöhlen, in denen er lebte. Man konnte ihn nicht bändigen. Schon oft hatte man ihn an Händen und Füssen gefesselt, aber er hatte die Ketten gesprengt und die Fesseln zerrissen; niemand konnte ihn bezwingen. Bei Tag und Nacht schrie er unaufhörlich in den Grabhöhlen und auf den Bergen und schlug sich mit Steinen.“

(Mk 5,1ff)

 

 

Das mythologische Haus

Im mythologischen Bild steigt er den Abgrund hinab (den jeder Mensch in sich fühlen kann, auch die Metapher drängt sich jedem auf, der sich dem überhaupt stellt).

Es ist ein Bild des Lebensweges der Menschen, wenn man diesen nicht nur als bürgerliche Biographie erzählt, sondern in Kontakt zu den tiefsten Intuitionen, die wir haben, in Bezug auf das Ganze, auf die Quelle, aus der alles stammt, auf das Ziel, wo aller Weg ankommt. Auf die Gegenwart, wo alles sich einfinden kann.

 

 

Das Verborgene

 

  1. Juni 2010

Es klingelt. Es ist Emma, die bei Sandra übernachten wird. Sie bringt eine Schale Erdbeeren mit. Dabei sehen wir, dass jemand eine Tüte mit zwei Salaten vor die Tür gestellt hat. Ohne Notiz, ohne Namen. Das gab es früher ab und zu. Dann blieb es aus, für lange Zeit. – Ist der Segen zurückgekehrt?

 

Traum: Ich hole einen Koffer aus dem Estrich und fülle ihn.

Im Halbschlaf denke ich: Es ist eine Wende. Früher habe ich immer gedacht, es sei Eitelkeit, etwas Eigenes machen zu wollen. Jetzt sehe ich, es ist wichtig für die Selbstachtung und wie man unter Menschen gehen kann. Etwas zeigen von dem, was in mir ist. Nicht nur innere Gärten anlegen.

 

 

Wahrhaftig

 

  1. Juli 2010

Kennen Sie das: Der „Zug“, in dem Sie reisen, macht plötzlich Halt? Die Gedanken, die Sie immer begleiten, stehen still. Die Gefühle, die um die Arbeit kreisen, die Geschäftigkeit, die angetrieben wird vom Nächstliegenden – plötzlich ist es still und ein Gedanke steht klar vor Ihnen. Das ist es! Das ist der Schlüssel, der Ihr Tun auf eine neue Bahn bringt!

 

Im Hintergrund waren ihre Gedanken auf der Suche, auch wenn Ihre Aufmerksamkeit bei der Arbeit war. Aber irgendetwas stimmte noch nicht. Sie fühlten sich nicht wohl in Ihrer Haut. Sie konnten es noch nicht in Worte fassen. Jetzt plötzlich, vielleicht beim Einkaufen, wenn die übliche Tätigkeit für einmal stillsteht, oder bei einem Abendspaziergang, jetzt steht es klar vor Ihnen: So möchten Sie in Zukunft leben! Es ist so klar und offensichtlich! Sie spüren, dass es in diese Richtung gehen muss, dann wird es nie mehr sein wie früher. Aber Sie wissen noch gar nicht, wie das praktisch gehen wird.

 

Ein solcher Gedanke ist: „Wahrheit“. Ich möchte zu dem stehen, was ich als richtig erkenne. Es aussprechen, so handeln. Innen und aussen sollen sich entsprechen. Ich will meine Gärten nicht mehr im Innern anlegen, weil sie aussen keinen Platz haben. Ich will aussen einen Platz suchen, die Blumen aussäen, das Gemüse. Die Bäume sind da. Und die Dornen. Die werden nicht fehlen. Der Wind bringt Samen. Sie schlagen Wurzeln, sie wuchern. Die Brombeeren strecken ihre Ausläufer aus, die Winden schlingen sich um alles und ersticken es. Das gehört zu einem Garten, auch zu einem Lebensgarten. Ich will jäten, ich will pflanzen, ich will dankbar auch das annehmen, was Schönes in meinen Garten fliegt.

 

 

Wahrheit ist gut, aber ich will die Erfahrung meines Lebens dazu nehmen. Tun und sagen, was ich für wahr halte, aber nicht verletzen. Ich weiss noch nicht, was wirklich stimmt, aber das weiss ich, dass das falsch ist: eine Wahrheit, die andere heruntermacht und verletzt. Irgendwie spürt man es der Wahrheit an, auch wenn man sie noch nicht besitzt. Die Wege, die zu ihr führen, lassen es schon erahnen. Wahrheit hat mit Liebe zu tun. Mit dem Recht aller Menschen. Sie ist lebensfreundlich. Daran sehe ich, ob mein Weg zur Wahrheit führt, auch wenn ich noch ganz im Dunkeln tappe.

 

 

Auch das nicht gelebte Leben geht vorbei

 

  1. Juli 2010

Ich fälle heute Vormittag zwei Entscheide, dann besorge ich den Garten. Endlich habe ich es geschafft. Nach langer Lähmung kehrt die Entscheidungsfreude zurück. (Aber die Welt hat sich verändert, seit ich so unbeweglich in Deckung verharrte.)

Nach dem Aufstehen hatte ich die Empfindung, es habe sich viel verändert in meinem Leben. Ich bin nicht mehr der ewig junge, schlanke Blonde, an dem die Jahre scheinbar spurlos vorbei gehen und der alles noch vor sich hat. (Plötzlich ist alles hinter mir, ohne dass ich die Türe aufgemacht hätte. Es hat nicht mal angeklopft. Oder ich habe es überhört.) Ich bin nicht mehr der von der Zeit Unberührte und die Leute staunen: „Was, 60 Jahre alt?“ Ich bin jetzt 61, und man sieht es mir an. (Auch das Leben, das ich nicht gelebt habe, ist vorbei.)

Die Pläne am Arbeitsplatz gehen über mich hinaus, auf die Zeit nach meiner Pensionierung. Ich sitze dabei und denke: So vieles von dem, was ich hätte beitragen wollen, konnte ich gar nie einbringen. Der Termin der Pensionierung steht schon fest. Ich muss mich vorbereiten, eine Wohnung suchen, den Estrich räumen. All die Pläne und Projekte, es sind keine „Schätze“ mehr für eine mögliche Zukunft, es ist Ballast, der niemanden mehr interessiert.

 

 

Verschlossen

 

  1. Juli 2010

Meine Mutter schwärmte für Michelangelo. Sie hatte ein dickes altes „Römerbuch“, in dem viele Kunstwerke in schwarz-weissen Stichen abgebildet waren. Das ging von Hand zu Hand durch unsere Familie, es war ein Gegenstand der Verehrung.

Und so habe auch ich als Kind mein Leben mal gemalt: Da war ein Haus, rund herum tobte ein Gewitter, aber die Läden waren zu, die Bewohner waren geschützt. Und vorne an dem Haus war eine Tafel angebracht: WP, Bildhauer, Maler, Dichter. So wollte ich sein: einer, der die Achtung und Zuneigung seiner Mutter hat.

Interessanter ist aber wohl das andere: dass das Lebenshaus verschlossen war gegen eine Welt, die das Innere mit ihren Stürmen zu bedrohen scheint.

 

Kündigung

 

August 2010

Ich denke über meine Träume nach: Der Traum und das Buch von Theobald, das hat mich an meine Mutter erinnert, an die Widmung meines Lebens: Ich will die Mutter erlösen. Da ist „die Frau, die leidet“ und hopp, schon will ich meine Autonomie aufgeben. Ich widme mein Leben dem Ziel, sie zu erlösen, die Welt zu erlösen. „Hab endlich Vertrauen und mach, was Du willst!“, sagt der Traum.

Ich muss mich ihnen nur nicht ausliefern, nicht als „Braves Kind“ daherkommen, das sich den Auftrag von aussen geben lässt. Ich muss den Auftrag mitbringen. Aus dem Glauben. Aus dem, was ich selber für wahr und richtig halte. So will ich Stellung nehmen, zuerst in meinem eigenen Leben.

So kündige ich meine Lebens-Widmung auf, ich nehme meine verschenkte Autonomie zurück. Ich will aushalten, wenn jemand «leidet» und sich von mir „erlösen“ lassen will. Es ist nur eine Kollusion, ein Anhängen und Mitspielen, ein Co-Alkoholikertum. Es ist dann, als ob ich in den Strahlkreis eines Schwarzen Loches geriete. Ich werde weggesaugt.

Ende und Neubeginn

 

Ende August 2010

Es gibt grossen Wechsel im Pfarrteam. Drei Kollegen gehen – das ist viel Arbeit für die Bleibenden.

Im Traum sehe ich eine Frau. Ich kann ihr nicht sagen, dass ich sie liebe, Angst, sie werde davonlaufen. Und sie kann ihr Interesse nicht zeigen. Im Traum werde ich eingeladen zu einem Anlass der Landeskirche. Habe ich etwas anzuziehen? Ich bekomme einen Anzug à la Charly Chaplin. Der Auftrag: Ich darf nur Jux reden.

Ich lade die Frau ein. Wir sitzen auf der Treppe und flüstern und lachen – endlich!

 

Im September 2010

Traum   1.9.2010: Mitten in der Katastrophe wird ein kleines Kind geboren!

Traum 12.9.2010: Sie bauen das Altersheim nach einem Brand genauso wieder auf, wie es gewesen ist. Das wäre doch eine Gelegenheit, einiges besser zu machen!

Gestern fiel mir ein Bild ein, das ich als Kind gemalt hatte, wohl unter dem Einfluss meiner Mutter, die von Michelangelo schwärmte: Es war das Bild meines Lebens, wie ich es vor mir sah: ein Haus und drum herum ein grosses Gewitter mit Blitz, Sturm und Hagel. Alle Läden und Türen sind zu, nur eine Antenne auf dem Dach hält Kontakt zur Aussenwelt. – Ich stelle mir vor, wie ich ein neues Bild male: das Haus ist weit offen…

 

Oder das Bild der kleinen Sandra, das ich aufgehängt habe: unten ist ein Wachhund, oben schaut sie zum Fenster hinaus. Wenn das Haus gut bewacht ist, kann sie sich wohl fühlen. Ich muss die Türe bewachen, für das Lebensrecht eintreten.

Es sind zwei Bilder zum Thema Türe: die Türe weder verschliessen noch offenstehen lassen. Darüber wachen, was hinaus und was hineingeht!

 

 

Die Deckung verlassen

 

  1. September 2010

Ich habe die neue Kirchenpflege begrüsst und den Gottesdienst zum Beginn der neuen Amtsperiode gehalten. Grosser Anlass mit Honoratioren und offiziellem Gepräge.

 

Ich bin meinen Weg gegangen. Ich schäme mich nicht, wenn ich mich gegenüber der Erwartung verweigere (so dass man klein und hässlich dasteht), ich unterziehe mich der Erwartung nicht (so dass man sich selbst verliert). „Ich schäme mich nicht des Evangeliums.“ Ich wundere mich nach dem Gottesdienst beim Apéro, wer alles plötzlich in biblischen Begriffen redet. „Fromme Töne“, für die man früher verpönt worden wäre.

Ich bin nachts jetzt oft aufgeregt, kann nicht schlafen. Ich habe die „Deckung“ endgültig verlassen, bin zum Handeln übergegangen, zum Zeigen (bekennen) und zum Tun, was ich für wahr halte.

 

 

„Einnisten“ in die Welt

Unsere Kultur, all unser Denken und Tun, ist eine Art „Einnisten“ in die Welt, so wie die befruchtete Eizelle sich einnistet in der Wand der Gebärmutter. Es ist nicht nur so, dass wir uns die Welt zurechtlegen würden, und sie bleibt objektiv und unbeeinflusst. Es ist eher so wie bei einem Kleinkind, das eben auf die Welt gekommen ist. Es scheint hilflos und doch kann es alles steuern, es zeigt den Eltern, was es braucht. Und die ganze Welt um das Kind herum reagiert auf es und gibt ihm was es braucht.

 

Einnisten

Wir nisten uns ein in die Welt und so gibt sie uns Antwort auf unsere Fragen. So wird sie zu einem „Du“, an dem unser „Ich“ wachsen und sich entwickeln kann. So findet unsere Sehnsucht ein Ziel, alles, was in uns angelegt ist, eine Entsprechung. So wird die Welt zu einem Ort, wo wir uns nach unsren tiefsten Intuitionen verhalten können. Der „innere Pilot“, wenn wir uns auf ihn verlassen, führt uns auch im Äusseren zuverlässig. Weil beide schon vor Urzeiten aufeinander abgestimmt sind.

(Wie lange dauert es, bis wir wieder auf den inneren Piloten vertrauen lernen! Wie lang dauert es, bis wir jene Erziehung durch die Angsterlebnisse überwunden haben! Wie friedvoll und schön ist es, wenn wir wieder zu dieser inneren Stimme zurückfinden! Ein Gefühl des Ankommens mitten im Leben. Als ob das Ziel der Zeit schon jetzt gegenwärtig wäre. Als ob die Mitte in jedem Augenblick zu finden wäre. Wie ein Einstimmen in einen grossen Klang, der das Weltall seit seinem Beginn durchströmt.)

 

Versöhnung

Es ist alles vor uns da und wird nach uns da sein. Es ist nicht unser Feind, ihr Name in der Tradition ist Gnade. Sie schwingt im Gleichklang mit unseren innersten Intuitionen. Vertrauen wir lieber dieser inneren Stimme. Und wenn sie undeutlich ist, dann finden wir sie im Evangelium, in den Erzählungen von Jesus Christus. Er ist von Gott her in die Welt gekommen. Er lebt unter uns. Er geht durch unsere Städte und Dörfer, durch unsere Kulturen und durch unsere Wüsten. Und wo er hinkommt, bringen die Menschen ihm ihre Kranken, damit er sie heile.

Und der Blinde am Weg ruft ihn. Und er stellt ihn in die Mitte und fragt: Was willst du, dass ich dir tue? – Dass ich wieder sehe! – Glaubst du, dass ich das tun kann? – Ja, Herr, ich glaube! – Steh auf und folge mir nach! Und er bückt sich zu denen, die am Wegrand liegen und richtet sie auf. Und selbst den Aussätzigen berührt er, damit niemand aus der Gemeinschaft hinausfalle, denn dazu ist er in die Welt gekommen, um sie zu retten, nicht zu verurteilen. So eilt er selbst dem hundertsten Schaf noch nach, wenn es verloren ist. Zuletzt legt er alles Gott zu Füssen, damit Gott alles in allem sei. Und nichts ist verloren.

 

Nichts ist verloren

Nichts ist verloren. Das Christentum ist keine tragische Weltanschauung. Es gibt keinen Konflikt, der am Ende noch bestehen kann. Das Christentum ist eine Erlösungsreligion. Es findet seine Antwort in der tiefen inneren Zustimmung, die wir in uns spüren. Nur so können wir uns selber annehmen, in all den Konflikten unseres Daseins. Nur so können wir uns selber integrieren, wachsen, uns versöhnen. Nur so führt unser Weg zu Dank, Frieden und Versöhnung.

Neue Infragestellung

 

  1. Oktober 2010

Es tut gut, eine Woche frei zu haben, den Tag anders zu verbringen, mit anderen Gedanken, in der Begegnung mit anderen Menschen. Es relativiert sich alles. Was einen eben noch erdrückt, wird so zu einer Variante, wie man das Leben auch verbringen kann. Vorher nahm es allen Platz ein, so dass nichts darüber hinaus gedacht werden konnte. Jetzt, mit etwas Distanz, werden die Grenzen sichtbar. Es ist ein Kleid von vielen, ein Kleid, das das Leben anziehen kann. Aber es geht auch anders.

 

Es scheint, als ob ich viele Kleider ausziehe im Moment. Eben noch wollte ich auf meine Zettel schreiben: „Manchmal möchte ich nur noch tot umfallen, damit es zu Ende ist.“ Dann hatte ich den Traum, und dieser hat mir in den letzten Tagen oft geholfen: im Traum sah ich eine Katastrophe, und mitten drin wurde ein Kind geboren. So gehe ich jetzt durch diese Zeit. Und nach allen Erschütterungen fällt mir der Traum wieder ein.

Antonia geht fort. Noch einmal zieht mein Leben an mir vorbei. Die alten Bilder stellen sich wieder ein, «das Loch», das alles verschlingt. Und ich lege noch einmal die alten Kleider an, bin verzweifelt, bin verlassen, bin verraten, werde geopfert. Doch ein Traum zeigt neue Bilder an.

Antonia und ich wanderten auf dem Üetliberg. Ich wusste nichts zu sagen, mir fielen all die Menschen ein, die ich im Lauf des Lebens verloren hatte. So zog das Leben an mir vorbei. Antonia wollte reden, aber ich war wie abgehängt. Ich kippte aus mir heraus in einer Art von Kontemplation.

 

Ich kämpfe nicht und streite nicht. Es ist schwer zu begreifen. Ist mir denn alles gleichgültig? Es ist die alte Resignation, die mich wieder einholt. Es geht nicht, sagt eine Stimme, und schon strecke ich mich nach dem Prokrustes-Bett, das mir angeboten ist. Schon ziehe ich die Füsse an, gebe jene Teile verloren, die auf diesem kleinen Ort keinen Platz haben.

 

 

Nüchtern schaue ich vorwärts. Der nächste Lebensabschnitt steht schon vor der Tür: meine Pensionierung, der Auszug aus dem Haus, das Ausfliegen der Kinder, das Suchen nach einer neuen Formel für das Leben und Zusammenleben. Als Zukunfts-Bild sehe ich mich nicht an der Seite einer anderen Frau. Ich sehe mich allein in einem Zimmer, spartanisch eingerichtet: Tisch und Bett und Stuhl, dazu eine Koch-Gelegenheit. Ein Leben in selbstgewählter Arbeit und Kontemplation.

 

Falsche Hingabe

Als Kind hat die Kontemplation mich überfallen, vielleicht ähnlich, wie Sandra jetzt zum Träumen neigt. Es war der halb-krankhafte Eskapismus eines „schizoiden Kindes“, das nie ganz im Körper Platz genommen hat. Es war ein „Aus sich hinausfallen“, aber auch ein Hineingehen in ein Reich der Schönheit. Doch ich verbot es mir, immer wieder, definitiv im Alter um 25. Ich legte die Gedichte beiseite, verpflichtete mich auf einen Weg „unten“ auf dem Boden. So ging ich immer auf das zu, was mir nicht lag. Ich legte mir immer auf, was ich von mir aus nie gesucht hätte, weil ich spürte, dass der Weg da hindurch musste.

Und so bekam ich, gegen alle Wahrscheinlichkeit, sogar eine Familie. Es war das Schönste in meinem Leben. Es ist mein Dankgebet bis heute. Es ist das, was mich am meisten aus dieser kalten Welt befreit hat, wo Verlassenheit die Grundbefindlichkeit darstellt, nach dem „emotionellen Apriori“ meiner Kindheit.

 

 

Mein Teil

 

  1. Oktober 2010

Was soll ich noch im Leben? Ich bin überall im Weg. Ich bete zu Gott: Ich muss etwas von Dir haben, ich kann nicht auf die Zukunft warten, die es korrigieren soll. Ich muss jetzt so leben, dass ich Freude spüre an Gott und von Gott her.

Ich erinnere mich an die „Schechina“ bei den jüdischen Frommen, den Chassidim. Sie warten nicht einfach auf den Messias, eine solche Naherwartung wurde schmerzlich enttäuscht.

Sie freuen sich jetzt schon über Gott und seine Gegenwart, sie singen und tanzen. Sie haben jetzt schon Anteil an Gott und seiner Gegenwart.

Ich stelle Bibeltexte zusammen über Teilhabe und meine Eindrücke:

 

Mein Teil

Wer mehr und mehr auf Gott setzt und das andere mehr und mehr loslässt, begibt sich auf einen Weg, den Weg Gottes. (Das ist seine Innensicht). Er begibt sich aber auch auf eine Bahn. (Das ist die Aussensicht auf ihn). Er wird zum Fremdkörper im gesellschaftlichen Leben. Er „positioniert“ sich nicht, macht kaum mehr mit im Wettrennen um Güter und Geltung. Er scheint all das zu verachten, womit andere renommieren. Er stösst an. Er wird seltsam in den Augen der andern.

Manchmal übernimmt er ihre Sicht, sie wird ihm auch in der eigenen Familie vorgehalten, die halbwüchsigen Kinder wollen einen Papa, auf den sie stolz sein können. Sie genieren sich noch mehr, als es in der Pubertät schon üblich ist. Mit solch einem Vater kann man nicht aufkreuzen. Dann fühlt er sich wirklich nichts wert.

 

Dann hilft ihm das Bild vom Teil, das die Leviten im Alten Testament entwickelt haben: Bei der Landverteilung sind sie leer ausgegangen, sie haben kein Erbe, keinen Erbsitz, keine Stimme unter den Vermögenden. Ihr Anteil ist der Dienst am Tempel. Das gibt ihnen ein Auskommen. Ihr Anteil sind die Güter, die sie im Glaubensleben erfahren. Ihr Teil, das ist, ihre Sorgen auf Gott zu werfen. Ihre Freude ist, seinen Weg zu gehen.

 

Einige Texte – es ist die Ordnung für Priester und Leviten – zeigen die Spiritualisierung dieses Anteils an den Gütern: Gott gibt nicht nur das Einkommen aus dem Tempeldienst (dass der Ochse vom Stroh fressen darf, das er drischt, wie Paulus sagt). Er gibt denen, die ihm dienen, was sie brauchen, in einem umfassenden Sinn. Zwar sind sie ausgesondert aus dem Volk, sie haben dadurch aber nicht weniger, sondern auf andere Weise. Alles soll dem Volk dienen, dem Wohl des Ganzen. Es ist keine Aufrechnung verschiedener Schicksale, keine Neid-Ordnung, keine Kompensation durch spirituelle Güter und geistlichen Hochmut. Es geht ums Reich Gottes, um Recht, Würde, Zuwendung – das sind Güter, die denk- und lebensnotwendig sind.

 

Dennoch ist es ein besonderes Schicksal, auf Gott zu hoffen und andere Mittel weg zu lassen. Der Weg führt durch das Dunkel (wie jeder Weg), aber er führt ans Ziel. Darum wird das Thema auch in der eschatologischen Heilsprophetie wieder aufgenommen: Das „Minus“ an Schande und Blossstellung, das sie ertragen haben, wird ausgeglichen, wenn sie sich des Evangeliums nicht schämten und nicht abfielen. Es gibt ein „Plus“ in einem doppelten Anteil am Ende, wie bei Hiob.

 

Daran interessiert nicht die Buchhaltung des Anteilhabens, nur das Wahrnehmen: Da ist einer blossgestellt worden, auch das wird geheilt. Darum ist jetzt schon Trost und Freude in Gott. Das hilft zur Hingabe, wie es im Endbild aufgenommen wird von der heiligen Hochzeit, dem endgültigen Liebesbund in Gott.

 

 

East of Eden

 

  1. Februar 2011

Aus Träumen habe ich die Bitte ins Gebet genommen:

Hilf mir, dass ich mich nicht in die Überforderung flüchte, dass ich mich nicht zum “Opfer“ mache, das “unschuldig“ und nicht verantwortlich ist.

Wenn ich keine Angst vor mir selber habe (und vor dem, was in mir ist, dank der Anrufung von Jesus Christus) dann kann ich handlungsfähig werden.

 

Es ist wie ein Kommentar zu Genesis 4:

 

„Und der Herr sah Abel und sein Opfer gnädig an; aber Kain und sein Opfer sah er nicht gnädig an. Da ergrimmte Kain sehr, und seine Gebärde verstellte sich. Da sprach der Herr zu Kain: Warum ergrimmst du? Und warum verstellt sich deine Gebärde? Ist es nicht so: Wenn du fromm bist, so bist du angenehm; bist du aber nicht fromm, so ruht die Sünde vor der Tür, und nach dir hat sie Verlangen; du aber herrsche über sie.“ (Gen 4,4ff)

 

East of Eden

Es ist das Paradox, das John Steinbeck in „East of Eden“ durchbuchstabiert. Für uns reagiert Kain nur auf die Benachteiligung. Neid und Zorn reissen ihn hin. Wer wäre nicht verzweifelt, wenn Gott ihn verwirft? Für einen absoluten Betrachter verläuft die Kausalität umgekehrt (für irdische Gerechtigkeit ist das ein Gräuel): Weil er in sich geneigt ist, kippt er und fällt er. Der Anfang zum falschen Verhalten war schon vorher in ihm. Hätte er dort Halt gemacht, wäre es nicht dazu gekommen.

 

In mir selber ist das Verlangen, die Neigung, die Tendenz, die Kraft, die mich zieht. Das macht mir Angst, es wird zu einer Angst vor mir selbst.

 

Wo treibt es mich hin? Ich gebe das Steuer auf, ich gerate in ein Fahrwasser, das mich mitreisst, und ich willige ein, mich mitreissen zu lassen. Aber jetzt kann ich noch umsteuern. Ich kann es, wenn ich in diesem Moment den Glauben nicht fahren lasse, sondern Jesus Christus anrufe. Und wenn ich es tue, kehrt die Besonnenheit zurück.

 

 

Es wird wieder klar. Ich nehme die Verantwortung wahr. Ich bin und werde zu einem Menschen, der Verantwortung wahrnehmen kann.

 

Ich bin dann kein Mensch mit „Zufalls-Generator“, der ihn mal auf die linke, dann auf die rechte Seite reisst. Und weil er das weiss, weil er Erfahrungen gemacht hat mit sich, traut er sich selber nicht mehr über den Weg. Er weicht der Verantwortung aus. Er stellt sich hinten an. Er unterstützt allenfalls andere. Aber er geht nicht voraus. Denn vor sich, da sieht er keine feste Leitplanke. Die müsste er in sich selber finden, das müsste er mit seinem Vorangehen für die anderen sein. Aber das kann er nicht, das traut er sich nicht zu. So kennt er sich nicht.

 

Handlungsfähig werden

Darum ist er ein Mensch, der nicht handlungsfähig ist. Er denkt, träumt, albert, ironisiert. Er spielt mit Worten. Im besten Fall findet er den Weg als Nachfolgender und lernt so einen gewissen Ernst. Aber das Vorangehen-Können, wie ich es bei Heinz bewundert habe, das kennt er nicht.

 

Für mich als Kind war Heinz, mein grosser Bruder, jemand, von dem Handlungen ausgehen. Schon in seiner Haltung war es spürbar. Er war eine Art Vaterfigur für mich. Mein wirklicher Vater hat das nicht ausgestrahlt, obwohl er auf bewundernswerte Weise Verantwortung getragen und im Geschäft „seinen Mann gestellt“ hat. Ich sehe jetzt, wie sehr er es „contre coeur“ gemacht hat. Ich muss ihn dafür noch mehr bewundern.

 

Auch ich muss das Fell meiner charakterlichen Neigungen gegen den Strich bürsten, wenn ich Verantwortung wahrnehmen soll. Auch für meine Kinder, unsere Kinder. Ich strahle es nicht aus, ich hoffe, ich kann es ein bisschen, wie mein Vater, contre coeur, aber doch wirksam in den wichtigsten Punkten. Aber „ausstrahlen“, so dass man es mit den Sinnen aufnimmt an seinem Vater, dass man seine Angst beruhigt und heimisch wird in dieser Welt, ausstrahlen kann ich es nicht. Da ist kein „Sexappeal“ dabei, wenn ich handle und Verantwortung übernehme. Es ist immer nur contre coeur. lch folge nicht meinem guten Gefälle, ich muss gegen meine falsche Neigung kämpfen. Und es ist wohl schon etwas Grosses, wenn Sandra lernt, gegen ihre Neigung zu kämpfen.

 

 

Der Türhüter

Sandra liest einen Artikel: „Bin ich zu introvertiert?“ Sie ist 14, hat begonnen, sich zu sich selbst zu verhalten, sie ist autonom geworden oder besser: Sie hat den Dialog aufgenommen mit dem Streben nach Autonomie und mit der Erfahrung, dass sie an Grenzen stösst. Sie sieht die Differenzen, macht sich Sorgen, reagiert mit Scham und \/erstecken bzw. mit Aufbruch und dem Willen, sich zu einem Ziel zu bestimmen.

 

Im Elternschlafzimmer hängt eine Zeichnung, die sie als kleines Mädchen gemacht hat: Da steht sie vor dem Fenster ihres Zimmers und schaut hinaus. Sie lacht. Unten vor dem Haus ist ein grosser, grimmiger Wachhund und fletscht die Zähne.

Wenn das Aussen bewacht ist, bin ich innen glücklich. Wenn ich den Wachhund in mich aufnehmen kann, so dass ich mich selber wehren kann, gegen Angriffe von aussen (und innen), dann werde ich handlungsfähig. Dann gehe ich hinaus. Dann lache ich auch, wenn ich draussen bin.

 

Ich habe immer ein schlechtes Gewissen, wenn ich das Bild sehe. Ich lese es als Aufforderung, sie besser zu schützen. Ich habe das zu wenig gekonnt, als sie klein war. Ist es jetzt dafür zu spät? Die Kleinkind-Phase der Kinder ist vorbei. Sandra ist in der Pubertät, Deborah wird in einem halben Jahr volljährig (18).

 

 

Wie innen und aussen sich verbinden

Ich kann das Bild lesen als Kommentar zu obigem: Ich und sie, jeder Mensch, der will, kann sich darin sehen.

 

Wenn das Aussen bewacht ist, bin ich innen glücklich.

Wenn ich den Wachhund in mich aufnehmen kann, so dass ich mich selber wehren kann, gegen Angriffe von aussen (und innen), dann werde ich handlungsfähig. Dann gehe ich hinaus. Dann lache ich auch, wenn ich draussen bin.

 

Dann kann ich von dem Schönen, was im Innen ist, auch nach aussen tragen. Dann kann ich andere Menschen daran teilhaben lassen.

Dann hat auch das Stück innerer Weg seinen Sinn und seinen Wert. Dann hat mein ganzes Leben, das anders ist als das der andern, seinen Sinn und seinen Wert.

 

 

 

 

Das Schloss meiner Mutter

Traum: Auf dem Land, das meine Mutter mir hinterlassen hat, gibt es noch viele wunderbare Schlösser und Anlagen, z.B. auf dem „Dätzen“ und dem „Nollen“. (Vom Dätzen hat meine Mutter erzählt, der Nollen liegt wohl nicht im Rheintal, wo sie herkommt. Es ist ein Berg aus meiner Kindheit, weil es dort ein Lagerhaus gab.)

 

(Der Traum schöpft aus Tagesresten – ich habe vor einer Woche den Film gesehen: Das Schloss meiner Mutter, nach Marcel Pagnol. Ich mache mir in letzter Zeit oft Vorwürfe und denke, ich sollte und müsste. Vielleicht taucht das jetzt vermehrt auf, weil ich mich nicht mehr in die Überforderung flüchte, was mir früher das Denken abnahm. Jetzt spüre ich die Verantwortung und realisiere: Ich weiss gar nicht, wohin die Reise gehen soll. Da sind die Ansprüche, die an mich gerichtet werden. Da ist das Konkurrenz-Spiel, das leicht zufrieden zu stellen ist, wenn man nur irgendwas macht, was „Erfolg“ oder „Beachtung“ erzeugt. – Aber was ist das, was es wirklich braucht?)

 

Der Traum erinnert mich. Auch im Erbe meiner Mutter, von dem ich vielleicht mehr übernommen habe als von meinem Vater, gibt es noch Schlösser. Auch wenn es nur solche sind wie im Film „Das Schloss meiner Mutter“ (nach dem Buch „Eine Kindheit in der Provence“ von Marcel Pagnol).

 

Sie flohen aus der Enge von Marseille in die Hügel der Provence, wo sie ein bescheidenes Feriendomizil hatten. Dort war das Glück. Im Schutz gegen das Aussen konnte das Innen aufblühen. Aber es war immer eine halbe Tagesreise Weg, weil sie all die Schlösser auf dem Weg umgehen mussten. Eines Tages entdecken sie einen Weg an einem Kanal entlang. Ein ehemaliger Schüler des Vaters ist dort Aufseher. Er öffnet die verbotenen Türen, und jetzt sind sie, wie durch einen Zauber, in einer halben Stunde am Ort.

 

 

Es gibt einen direkten Weg zum Innersten, zur Mitte, zum Glück. Innen und aussen lassen sich verbinden. Es ist ein mystischer Weg. Die Türe in der Gartenmauer, die man im Traum öffnet. Und man tritt hindurch und ist im Garten, in der Mitte.

 

Aber der Weg ist verboten. Sie sterben jedes Mal fast vor Angst, wenn sie da durchgehen. Und nach und nach werden sie auch entdeckt. Der eine Schlossherr ist ein Kavalier. Er küsst der schönen Mutter die Hand und lädt sie an den Tisch. Er erlaubt ihnen den Weg. Ein anderer – seine Reaktion habe ich vergessen. Und da ist noch ein dritter. Hier werden sie lange nicht entdeckt.

 

Es ist die letzte Station auf dem Weg. Und die Angst und Aufregung steigt jedes Mal ins Unerträgliche, wenn sie da hindurchgehen. Die Mutter hat ein schwaches Herz. Fast stirbt sie dabei. Der Vater ist eher ängstlich. Er ist ein überkorrekter Beamter und fürchtet um seine Stellung und wie das alles „nach aussen“ wirkt.

 

Schliesslich werden sie entdeckt. Ein kleiner Park-Wächter macht sich gross und demütigt sie. Es ist der wahr gewordene Albtraum. Aber die Hilfe kommt. Der Kanalwärter weiss, wie man sich wehrt. Er und seine Kollegen wissen, wie sie mit jenem Park-Wärter umgehen müssen. Der Weg ist frei.

 

Trotzdem stirbt die Mutter bald darauf. Die Zeit der Schlösser ist vorbei. Der Sohn aber wird zu einem berühmten Filmemacher (Schriftsteller). Er schickt seine Equipe auf die Suche nach einem guten Drehort. Und als er ihn besichtigt, realisiert er:

Es ist jenes Schloss. Das Angst-Schloss. Das Schloss seiner Mutter, wo sie Ängste litt, weswegen sie vielleicht gestorben ist. Ihm steht es jetzt offen. Dank der Mutter. Er ist ihren Weg gegangen.

 

 

Der Künstler

Auch im Innern gibt es Schlösser. Auch wenn die Aussenwelt Angst macht. Er hat gelernt, das Schöne aus seinem Innern hinauszutragen. Und die Menschen sind bezaubert. Sie fühlen sich im Innersten berührt. Sie entdecken, was sie selber ahnen. Nur können sie es nicht so gut in Bilder fassen. Aber hier sehen sie es vor sich.

 

 

Und so hat das Leiden seiner Mutter einen Sinn. Und sein Weg hat einen Sinn. Sie sind den Weg gegangen trotz der Angst. Und sie lernten, das Innere zu schützen und dann hinaus zu tragen, immer wieder, in Portionen, die verträglich sind. So dass das Heilige geschützt ist und auch die Menschen, die es verehren.

 

Es ist so wie Sandra es gezeichnet hat:

Wenn das Aussen bewacht ist, bin ich innen glücklich. Wenn ich den Wachhund in mich aufnehmen kann, so dass ich mich selber wehren kann, gegen Angriffe von aussen (und innen), dann werde ich handlungsfähig. Dann gehe ich hinaus. Dann lache ich auch, wenn ich draussen bin. Dann kann ich von dem Schönen, das ich im Innern finde, auch nach aussen tragen. Dann kann ich andere Menschen daran teilhaben lassen. Dann hat auch das Stück innerer Weg seinen Sinn und seinen Wert. Dann hat mein ganzes Leben, das anders ist als das der andern, seinen Sinn und seinen Wert.

Ich halte einige Ergebnisse dieses Kapitels fest:

 

Das Schöne

Mein Leben war von frühster Kindheit an von Kontemplation geprägt. Zuerst zwangsweise. Ich war gewissermassen aus der Wiege geworfen und fand den Weg nur, indem ich «in der Umgebung aufging», mich auf eine kontemplative Art zur Welt verhielt. Es war vor allem Handeln und Machen. So wurde es zu einer Art von Weltbezug, der mich auch später begleitete, in einem Alter, wo ich durchaus hätte handeln können. Aber bei jeder Verletzung rutschte ich in diesen frühkindlich erlernten Modus der Weltbewältigung zurück. Ich versank in Kontemplation.

Die Religion kam nicht deswegen in mein Leben. Aber da sie nun da ist, ist sie das Medium und der Ort, wo ich das „kultivieren“ kann. Ich kann Kontemplation üben, ohne dass es zu Weltflucht wird. Ich kann das „Schöne“ als Reichtum des Lebens annehmen, ohne dass es zu einer Droge wird, die mich hindert, die Verantwortung wahrzunehmen.

Es gibt einen direkten Weg zum Innersten, zur Mitte, zum Glück. Innen und aussen lassen sich verbinden. Es ist ein mystischer Weg. Da ist die Tür in der Gartenmauer, die man im Traum öffnet. Man tritt hindurch und ist im Garten, in der Mitte. Aber der Weg ist verboten. Sie sterben jedes Mal fast vor Angst, wenn sie da durchgehen.

 

 

Wenn das Aussen bewacht ist, bin ich innen glücklich. Wenn ich den Wachhund in mich aufnehme, so dass ich mich selber wehren kann gegen Angriffe von aussen und innen, dann werde ich handlungsfähig. Dann gehe ich hinaus. Dann lache ich auch, wenn ich draussen bin.

Dann kann ich von dem Schönen, was im Innen ist, auch nach aussen tragen. Dann kann ich andere Menschen daran teilhaben lassen. Dann hat auch das Stück innerer Weg seinen Sinn und seinen Wert. Dann hat mein ganzes Leben, das anders ist als das der andern, seinen Sinn und seinen Wert.

 

 

Entscheidung

 

  1. Mai 2011

Was will ich: Narren-Freiheit oder Achtung von den Menschen?

Zuerst muss ich selber mich entscheiden, was ich will. „Achtung“ bekommen, das heisst auch: sich hinstellen, sich behaften lassen, Garantie leisten oder Genugtuung geben, Kritik annehmen. V.a. aber: mich der Gefahr aussetzen; nochmals in das hineinzugehen, was ich nie mehr erleben wollte.

„Lieber mache ich mich selber zum Narren, als nochmals Scham und Schande zu erleben.“ So hat etwas in mir entschieden. Dann darf ich mich aber nicht beklagen, wenn ich in der Gemeinde nur noch „den Trottel“ darstelle.

 

 

Weltinnenraum

Untergangs-Gerede

 

  1. August 2011

Seit Wochen ist trübes Wetter, der Juli ist sprichwörtlich verregnet. Die unwillkürliche «Romantik» des Erlebens (die einen „link“ herstellt zwischen „innen“ und „aussen“ und die in der äusseren Trübsal eine Bestätigung findet für die innere Not) – sie erhält dieses Mal sogar Recht: Auch die Feuilletons sind voller Untergangs-Gerede. Und nicht nur die Feuilletons, auch die Wirtschafts-Seiten der NZZ orakeln von dunkler Zukunft.

 

Das Feuilleton wird aufgemacht mit einer Farbstudie von William Turner über den Brand des Parlamentsgebäudes in London. „Das Feuer, inszeniert als schöpferische oder zerstörerische Macht, eröffnet die Schau.“ Auf mehr als einer halben Zeitungsseite brennt eine der Gründungs-Institutionen der europäischen Demokratie, aber der Blick darauf ist nur noch ästhetisch: die Freude am Farbenspiel, das Gruseln und das geheime Einverständnis mit dem Feuer, das alles vernichtet.

 

Denn innerlich ist diese Katastrophe schon lang in Gang. So freut man sich, wenn es äusserlich endlich sichtbar wird. Endlich ist man wieder in Gleichstimmung mit der äusseren Welt, die bisher immer so unbeeindruckt ihren Gang zu gehen schien, während innerlich schon alles abbrannte, was einem Sinn und Halt gab in der Welt…

 

 

Der kosmische Innenraum

 

Ambach, 14. August 2011

Mache ich, was ich kann? Mache ich was ich soll? Wie unterscheiden zwischen einer Betriebsamkeit, die die Angst beschwichtigt und dem, was wirklich nötig ist? Wie unterscheiden zwischen „es ist unmöglich“ und „ich bin resigniert“? Wie nehme ich mich selber ernst und das, was ich gelernt habe?

 

Was tun?

Die Ratlosigkeit ist heute ziemlich allgemein. Symptomatisch der Satz aus dem „Tages-Anzeiger“: „Was tun? Man kann nur beten, dass sich die Politik trotz all ihrer Versäumnisse durchwurstelt.“ (TA 13.8.11, S. 11)

Wenn ich das lese, fällt mir auf, ich habe kein Bild von der Zukunft, und das trägt wesentlich zu meiner Beelendung bei. Ich habe Bilder von Untergang oder dann vom Bewahren, damit der nötige Niedergang abgefedert wird. Und positiv?

 

Hinausgeworfen

An diesem Morgen wache ich auf. Ich suche Anschluss, möchte spüren, dass ich gehalten bin. Ich bete. Ich erinnere mich, wie ich als Kind „Nina-Nina“ machte, wenn Mutter lange fort war und ich alleine im Kinderbett lag. Ich warf mich hin und her, wollte etwas spüren. Bis sie plötzlich da war und sagte: So, machst du „Nina-Nina“? Und es bekam einen Namen, war nicht mehr furchtbar.

 

Dieses Gefühl, hinausgeworfen zu sein, im Raum zu schweben, keinen Halt zu haben, nicht angeschlossen zu sein, verfolgt mich offenbar bis heute. Und im Alter vielleicht noch mehr.

 

Das grosse «Nina-Nina» der Kultur

Mein ganzes Bestreben, ja die ganze Kultur, liesse sich auffassen als ein grosses „Nina-Nina“: Es will sich anschliessen. Es sucht nach einem verlorenem Drin-Sein, Dran-Sein (einen kosmischen Mutterleib, eine Brust der Welt, einen Körper der Wirklichkeit), mit allen Sinnen, sodass alle Intuitionen wahr werden.

Katholiken haben eine Marien-Verehrung, die diese Kind-Mutter-Gefühle vielleicht besser aufnehmen kann. Es geht nicht um eine „Verschiebung kindlicher Bedürfnisse auf ein religiöses Objekt“ und die „Reduktion der Religion auf Psychologie“. Die kindliche Bedürftigkeit, ob erfüllt oder frustriert, ist ein Sensorium für die Wahrnehmung. Das gehört zu unserem So-Sein in der Welt. So müssen wir uns die Welt zu-richten, damit wir uns in ihr finden, in ihr leben können.

Wir müssen sie uns in einem absoluten „Du“ gegenüberstellen, wenn wir mit ihr ins Vernehmen kommen wollen. (Das machen wir im Gebet, dem spontanen Glaubens-Akt). Wir müssen ihr unterstellen, dass sie Antwort gibt auf unsere Fragen und Bedürfnisse, sonst fallen wir wie kosmischer Staub in eine ungeheure Leere. Dass sich damit nicht leben lässt, entgegen der Behauptung von sog. Religionslosen, zeigt diese Zeit mit ihrer Verzweiflung.

 

Mutter

Wir sind aus der Wiege gefallen, machen Nina-Nina. Und wir warten auf die Mutter Welt, die mütterliche Wirklichkeit, wo wir ins Leben eintreten können (statt in es hineinzufallen), wo wir sterben können (statt immer wieder von dem „Loch“ verschlungen zu werden, schon im Leben und dann im Sterben). Mutterschaft ist ein Bild für Gott (da wir nur diese Bilder haben, die aus unserem In-der-Welt-Sein stammen), Vaterschaft ein anderes. Bruder, Schwester wieder andere und die Verbindung in der Liebe ein weiteres.

 

Der Körper

  1. Juli 2013

Die Wirklichkeit ist ein Körper, an den man sich anschmiegt:

 

Wie ein Kind an die Mutter,

Wie zwei Liebende,

Wie ein Verstorbener, der in die Erde gelegt wird,

Wie ein einsamer Mensch, der noch ein Haustier hat, und es kommt, und schmiegt sich an ihn. Und es hilft ihm, dass er nicht aus der Welt hinausfällt.

 

 

Die Pforte

 

  1. Oktober 2011

Das Wetter hat umgeschlagen, es ist nass, kalt und dunkel geworden. Alles liegt unter einer Nebeldecke. Vorgestern bin ich mit Antonia auf die Rigi gefahren, in die Sonne hinauf, mit Blick auf das Nebelmeer. Heute ist es kalt. Ich will aufräumen, innen und aussen. Antonia und Sandra sind bei Oma. Sie ist nach dem Spital wieder zu Hause, mit Unterstützung vieler Dienste. Unsicher, wie lange es geht.

 

Weihnachten als „Filiale“ von Ostern

Bald beginnt die Vorbereitung der Weihnachts-Anlässe. Ich will Weihnachten nicht als etwas behandeln, das automatisch kommt wie der Frühling. Vorher ist ein gewaltiges Gebirge zu überqueren, wie der Gotthard, wenn man ins Tessin fahren will. Und es ist nicht sicher, ob man es schafft. Das sind die Ereignisse um die Passion.

 

In der Passion tauchen die Fragen auf, die an Weihnachten beantwortet werden. Beides gehört zusammen. Weihnachten ist eine „Filiale“ von Ostern. Das Weihnachts-Fest kam viel später, es hat den Inhalt seiner Heilsbotschaft von Ostern her. Es sieht weniger anstössig aus: Da wird ein Kind geboren, das kann man scheinbar leichter glauben. Das ist nicht wie ein Toter, der aufersteht. Aber so ist Weihnachten missverstanden. Da wird nicht ein Kind geboren, sondern Gott wird Mensch. Der Unendliche tritt durch die schmale Pforte eines Schosses und macht sich zum Menschen. Was die Pforte auch umgekehrt öffnet.

 

Die Pforte

Der kleine, sterbliche und zerteilte Mensch, der am Grabenrand blüht wie eine vergessene Pflanze neben der Autobahn: dieser Staub, dieses Partikel, dieser Weggeworfene und Geschundene und von hundert Wagen Überrollte, dieser Vergessene, von seinen eigenen Artgenossen Verratene – er findet eine Pforte, von der niemand mehr etwas wusste.

 

 

Das Wissen davon ist in der Menschheit ausgestorben. Als er in seiner Zerstörtheit seine tägliche Strasse runtergeht, ist da plötzlich eine Türe, wo niemals eine war. Sie ist nur angelehnt. Er stösst dagegen, sie geht auf, sie öffnet sich in einen Garten. Er geht hinein – dumm und blöd, wie er in seinem Elend ist, kann er nicht mehr klar denken und schauen – und findet sich in einem Garten wieder. Da ist es, da ist die Mitte. Da ist das Licht, die Wärme.

Und eine Erinnerung überkommt ihn wie aus der Zeit seiner Geburt, vor der Geburt. Es weht ihn an wie aus unvordenklichen Zeiten, und es bringt Schauer mit sich, Erschütterung – und Er ist da.

Und die Worte fehlen, aber eine Erinnerung schenkt ihm Kraft und Freude: die Erinnerung an Jesus Christus, wie er ihn kennt aus den Evangelien. Er pflegte zu sagen, wenn er einen Kranken heilte: „Tritt her, in die Mitte!“ So tritt auch er in die Mitte. Und es ist Gebet. Alles andere würde ihn zerreissen. Im Beten bleibt er leben.

Und nach unendlich langer Zeit kehrt er zurück. Durch die Türe, durch die Pforte. Durch den Engpass in die enge alte Welt. Aber es ist kein Alltag mehr. Es dröhnt ihm noch in den Ohren. Die Augen sind noch geblendet. So torkelt er in der Welt herum. Ist es ein anderes Torkeln als damals, als die Welt ihn am Schlafittchen hatte? Es ist ein anderes Torkeln. Er hat den Schleier gehoben, an einem kleinen Zipfel hat er den Schleier gehoben. Die Welt ist anders für ihn. Er weiss.

Er wird nie mehr so blind und stumpf und verzweifelt am Rande stehen. Weil er in die Mitte gesehen hat. Und dort war – Liebe! Man kann es nicht glauben, die Welt hat es vergessen. Die Welt torkelt ihren alten stumpfen Gang.

 

 

Im Weltinnenraum

 

  1. November 2011

Samstag, freier Vormittag. Ich hatte gestern kaum noch Kraft, weiterzufahren. Auch die Welt ist im Chaos, überall bricht es auf: Finanzen, Wirtschaft, Angst um die Zukunft, sozialer Protest, neues Säbelrasseln zwischen Israel und Iran, „arabischer Frühling“. Und Fukushima ist noch immer nicht „unter Kontrolle“… Man kann es auch so sehen: Wir nähern uns Weihnachten von der Seite der Erlösungs-Bedürftigkeit her. – Können wir auch die Botschaft der Erlösung noch hören?

 

Letzten Sonntag habe ich Oma in Basel besucht. Ich finde den Weg zu ihrer Klinik. Es wird ein wundervoller Besuch. Vor der Tür noch Zögern. Nach der Schilderung meiner Frau liegt sie im Sterben. Ich vertraue mich an. Als Pfarrer bin ich schon oft hineingegangen durch eine solche Tür: nackt und bloss, nur mit dem Vertrauen auf Christus und das Gebet. Ich muss nur „da“ sein. Er ist da.

 

Wir begrüssen uns, unterhalten uns, Grüsse von zuhause. Am Schluss ein gemeinsames Gebet. Eine Begegnung im Innern, durch die ich auch wieder ins Aussen komme.

Es ist, als ob eine Tür sich öffnet und wir eintreten in einen Welt-Innen-Raum.

Es ist wie bei „Ali Baba“ und seinem „Sesam öffne dich!“

Und eine Wunderwelt tut sich auf.

 

„Ja, das gibt es, ich hatte es nur vergessen! Das ist auch eine Seite der Wirklichkeit!“

Draussen rennen sie herum, sie plagen sich und bringen sich um im Existenzkampf der Wirtschaft, in Krieg und Bürgerkrieg.

Da ist Hunger und Härte und bleierne Zeit.

Aber hier ist Licht und Wärme und Menschlichkeit, ein Schatz von Gold und Perlen, heilige Zeit.

 

Hier ist Mitte.

 

 

Die Erinnerungen springen zurück, sie holen das Fernste herauf.

Wie ein Abstieg in den Brunnen.

 

Die Hoffnungen dehnen sich aus. Sie holen das Grösste aus der Zukunft. Wie eine Leiter in den Himmel.

 

Alles ist hier, alles ist jetzt.

Unter den Augen Gottes.

 

Ruhe, Glück und Ankommen.»

 

 

Die Antwort

 

  1. November 2011

Was wünschen wir uns, wenn wir älter werden, wenn das Leben sich dem Ende zuneigt? Wir möchten Anerkennung für das, was wir geleistet haben. Wir möchten Versöhnung, dass wir im Frieden sein können mit den Menschen. Wir möchten Danke sagen und selber auch die Dankbarkeit spüren der Menschen, uns gegenüber. Und wir möchten Gerechtigkeit. Schliesslich, wenn wir müde werden, möchten wir, dass das Leben einmündet an ein Ziel. Wir möchten ankommen nach dem langen Weg.

 

Wenn wir mit diesen Fragen auf den Text schauen, so liest er sich wie eine Lebensbeschreibung (Ps 63). Aber nicht den äusseren Weg beschreibt er, sondern den inneren Weg. Der äussere Weg, das sind die Stationen von Kindheit, Schule, Beruf und Familie. Das wurde angetönt im Lebenslauf. Der innere Weg, das sind die Erfahrungen, die wir dabei machen, die Hoffnungen, die Sehnsüchte und was wir erfahren haben an Glück und Leid. Da ist eine Kraft, die uns jeden Tag aufstehen lässt. Da ist eine Hoffnung, die uns beflügelt. Da ist ein Ort, wo wir immer wieder einkehren können und zur Ruhe finden.

 

„Du bist mein Gott, den ich suche, meine Seele dürstet nach dir. Mein Leib schmachtet nach dir wie dürres Land ohne Wasser.“

Der Psalm beginnt mit einer Anrede. Da ist ein „Du“, an den sich der Beter wendet: eine vertraute Person. Wir hören ein intimes Gespräch. Beste Freundinnen sprechen so, Menschen, die sich vertrauen und die sich ganz aufeinander verlassen können.

 

Wir sind im Innenraum der Welt. Draussen geht die Welt ihren Gang. Die Nachrichten erzählen von Politik und Krise. Das bleibt draussen, hier hören wir einen Menschen, wenn er „ganz bei sich“ ist. Er scheint schutzlos, er macht sich schutzlos, er offenbart sich und zeigt sein Innerstes, weil er sich hier ganz geborgen und angenommen weiss. Hier ist Wärme und Geborgenheit.

 

„Du“ – So ist es schön, zu leben, in der Geborgenheit eines „Ich und Du“, wo die Welt ein Gesicht erhält und Antwort gibt. (…)

 

Das ist das Gebet eines Lebens, der innere Weg eines Menschen mit Gott. Der Mensch in diesem Psalm wird nicht verschont von Problemen, auch er wird verletzt vom Leben. Es reisst Menschen weg von seiner Seite. Er erfährt Zurücksetzung und Unrecht. Aber er hält fest am Vertrauen zu Gott. So geht er seinen Weg. Und er findet Halt und Hilfe.

 

Es ist ein Weg auch für uns. Wir dürfen an unseren grössten Hoffnungen festhalten. Es ist nicht zu spät. Auch wir haben Verletzung erfahren – da ist ein Arzt, der heilt. Auch uns ist manches unter der Hand zerbrochen. Da ist einer, der aufrichten kann. Auch wir sind manchmal verzweifelt. Da ist ein „Du“, das Antwort gibt. In Christus kommt uns Gott entgegen.

 

„Ich bin der gute Hirte“, sagt Christus. „Ich will meine Schafe weiden, wie es recht ist. Was verloren gegangen ist, werde ich suchen, und was vertrieben ist, werde ich zurückholen. Was gebrochen ist, werde ich verbinden, und was krank ist, werde ich stärken.“ (Ez 34, 15)

 

In diesem Vertrauen dürfen wir auch an die Menschen denken, die gestorben sind, und an NN. Sie ist „angekommen“. Gott kommt ihr entgegen, er bringt sie ans Ziel.

 

 

Kein Ort. Überall

 

  1. Januar 2013

„Kein Ort. Nirgends“ heisst eine berühmte literarische Erzählung. Der Ort aber, von dem hier die Rede ist, könnte auch heissen „Kein Ort. Überall“. Denn er ist auf dieser Erde an keinem bestimmten Ort zu finden. Und doch ist er überall, wo man ihn sucht. Es ist ein „Ort der Besinnung“. Aber man findet ihn vor allem in sich selber.

Die Reformatoren haben vor 500 Jahren die Vorstellung abgelehnt, dass Gott sich an Dinge binde. Sie lehnten darum das Weihen von Räumen, Sachen oder Personen ab. Der Heilige Geist sei überall zu finden. Und Gott könne man anrufen, wo immer man sei, in welcher Situation auch immer.

Die Rede ist vom Gebet. Wer das bei sich hat, hat immer Kontakt. Und jeder Ort wird ihm zu einem „Ort der Besinnung“. Darum sind alte reformierte Kirchen so nüchtern. Sie erzeugen keine Stimmung durch Architektur und Malerei. Der Reichtum, der da ist, den bringen die Menschen mit.

 

Der entfaltet sich inwendig, wie ein Garten in einem verschlossenen Hof. Es braucht gleichgestimmte Augen, um ihn zu sehen. Es braucht das Gebet, um in diesem Garten einzutreten und die Schönheit zu sehen. Wer es aber bei sich hat, der kann sie überall entdecken.

So ist das Gebet ein kleines „Vademecum“, das man immer bei sich tragen kann. Wie eine Reise-Apotheke. Wie ein Handy, durch das man immer verbunden ist.

 

 

Das Schrecklichste und das Schönste

 

  1. Januar 2013

Christus betet im Garten Gethsemane. Botticelli hat das Bild gemalt. Ein Engel reicht ihm den Kelch. Unten sieht man die Jünger, die schlafen. Es ist ein Bild der Passions-Geschichte, aber er hat dieses Bild kombiniert mit dem Motiv des „hortus conclusus“.

Der Garten ist eine Felsplatte, über den Rest erhoben. Und er ist von einem Gartenhag umgeben.

So teilt sich der Eindruck von Frieden und Freude aus dem einen Motiv dem andern Motiv mit, das sonst Entsetzen wachruft.

 

Es ist das Schlimmst-Mögliche, was die Phantasie eines Menschen sich vorstellen kann. Aber gerade hier, in deinen Albträumen, wenn das Dunkelste dich einholt, da kannst du durch die Tür gehen, da kannst du in den Garten eintreten, da kannst du dich vor Gott stellen. Da kannst du in der Mitte verweilen. Da kannst du Frieden finden und Freude bei deinem Gott!

 

Frieden im grössten Schrecken
Botticelli, der das Bild malte, hat etwas Ungewöhnliches gemacht. Er hat für den Garten in Gethsemane das Bild vom umschlossenen Garten gewählt. In der Malerei ist das der „hortus conclusus“. Dieses Bild steht für die Intimität der Begegnung zwischen Gott und Mensch. Abgeschirmt von Dornen blühen die Rosen im Garten. Geschützt von Mauern blüht der Reichtum im Inneren. So wie es aufblüht im Menschen, in der Begegnung mit Gott.

 

 

Es ist wie der innerste Seelen-Kern. Der Ort, wo wir uns noch erinnern an Gott, und wo wir eine grosse Sehnsucht nach ihm tragen. Ein Paradiesort vom Anfang, ein Sehnsuchtsbild für das Ziel des Lebens, wenn alles wieder vereint ist, was getrennt wurde und auseinander gerissen. Wenn der Mensch wieder bei Gott und Gott beim Menschen ist.

 

Dieses Bild des Friedens kombiniert der Maler jetzt mit dem Schreckensbild, wo Jesus verfolgt wird und um sein Leben fürchtet! Christus sagt: „Meine Seele ist zu Tode bekümmert.“ Und ausgerechnet jetzt erinnert er an die Geborgenheit, die er erfahren hat im Vertrauen zu Gott. – Was ist wohl stärker: der Schrecken, den das Bild von Gethsemane verbreitet? Oder der Friede, der vom Bild des Gartens ausgeht?

 

„Alles ist Dir möglich“, sagt Christus. „Lass diesen Kelch an mir vorübergehen! Doch nicht was ich will, sondern was Du willst!“ (Mk 14,36) – Nicht das, was ich will. Das ist keine Resignation. Das ist nicht Verzweiflung. Es ist Vertrauen! Er gibt sich hin an diesen Gott. Er vertraut ihm, auch in dieser dunklen Stunde. Er glaubt, dass Gott gute Gedanken für ihn hat und dass er ihn den richtigen Weg führt.

 

Das Vertrauen, das wir in uns tragen – wir dürfen es auch dorthin tragen, wo unsere grössten Sorgen sind. Der Friede – er ist gewachsen im Innern, dort wo wir im Gespräch sind mit Gott in unseren Gebeten – wir dürfen ihn auch dort hintragen, wo wir Widerstände spüren, wo die Angst uns lähmt.

 

Der Garten geht mit
Die Dornen schützen den Garten. Die Mauern schützen das Heiligste, was wir kennen. So konnten wir uns früher öffnen für das Vertrauen und für das Leben. Weil wir wussten, dass das Innerste und Kostbarste geschützt und bewahrt wurde.

 

Jetzt erfahren wir: Gott selber ist da. Er ist mit uns auf dem Weg. So dürfen wir ihm alles hingeben, müssen nichts mehr zurückhalten. Wir wissen und vertrauen: Er schützt und bewahrt es, wie es richtig ist.

 

So dürfen wir hinausgehen, auf das Stück Leben, das vor uns liegt. Und wir dürfen die Geborgenheit dieses Schutzes mitnehmen auf den Weg. Denn Er ist mit uns.

 

 

Die Himmelsleiter

 

  1. Februar 2013

 

Was ist das: das Leben? Was macht unser Leben aus?

Wir denken unser Leben immer von dem her, was wir machen. Das beschäftigt uns ein Leben lang: die Schule, die Ausbildung, der Beruf. Jeden Tag ist die Agenda voll mit Pflichten und Aufgaben, die wir erfüllen müssen. So können wir uns fast nicht mehr vorstellen, dass man ein Leben auch anders erzählen könnte. Wir können das Leben auch von dem her verstehen, was uns geschenkt wird. Dann kommen ganz andere Dinge in unseren Blick: die Familie, die Menschen, die wir gern haben.

 

Das erste, was wir in einem Lebenslauf angeben, ist unser Geburtsdatum. Das erste und wichtigste an unserem Leben haben wir nicht selbst gemacht. Es ist uns geschenkt. Und wenn wir all das abziehen würden, was uns geschenkt ist, es würde wenig übrig bleiben. Wir finden uns vor auf dieser Welt, die wir nicht gemacht haben. Wir leben von dem, was sie und die Natur uns schenken. Wir sind Teil von etwas Grossem.

 

Die Bibel erzählt das Leben von Jakob. Zuerst hören wir von dem, was er selber macht. Mehr und mehr wird sein Leben aber auch durchsichtig für das, was ihm geschenkt wird. Und wir sehen seine Lebensreise in einem grösseren Zusammenhang. Bei dieser Geschichte lernen wir begreifen, was mit dem Wort „Paradies“ gemeint ist. Und was Kinder meinen, wenn sie sagen: dass „Opa im Himmel“ ist. Hören wir die Geschichte von Jakob.

 

Jakob macht sich auf den Weg. Früh am Morgen ist er schon unterwegs. Es ist ein schönes, erwartungsvolles Gefühl: ein neues Kapitel des Lebens fängt an. Er soll heiraten, die Braut abholen, die für ihn bestimmt ist. Das wird ein grosses Fest geben in der Familie, alle sind dabei. Das gibt ein Singen und Tanzen, ein Festen und Fröhlich Sein. Jakob kommt flott vorwärts. Am Anfang ist alles bekannt. Hier ist er aufgewachsen. Hier kennt er jeden Tritt und jeden Stein. Er kommt bei den Herden vorbei, bei den Weideplätzen, am Brunnen. – Orte, wo er als Kind gespielt hat. Er grüsst all diese Plätze im Vorbeigehen. Er nimmt die Erinnerungen mit.

 

 

Bald ändert sich der Weg. Und es kommt der Moment, wo er wirklich Neuland betritt. Hier war er noch nie. Aber sein Vater hat ihm den Weg beschrieben. Er ist diesen Weg schon gegangen. Jakob geht zu dem Ort, wo sein Vater herkommt. Und er hat ihm seinen Segen mitgegeben. Es ist schön, wenn man sich von seinem Vater getragen fühlt, wenn man im Einverständnis ist mit Vater und Mutter. –

 

Jakob greift tüchtig aus. Am Mittag macht er Halt, er packt das mitgebrachte Essen aus. Er schaut sich das Land an. Es ist schön, es gibt Wiesen und Wasser. Da könnte man Vieh weiden lassen. Vielleicht wäre das ein Platz für ihn, wenn er eine Familie hat?  –  Dann geht es weiter. Jakob ist jung. Es ist eine Freude, die Beine zu bewegen. So wandert er bis in den Abend hinein.

 

Allmählich wird es dunkel. Er sucht sich einen Platz zum Übernachten. Er ist es sich gewohnt, im Freien zu übernachten. Das hat er oft getan zusammen mit den Knechten, wenn er bei den Herden war, zuhause, wenn er die Ziegen hütete. Er freut sich, unter freiem Himmel zu schlafen. Er legt sich einen Stein unter den Kopf und legt sich hin. Ein prächtiger Sternenhimmel wölbt sich über ihm. Er wird allmählich schläfrig. Die Milchstrasse ist wie ein silbernes Band am Himmel. Es beginnt unten am Horizont und führt hoch in den Himmel hinauf. Wie eine Strasse… Jakob schläft ein. Er hat einen Traum.

 

Der Traum

Er träumt von dem Weg, von dem, was er vorhat. Er träumt von seinem Leben, und was für eine Wendung es nehmen wird. Und dann sieht er eine Leiter. Der Himmel ist offen. Und eine Leiter führt von seinem Platz direkt in den Himmel hinein. Und Engel steigen auf der Leiter auf und nieder. Und Gott selber ist da. Er gibt sich ihm zu erkennen: „Ich bin der Herr, der Gott deines Vaters Abraham und der Gott Isaaks.“ Er segnet ihn. Dein Weg wird dich ans Ziel führen, sagt er. Ich werde dir Kinder schenken, sie sollen auf diesem Land leben, auf dem du stehst. Ich gebe es dir und deinen Nachkommen.

 

Am Morgen wacht Jakob auf. Ganz elektrisiert von seinem Erlebnis.

Was war das? Er möchte es festhalten. Der Stein, auf den er seinen Kopf legte in der Nacht, er richtet ihn auf, als Zeichen, damit er diesen Ort wieder findet. Hier will wieder herkommen. Hier soll das Zentrum werden für ihn und seine Familie.

Das ist ein heiliger Ort, sagt er. Hier ist das Tor zum Himmel, und ich wusste es nicht.

 

 

Wenn ich sicher zurückkomme, dann will ich hier für meine Familie einen Altar bauen. Das soll der Mittelpunkt werden für meine Familie – der Ort, wo der Himmel offen ist und wo Gott Antwort gibt.

 

Das Leben

Später, viel später, als er selber schon alt ist, erinnert er sich gern an diese Wanderung. Er ruft sie sich in Erinnerung. Und er kann spüren, wie es sich anfühlte: als er am Morgen loszog, als er Mittagspause machte, als er am Abend einen Schlafplatz suchte. Und wie er dann den Himmel über sich sah.

 

Und er sieht sein Leben dann mit anderen Augen. Es ist ein grosses Unterwegs-Sein. Nicht nur damals, in der Jugend, auch jetzt, im Alter.

Es hört nie auf. Und sein Weg, den er hier unten geht, ist nur ein Teil eines grossen Weges. Er hat etwas davon gesehen, die Leiter, die in den Himmel führt.

Es ist nur ein Traumbild. Aber er erinnert sich ein Leben lang daran.

Es ist etwas Wahres, aber er kann nicht sagen, wie das geht.

Es gibt ihm Vertrauen für den Weg.

 

Ich verstehe nicht alles, was mein Leben ausmacht. Ich muss es wohl auch nicht verstehen.

Aber ich muss vorwärts gehen. Und ich spüre, dass ich dabei begleitet bin.

Damals war ich unterwegs zu einer Hochzeit. Etwas Schönes lag vor mir, ein grosses Versprechen.

Auch jetzt hat das Leben ein grosses Versprechen für mich. 

 

Jakob vertraut auf seinen Traum. Er lässt sich von dem leiten, was Gott ihm versprochen hat. So geht er seinen Weg. Er macht eigene Schritte, und kommt doch an ein Ziel, das er aus sich allein nie hätte erreichen können. Es ist, als ob jemand eine Leiter aufgerichtet hätte, die von der Erde zum Himmel führt. –

 

Die Haltung

So erzählt die Bibel. So können wir unser Leben ansehen: Wir sind auf einer Reise, sie ist viel grösser, als wir denken. Da ist eine Heimat, von der wir herkommen. Da ist ein Ziel, zu dem wir unterwegs sind. Es ist uns vorgegeben wie die Erde, auf der wir unterwegs sind, wie die Sterne, die über uns leuchten. Es ist ein gutes Geheimnis um das Leben. Von seinem Ursprung her.

 

 

Am Ende des Wegs nimmt er uns auf. Wie er es zugesagt hat: «Ich bin mit dir, ich behüte dich, wohin du auch gehst, und bringe dich zurück in dieses Land. Denn ich verlasse dich nicht, bis ich vollbringe, was ich dir versprochen habe.»

 

 

Trauma und Weltinnenraum

 

  1. Juni 2013

Sandra ist jetzt in Frankfurt. Um 12.00h fliegt sie nach Washington. Ihre Abreise hat mich nervös gemacht. Zuerst auf eine halb verborgene Weise, es schlich sich ein von den Rändern her. Bis es immer grössere Teile von mir okkupierte. Ich wurde fahrig und nervös, wütend. Ich zog mich zurück und wollte niemanden sehen. Es erinnerte mich an mein Aufgebracht-Sein, wenn die kleinen Kinder früher nicht nach Hause kamen und ich nicht wusste, wo sie waren.

 

Als Sandra weggeblieben ist

So ist Sandra früher mal weggefahren, auf ihrem Dreirad. Sie sagte noch „ich geh weg“. Eine Frau hat sie später auf der Marktgasse angehalten. „Zu wem gehörst du denn?“ „Pffh!“ – hat sie sie angefahren. Später, sie war vielleicht acht Jahre alt, wollte sie mit ihrer Freundin Kathy weggehen, so wie Pippi Langstrumpf von zuhause ausreisst. Sie packten eine Gurke ein, Guetsli, und eine Pelerine. Später entdeckten wir sie auf der Treppe vor unserem Haus, wie sie die Gurke assen. Vielleicht hat Kathy sie davon abgehalten, in Nacht und Nebel hinein aufzubrechen, wie Pippi Langstrumpf, und bei jeder Kreuzung die Münze zu werfen.

 

 

Ein Einbruch von Ängsten

Es ist ein Einbruch von Ängsten, der in seinem Ausmass aus der Situation nicht erklärbar ist. Da wurden alte Dämonen geweckt, die mit Furcht und Schrecken durch das Haus rasten. Eine alte Angst wurde geweckt und mit der Erinnerung stieg die Befürchtung auf, dass das Leben wieder seine hässliche Seite zeigen könnte und mich tief verletzen.

 

Da gibt es keine sichere Seite, auf der man wohnen kann.

Die Abgründe sind immer da.

Und es kann dich immer wieder einholen.

Dafür gibt es keine Therapie. Heile mal den Tod weg!

 

Dafür gibt es nur das Glaubensvertrauen.

Und dieses geht immer wieder durch die Hölle.

 

Das Glaubensvertrauen muss die Bilder aufnehmen, muss selber rasen und schrecken können. Wie soll ich sonst diesen Fratzen begegnen? Dafür ist die Apokalypse da. Da ist der Glaube am Kämpfen.

 

Der grosse Tod

In meiner Jackentasche fand ich kürzlich einen Zettel mit einer Notiz:

 

“Diese Welt geht auf ein massenhaftes Sterben zu –

wie wollen die auskommen ohne einen Gott,

der entgegenkommt und aufnimmt?“

 

Die Antike kannte Jesus Christus als „Psychopompos“, als Seelenführer. Früher hatten sie einen Gott, der mit massenhaftem Tod und mit Schrecken umgehen konnte. Das ist die Szene in der Bhagvad Gita, wo Gott sich dem Krieger Arjuna offenbart. In einer japanischen Manga-Version hat sie Hayao Miyazaki aufgenommen, in seinem „Porco Rosso“. Der Kampfflieger im Krieg ist übermüdet, er fällt in einen Traum. Er sieht einen Strich über sich, der in den Himmel zieht. Als er genauer hinsieht, sind es Myriaden von Kampffliegern in ihren Flugzeugen, alle seine Kameraden, aber auch die Gegner, die abgeschossen wurden – in einer langen Prozession fahren sie in den Himmel auf.

 

 

Der Blick von aussen und von innen

Tod und Schrecken – das ist der Blick von aussen.

Christus ist all diese Tode schon gestorben.

Er kommt ihnen von der anderen Seite her entgegen, nicht in Schrecken, sondern in Frieden. Er verbreitet nicht Angst, sondern Trost und Geborgenheit.

 

Die Offenbarung zeigt beide Seiten: Den kämpfenden Gott, den Blick von aussen. Und den entgegenkommenden Gott, den Blick von innen.

 

Dass er entgegenkommt, das ist der Blick von innen.

Von aussen gesehen heisst das: Er hat gesiegt.

Im Glauben wären wir im Innern, aber in Angst und Schrecken schauen wir immer wieder von aussen.

 

Für diese Zeit hat er die Glaubenden mit einem Kreuz bezeichnet, damit sie schon aussen etwas haben, was sie an den Frieden im Innern erinnert. Von aussen ist es schrecklich anzusehen: ein Kreuz, ein Instrument der Folter und des Todes. Von innen ist es ein Geschenk des Friedens.

 

„Den Frieden lasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch. Nicht gebe ich euch, wie die Welt gibt. Euer Herz erschrecke nicht und fürchte sich nicht.“ (Joh 14, 27)

 

 

Das Äusserste und das Innerste

 

  1. Mai 2015

Im Traum gehe ich hinaus und verirre mich. Ich frage nach der Adresse und finde sie trotzdem nicht. Das träume ich zweimal. Nach dem Aufwachen habe ich Angst, dass ich dement werden könnte. „Alles verlieren“ – das Bild der Demenz verbindet sich mit dieser Angst.

Mit der Demenz verliere ich nicht nur Haus und Bleibe, ich muss in ein Heim und kenne vielleicht Frau und Kinder nicht mehr. Schon einmal habe ich den Namen meiner Mutter vergessen!

 

 

Ich verliere auch mich selber und alle Vorstellungen, die die innere und äussere „Welt“ repräsentieren.

Zuerst mobilisiert der Traum die Angst der Verlassenheit, was ich als Kind erlebte. Dann geht die Angst ins Aller-Innerste: dass ich auch den Glauben verliere, jenen Anker, den ich auch in der allergrössten Verlassenheit meines Lebens noch auswerfen konnte.

 

Hängt der Glaube am Verstand? Ist es eine Verstandesfunktion? Hängt das Vertrauen-Können am Körper, ist da eine Gewissheit eingestiftet, die auch dann noch spielt, wenn der Verstand seine Funktionen einstellt?

Der Traum sagt: Ich kann noch beten. Das hängt dann vielleicht nicht mehr an den kognitiven Teilen des Betens, vielleicht nicht mehr an den körperlichen Anteilen (dem jahrzehntelang geübten „ewige Gebet“, das mit Atmen verbunden ist und manchmal fast selbsttätig abläuft).

 

Ich erinnere mich an das grösste Gebet in meinem Leben, das ich gar nicht gebetet habe. Es war vielleicht der dunkelste Moment in meinem Leben. Gott hat mich gesehen. Gott hat gehört, was ich gar nicht gesagt habe (ich konnte nicht beten, weil ich den Glauben noch nicht kannte). Gott hat mir eine Antwort geschickt (auf das, was nur ein unartikulierter Schrei war, ein stummes Bitten, das keinen Adressaten kannte). Er hat mich aus meiner abgrundtiefen Einsamkeit erlöst, mir eine Frau und eine Familie geschenkt, mir ein Dasein gegeben und aus dem Loch gerissen, in dem ich schon versinken wollte. Von da ab meinte ich zu verstehen, was Paulus in Römer 8 meint mit der Bemerkung, dass der Heilige Geist uns zu Hilfe eilt, wenn wir nicht beten können – dass er uns seine Seufzer leiht.

 

Wenn ich also schon beten konnte, bevor ich den Glauben kannte, dann werde ich auch noch beten können, nachdem ich den Glauben als bewusste Funktion vielleicht verloren habe: Gott selbst wird an meiner Stelle für mich beten. So will ich mich seiner Barmherzigkeit anvertrauen, komme was wolle!

 

 

Das Leben besichtigen

 

  1. Juli 2013

Vielleicht reisen Männer nach der Pensionierung auch deshalb so gern im Land herum, weil sie ihr Leben besichtigen. Es ist nicht einfach Tourismus, es ist das vergangene Leben, das gelebte und das ungelebte. So geht es auch mir, als ich den Stätten meines Lebens nachreise.

Jede Entscheidung hinterlässt auch ungenutzte Möglichkeiten. Und es ist reizvoll, sich diese auszumalen. So wie beim Kartenspiel – manchmal spiele ich aus und bedaure den Zug schon im Spielen. Ich hätte es auch anders machen können. Es wäre reizvoll, alle möglichen Varianten zu wissen, die das Spiel hätte nehmen können…

Meine Art, das Leben anzugehen, zeigte sich auch bei diesem Rundgang durch die Stadt, wo ich früher mal eine Stelle hatte.

 

Aussen herum
Ich entscheide, dass ich erst aussen herum gehe. Das ist meine Art. Ich hätte sonst das Gefühl, ich hätte es mir zu leicht gemacht, wenn ich gleich ins Zentrum gehe, wenn ich dort weitergehe, wo es schön ist und wo es gleich ins Ziel zu führen scheint. Ich würde es dann büssen, meine ich, denn das, was mir gefällt, das kenne ich schon, das kann ich. Aber dort aussen werde ich vielleicht mit Aufgaben konfrontiert, die mir nicht liegen, die ich nicht lösen kann. Und die muss ich doch vielleicht bestehen?

 

Lebenswege
So gehe ich mein Leben lang in Gassen, die ich nicht kenne, konfrontiere mich mit Aufgaben, die ich noch nicht lösen kann, lade mir Dinge auf, die mir schwer werden und die ich nicht einmal gerne tue. Und ich lasse liegen, was ich gerne habe, was mir leichtfällt, wo es mich hinzieht. So kann man auch einen Weg gehen, das ist auch eine Regel für ein Labyrinth: Wähle immer das, was dich abstösst. Aber ist das ein Weg, um glücklich zu werden? Entfaltet man so seine Talente, für sich oder zum Wohl von andern? Ist das überhaupt ein Weg zu irgendetwas? Oder ist es nur die Verbohrtheit einer kindlichen Psyche?

 

Vorschnelle Mitte
Ich bin älter geworden. Jetzt kann ich nicht mehr alles von aussen und von unten aufdröseln. Jetzt ist es dringlicher, ins Zentrum vorzustossen. Führt nicht jedes Labyrinth schon nach den ersten Durchgängen mitten hinein? Man sieht die Mitte schon, man ahnt es schon, und es gibt Kraft und Freude zum Weitergehen. Aber gleich darauf führt der Weg wieder fort, er geht aussen herum. Es wäre eine Enttäuschung, wenn ich mich gefreut hätte, schon jetzt ins Zentrum vorstossen zu können.

 

Innen und aussen
Meine Psyche enthält das Labyrinth in sich. Darum ist nichts verloren, egal, ob ich zuerst ins Zentrum vorstosse oder aussen herum gehe.

Ich muss wohl alle Wege in diesem Labyrinth abschreiten. Denn das Leben ist labyrinthisch strukturiert. Es gleicht dem Birnbaum, der seine Form im Blatt zeigt aber auch im Ganzen. Diese Baumstruktur hat es im Äussern, aber sie ist auch in unser Inneres eingebildet. Darum steckt es auch in meiner Psyche.

Also ärgere Dich nicht um ein vertanes Leben. Es ist immer ganz und eins. Auch wenn ich nur die Bruchstücke sehe, auch wenn es mir in der Mitte zerbricht. Aber die Mitte ist da, und ich kann mich hineinstellen. Und dort erfahre ich das Ganze. Dort ist Gegenwart und Schauen. Dort zeigt Gott dem Moses das gelobte Land.

 

 

Nachwort

 

Innen und aussen – ist das mehr als eine Ortsbeschreibung? Immer wieder tauchen die Begriffe in meinen Tagbüchern und Notizen auf. Mit der Suchmaschine habe ich einige Texte zusammengestellt. Was steckt also dahinter? Ich rufe einige Texte auf und folge dem Weg, den sie beschreiben.

 

Nach Afrika!

Als ich das Gefühl hatte, ich hätte genug Karriere gemacht, ich hätte gezeigt, dass ich’s kann, ging die Motivation schlagartig verloren, sie wandte sich nach innen. Die Mitbewohner aus der WG fuhren per LKW durch Italien nach Afrika. Ich machte mich auf eine Reise in die Vergangenheit – oder in das, was sich innerlich bei mir anmeldete, was angesehen werden wollte.

 

 

Dableiben

Ich konnte nicht stillhalten. Ich fand in mir keine Ruhe. Als ich begann, abends hinzusitzen und aufzuschreiben, was mir durch den Sinn ging, spürte ich, dass da Ängste waren, die grosse Gewalt über mein Inneres ausübten. Ich konnte sie kaum benennen, aber sie abzuwehren, erforderte grosse Kraft. Gewisse Tageszeiten waren kaum zu ertragen, ich musste sie in Rituale packen, die mir den Ablauf vorgaben. Die Angstabwehr stürzte mich in Betriebsamkeit. Das waren die ersten Begegnungen auf meiner Reise nach «innen».

Wenn ich mich so durch die Abende treiben liess, wenn ich nach den zwanghaft verbrachten Abenden nach Hause kam, fühlte ich eine abgrundtiefe Enttäuschung. Darin entdeckte ich das Bild eines besseren und ganzen Lebens, wenn ich auch sonst nichts davon wusste. Es steckte nur noch in dieser Enttäuschung, die auf etwas Besseres verwies.

Das Erste, was mir aufgegeben war, so entdeckte ich, war die Fähigkeit, nicht wegzulaufen. Das Erste, was ich wiedergewinnen wollte, war, standzuhalten, mich umzudrehen und dem ins Gesicht zu sehen, was mich vor sich hertrieb. Wenn ich vor ihm davon lief, würde ich es immer im Nacken haben.

 

 

Dabei half mir das Bild des besseren Lebens, das mir durch sein Fehlen bewusst geworden war. «Nein, er möchte ein ganzes Leben. Anders geht es gar nicht! Ohne die Zuversicht, dass das Leben gelingt, kann man es nicht führen. Ohne die Garantie, dass es am Schluss ankommt, ist schon der erste Schritt nicht möglich.»

Die Hoffnung warf ihr Netz weit in die Zukunft. Ich begriff, ohne Hoffnung konnte ich nicht leben. Was am Schluss vielleicht erreicht wird, das richtige Leben, ich brauchte es schon für die ersten Schritte.

 

 

Dumm und leer werden

Ich hatte den äusseren Halt losgelassen, die «Karriere», die mir bestätigte, wer ich war und was ich wert war. Einen inneren Halt hatte ich noch nicht. Ich beobachtete mich von aussen. Ich wollte ein angenehmer Gesprächspartner, ein guter Kollege sein, aber da war nichts. Ich riet, was wohl von mir verlangt sei, ich spiegelte mich im Bild der Erwartungen und verlor mich im Spiegelkabinett des erwarteten Verhaltens.

Ich wollte mich in den Augenblick stellen und versuchte die schwierigste Übung schon am Anfang. Dafür brauchte ich Vertrauen, das Gegenteil von Angst, und ich brauchte Glauben. Der Weg ins Innere entpuppte sich als ein Weg, auf dem die alten Ängste aufgesucht werden mussten, und als Weg zum Vertrauen, das im bisherigen Leben verloren gegangen war.

Glaube, so lernte ich, ist nicht nur ein Relikt alter Kulturen, nicht eine Sammlung von dogmatischen Sätzen, es ist eine Lebensform, die das äussere und innere Leben nicht auf Sicherheit abstützt, nicht auf all die Vorkehrungen, die man vornehmen kann, um Einkommen, Stand und Selbstachtung zu garantieren. Es ist eine Vertrauenshaltung, die das Unmögliche versuchte: sich auszuliefern und keine Angst zu haben, sich anzuvertrauen und keine Panik zu empfinden, sich hinzugeben ohne etwas in der Hinterhand zu behalten, durch man es notfalls doch noch kontrollieren konnte. Ich konnte das nicht, in mir löste das Panik aus. Gerade darum zog es mich an. Ich wollte es lernen.

 

 

Was war hier «innen» und was war «aussen»? Es war wie ein Staubkorn, das Wasserdampf kondensieren lässt, so dass es regnet und bald alles davon benässt wird. Wenn ich bei «Gott» angelangt war, was war dann innen und was aussen? Mir half das Erlebnis, dass gläubige Menschen so vertrauen und sich anvertrauen können. Es half mir, «dumm und leer» zu werden.

 

 

Aus der Deckung kommen

Viele Verstecke hat meine Angst gesucht, viele Barrikaden aufgerichtet. Wenn ich hervortreten soll, fühl ich mich wie ein Maulwurf, der ausgegraben wird und ins Helle blinzelt. Hier erlebe ich etwas von dem «Augenblick». Es ist der Moment des Hinaustretens, wo ich alles hinter mir lasse, was mir Halt verspricht, wo ich nichts bei mir habe als das Vertrauen auf Gott, das ich von ferne kennengelernt habe und dem ich mich ausliefern will.

 

Das ist nicht der «Augenblick» eines ruhigen Gottvertrauens, das sich in die Gegenwart des Gebetes stellen kann. Das ist der Augenblick einer aufs höchste angespannten Angst. Jetzt heisst es, zu springen, hier ist der Ort, wo alles drauf ankommt. Spring!

 

«Hier und jetzt. Gott lebt, hier und jetzt. (Ich muss es mir in der Angst vorsagen wie eine Formel; bis ich mich hineinfinde). Ich kann auf ihn vertrauen und das tun, was ich als richtig erkannt habe.

Das ist der heilige Augenblick und der Ort, an dem Gott erscheint. Die Angst will alles in ein fahles Licht tauchen, aber das Licht seiner Gegenwart ist heller. Hier ist alles in Gelingen getaucht. Gott blickt auf mich – in seinem Blick wird alles heil, in seinem Blick wird die Welt, wie sie von ihm gedacht ist. In ihm kommt sie in sich selber an.»

 

 

Im Innern gespalten

Die Angst hat etwas Lähmendes. Sie hat aber auch eine Gratifikation bei sich. So kann ich es mir wohl sein lassen im Unterstand. Ich brauche nicht an die Front, ich richte mich ein in der Etappe.

«Es sind nicht einzelne Widerstände, die ich nach und nach abbauen könnte, sodass ich immer näher zur Handlungsfähigkeit gelangte. Meine Widerstände zielen auf das Handeln selbst. Durch eine Tat würde ich sichtbar, ich müsste den Schutz der Unerkennbarkeit verlassen.»

So werde ich zum Randständigen. Ich tanze ein Leben lang auf der Grenze. So bin ich kein verachteter Outsider, das würde ich nicht ertragen, ich bin aber auch nicht integriert, ich muss die Verantwortung nicht tragen.

Das sind nur Nebenfolgen. Das ist nicht der Grund, warum ich mich im Unterstand verstecke. Es sind die äusseren Konflikte, mit denen ich nicht umgehen kann, die ich ins Innere verlagert habe. «So habe ich mich selber blockiert, damit es nicht zu einem äusseren Konflikt kommen kann.»

 

 

Im Augenblick begegnen sich innen und aussen

Hier ist der Ort, jetzt gehe ich! «Ich gehe über ein dünnes, schwankendes Seil, links und rechts der Abgrund, aber Du bist da, du hältst mich.»

 

Wenn ich die Angst annehmen kann, wenn ich hinausgehe im Vertrauen auf Gottes Gegenwart, dann begegnen sich «hinein» und «hinaus», Vertrauen und Handeln. Hineingehen ist ein erster Schritt, auf den der zweite folgt: Im Vertrauen auf Gott und seine Gegenwart kann ich meine Situation annehmen, die Aufgabe übernehmen, auf Menschen zugehen, ich muss sie nicht mit Ängsten überfrachten.

Die Angst hat damals alles zugespitzt. Da gab es keine neutralen Begriffe mehr, kein ruhiges Dasein. Auch Gott, wenn ich von ihm sprach, wenn ich zu ihm betete, erschien in diesem hellen Licht. Und es zeigte auch mein Leben in neuem Licht.

 

 

«Vor Monaten ist in Gebeten etwas Neues entstanden. Wie wäre es, wenn wir ernst machen würden mit dem Gedanken, dass es Gott „gibt“? habe ich manchmal gefragt. Eines Tages rückte dieser Gedanke ins Zentrum des Gebets. Wenn ich ernst nehme, dass Gott lebt – dann wird alles anders – mit einem Schlag bin ich frei, trete der Welt in derselben Freiheit gegenüber, wie Gott ihr gegenübersteht.»

«Ich will hinaustreten in den Augenblick, in seine Pflicht, in seine Einladung, in Deine Gegenwart. Was kann mir geschehen, wenn ich in Dir stehe?»

 

 

«Mit ohne Gott»?

 

Ich versuche, auf Gott zu vertrauen. Das Vertrauen hält nicht lange stand. Vor allem, wenn ich hinter meinen Ansprüchen zurückbleibe und «abgestürzt» bin, stelle ich alles in Frage. Soll ich mein Leben überhaupt religiös verstehen?

 

«Innen und aussen» bezieht sich dann auf die ganze religiöse Welt. Ich bin «in» der religiösen Welt, in der ich mich auf Gott beziehe, oder ich bin nicht in dieser Welt, alles wird dann einfach und vernünftig. Es ist eine bürgerliche Welt, die Aufregung der Gläubigen ist hier nicht zu begreifen. «Ist was?» Es lässt sich alles vernünftig auseinanderlegen.

 

Aber «drin» habe ich Verantwortung mit allem, in dem ich mich bewege. Ich stehe (im Gebet) vor Gott. Ich muss mich für alles rechtfertigen, darf mich aber auch mit allem anvertrauen. Jeder Gedanke ist vor Gott. Er ist das «Du», vor dem erst mein «Ich» entsteht.

 

Draussen habe ich ebenfalls ein «Ich», ein bürgerliches Ich. Es bewegt sich wie ein Mechanismus mit einem Schwungrad: die Energie, mit der es aufgeladen wurde, dreht noch einige Zeit weiter, auch wenn es von der Quelle abgehängt wurde.

 

 

Aber wenn dieses Ich angezweifelt wird, wenn es ins Wanken kommt, dann entsteht es in der bürgerlichen Welt nicht von neuem. Ja, da wären «Beziehungen» zu Menschen, die man eingehen könnte. Wenn ich mich aber mit meiner Seele davon abhängig mache, überfordere ich die Menschen, ich schlage sie damit in die Flucht. Das will keiner tragen, kann er auch nicht. So bleibe ich bald allein, falle noch tiefer in die Krise.

 

Was in meinen Notizen als «Verlassenheits-Angst» erscheint (ich habe es nach der Scheidung durchbuchstabiert), ist nicht nur eine Angst vor Verlassensein, es ist diese tiefe, metaphysische Angst eines Seelenkerns, der kein «Du» findet, am dem es ganz und zu einem «Ich» werden kann. Und das «Aussen» kann nicht zu einer «Welt» werden, es ist das «Loch», das man in der Verzweiflung ahnt und das man später benennen lernt als Verletzung, als Trauma, als ein Erleben, dem das Wichtigste fehlt, so dass es gar nicht zu einer richtigen Geburt kommen kann.

 

Die ganze Schöpfungsgeschichte von Gott-Welt-Seele steht hier noch aus, man befindet sich in einer Zeit vor dem Urknall. Gott hat sein «Es werde!» noch nicht gesprochen. Der Logos ist noch nicht ausgegangen, das Schöpfungswort, das später als Erlösungswort wiederkehrt. Der Geist schwebt noch über den Wassern und alles ist ununterschieden vermischt in einem Chaos, in dem das alte Ich verschwebt, der Seelenkern sich gar nicht zu einer Seele formieren kann.

 

«Innen und aussen» haben sich hier noch nicht geschieden. Es gibt keine Grenzen und keine Identität, kein Irgendwas, das ein Inneres von einem Äusseren abgrenzen und unterscheiden könnte.

 

 

Worum es geht

«Innen und aussen» meinen nicht nur die psychische Innenwelt und den äusseren Erfahrungsraum, in dem ein Individuum sich bewegt. Es ist nicht nur die Sprache der Innerlichkeit gegenüber der Erfahrungswelt der Wissenschaft. Oder innerpsychisch gesehen: Es ist nicht nur der Gegensatz von Dingen, die ein Mensch sich zurechnet als «Eigenes», das er mit seinem Leben meint, und von Erwartungen, die von aussen an ihn herangetragen werden und die er übernimmt, denen er bei Ich-Schwäche ausgeliefert ist. Es ist auch nicht nur das Wechselspiel von «innerem Weg» und «äusserem Weg» (in der Sprache der Frömmigkeit) und die Frage, ob der richtige Weg im Äusseren auch dann gefunden werden kann, wenn man nur dem inneren Weg der Gewissheiten folgt.

 

Das Innerste

Die Erfahrung von Gelingen und Misslingen, von Zuversicht und Verzweiflung, von Handlungsfähigkeit und Ich-Zerfall, zeigt, dass es sich hier um etwas Elementares handelt. Darum stellt sich bei tiefen Erfahrungen, bei der Begegnung mit meiner geschiedenen Frau, beim Sterben von Oma, die Empfindung ein, in «Blaubarts Zimmer» zu stehen, in einem «Weltinnenraum» zu sein, einem Ort, wo jene fundamentalen Dinge entstehen, die ein Leben prägen, wo Verdammung ausgesprochen wird oder Erlösung.

 

Hier wird das «Ich» geprägt, hier wird es aufgehoben. Es ist der Ort, wo Ich, Welt und ein Gottesbegriff entstehen. «Innen und aussen», das sind somit andere Worte für Schöpfungsgeschichte, Urknall, Ich-Werdung als soziales Wesen, Weltwerdung als erste Prägung eines Ensembles von Erleben und Verhalten, von Wahrnehmen und Reagieren, von Angst und Angstabwehr, von Deutung der Welt im aussen und innen. Hier werden die Kategorien und Anschauungsformen geprägt, die das Wahrnehmen, Fühlen, Denken und Handeln eines Menschen prägen.

 

 

Auf Leben und Tod

Damals hatte ich einen Traum, der sich mir einprägte und den ich später oft aufsuchte. Der Weg führte ins Innere. Schon das Überschreiten der Schwelle war wie das Wiederfinden von etwas lange Vergessenem. Hier einzutreten war wie Entkommen, wie Eintreten in Frieden, wie Hinter-Sich-Lassen von Lärm und Verfolgung.

 

Am Schluss ging es wieder hinaus in mein altes Leben. Da waren die Aufgaben, da die Menschen. Ich sah den Weg, als ob es auch hier einen Weg gäbe, der so klar in die Landschaft gegraben wäre wie dieser Weg ins Innere.

 

«Hinein und Hinaus» begegnete mir hier nicht nur in Bildern. Es war ein Ritual, das einen Weg nachstellte, den ein Gott geöffnet hatte. Ich verstand den Traum von der antiken Taufe her. In der Antike, nachdem die Verfolgung der Kirche aufgehört hatte, wurde die Taufe breit entfaltet. Man nahm Elemente der Kultmysterien auf. Der Mythos erzählt von Ursprung, Untergang und neuer Schöpfung, der Ritus lässt den Täufling daran teilhaben. So wird er «gleichzeitig» mit den Ereignissen der Weltwerdung. Die Ereignisse von Untergang und Heilung ereignen sich «jetzt» auch an ihm. Mit dieser Erinnerung ging der Täufling zurück ins tägliche Leben und die Erfahrungen halfen ihm auf dem Weg.

 

Der Weg ins Innere

In der Mitte des Traums war die Frage, die ich lösen musste. Dort war auch die Hilfe. Die Lösung kam nicht von mir. «Wir können, was wir sollen»: das war die Antwort auf die Frage, die mich beschäftigte. Auch ich kann mein Leben führen, wie es richtig ist, auch wenn ich immer nur auf Hindernisse stosse. Diese grosse Versöhnung von Sein und Sollen, das wurde hier geleistet. Ich durfte daran Anteil nehmen.

Aber die Reihenfolge war anders. Wenn ich bisher dachte, dass erst die Frage gelöst werden muss, bevor ich zum Frieden finde, so hiess es jetzt: ich darf zum Frieden finden, dann löst sich auch die Frage.

 

 

In der Mitte / aus der Mitte

«Ich» und «du» und «es» – in der Mitte, im Innersten, tauchen Urworte auf, mit denen die Wirklichkeit selbst konjugiert wird. Ich schlage den Weg zum Glauben ein. Andere werden den Finger darauf legen und die Reihenfolge umkehren: «In allem war erst der Mensch».

 

Ich finde auch im Innersten etwas, in das ich mich bergen kann. Es erinnert an die Schutzmantel-Madonna, wo der Hilfesuchende sich unterstellen kann, selbst an diesem Ort, wo die Welt noch nicht geworden oder schon vergangen ist.

 

«Viele «Ichs» sind da, die wie Puppen einer Babuschka ineinander- stecken.» Aber welches «Ich» steht am Anfang?

Ist es Gott, der Welt und Menschen schafft, und das Ich lernt sich begreifen im Gegenüber eines absoluten Du?

Oder ist es ein Bewusstseins-Akt, durch den sich ein Ich konstituiert, ein Du und Es, ein Subjekt und sein Gegenüber, der Inbegriff aller Welt, wie die Bewusstseins-Philosophie sagt?

Kann man also die Religion auf Philosophie und Psychologie zurückführen oder ist es umgekehrt? Ist Gott nur ein Konzept oder eine Wirklichkeit? Und so das «Ich» und die «Mitte» und die «Realität»?

 

Anstelle vieler Argumente zitiere ich eine Notiz von 2011:

«Es ist Nacht, ich wache auf. Vom Grundgefühl aus (wie es mir nachts zugänglich ist), gibt es zwei Wege: „Alles fährt auf das grosse schwarze Loch zu.“ Oder: „Ich muss sowieso sterben, darum will ich von dieser Gewissheit her vorwärts gehen: mich gehalten wissen und von diesem Gehaltensein her fröhlich und ruhig die Sache angehen.“ Wenn es so ist, dann ist es nicht die Lösung eines Suchproblems, sondern im Grunde immer nur die Wahl zwischen zwei Möglichkeiten: Trauma, verzweifelte Welt – oder Glaube.»

 

 

Ich finde den Weg

Wieder ist es ein Traum, der mir einen Weg zeigt.

«Ich träumte, wie ich in einer fremden Stadt nach langem Herumirren eine Haltestelle fand. „Ich kann handeln und finde den Weg.“ Die tiefe, fast metaphysische Beruhigung aus diesen Worten. Es nimmt das Gefühl des Fremd– und Verlorenseins auf, die Anspannung des Weg-Suchens und die Angst, ihn nicht zu finden.»

 

 

Innen und aussen – worum geht es also?

 

Ich suche Texte zum Stichwort «aussen». Ich gehe sie durch. Es zeigen sich viele verschiedene Bedeutungen von «innen und aussen». Worum geht es?

Am Ende kommt eine Auskunft, die schon am Anfang gestanden hatte: im «Tauftraum». Es geht um die Frage, wie ich kann, was ich soll. Das hat mich immer geplagt.

 

Ein Traum

So steht das auch hinter diesen Texten, die dem «Innen und Aussen» nachgehen. Ich hätte es nicht erwartet, doch scheint dieses Ergebnis nicht aussergewöhnlich. Als Frage nach der «Willensfreiheit» ist es ein Klassiker in der Philosophie. Als Motiv von «Gesetz und Evangelium» ist es eine zentrale Lehre der reformatorischen Theologie.

 

Ein philosophisches Seminar

1984 war ich ein halbes Jahr in Frankfurt. Als Ich hörte, dass Jürgen Habermas nach Frankfurt zurückgekehrt sei und an der Uni ein Seminar zur Ethik abhalte, suchte ich ihn in der Sprechstunde auf und fragte, ob ich als Gast teilnehmen dürfe.

 

 

Ich hatte im ersten Studium einige Semester Philosophie studiert. Ich arbeitete damals als «Bundeshaus-Redaktor» und hatte mir eine Auszeit genommen.

 

Habermas sagte im Seminar, von den drei Aufgaben der Ethik (begründen, anwenden und verwirklichen) sei nur die erste philosophisch lösbar. Anwendung erfordere Urteilkraft und Verwirklichung Ich-Stärke. Als ich sagte, für mich in meinem persönlichen Leben sei nicht das Begründen von Normen schwierig, so dass ich sie annehmen könne, sondern das Verwirklichen – ich könne nicht, wie ich solle -, meinte Habermas, er könne keinen religiösen Trost geben.

 

Ich begriff damals nicht, warum er von Religion sprach. Wie viele andere las ich damals Aristoteles und Hegel, die in Abgrenzung zu Plato und Kant (und Habermas) nicht die «Moralität» ins Zentrum stellten, sondern die «Sittlichkeit».[7] Sie fragten also nicht, wie die abstrakte Vernunft das Handeln anleiten kann. Sie setzten bei der «eingebetteten Moral» an, die in Sitte und Gewohnheit mit den Quellen des Handelns verbunden ist.

 

 

Religion

Bald darauf stiess ich aber auf religiöse Fragen. Ich begriff, dass die Kluft zwischen Sein und Sollen gar nicht ethisch zu schliessen ist. Der Mensch ist nicht das «Subjekt der Tat», das den Abstand überbrückt und das Sollen dem Sein aufprägt, weder in seiner eigenen Natur noch in der äusseren Welt. Diese Aufgabe ist viel zu gross und treibt ihn nur zur Verzweiflung. Die Lösung gibt die Religion, indem sie Gott als Versöhner und Vermittler der Gegensätze begreift. [8]

 

Das beschreibt das Begriffspaar von «Gesetz und Evangelium», das zentrale Einsichten der reformatorischen Theologie zusammenfasst: [9] Der Mensch steht unter dem Sollen und er will auch, was er soll, denn so findet er zum «richtigen Leben». Er verzweifelt aber am «Gesetz», weil er es nicht erfüllen kann. So findet er zum «Evangelium». Im Glauben hat er Teil an der Versöhnung und Vermittlung der Leidensbestände in Gott.

 

 

So wird er zum Handeln befreit, weil er nicht mehr Sein und Sollen versöhnen muss – das kann er nicht, das treibt ihn in Resignation und Verzweiflung. Es werden ihm kleinere, lösbare Aufgaben gegeben. So findet er aus Lähmung und Resignation heraus, er kann seine Aufgaben ergreifen und auf Menschen zugehen.

Die Scham, sein Leben nicht durch eine ungeheure Tat rechtfertigen zu können, löst sich. Er wird zum Leben befreit.

 

Das ist die Auskunft des «Tauftraums»: «Ein innerer Friede und wir können, was wir sollen.» Die Antwort wird im Glauben gegeben. Er begründet nicht die Normen, er schenkt Frieden, weil er vertraut, in Gott die Versöhnung zu finden. So findet das Handeln aus Lähmung und Resignation heraus. Im Vertrauen auf Gott können wir, was wir sollen, weil die Kluft versöhnt wird, die Sein und Sollen trennt. [10]

Ich habe nach dem «richtigen Leben» gesucht. Zuerst in der Ethik, das faszinierte mich im ersten Studium, dass man das zu einer Hauptfrage macht, dass man es nicht beim Auf-den-Bus-Warten abmachen muss oder beim Zähneputzen, wenn immer das Leben Zeit lässt. Es war offenbar nicht mit einem Makel verbunden, wenn man das Leben nicht lösen konnte, das war allgemeines Schicksal und die Menschen haben sich seit den Anfängen der Kultur damit beschäftigt.

Von der Ethik bin ich zur Religion gelangt. Das Buch könnte im Untertitel heissen «Die Suche nach dem richtigen Leben». Da doch die Religion die Antwort gibt, ende ich mit einer Glaubensgeschichte. Sie handelt von Kain und Abel, dem «ersten Kriminalfall der Geschichte». Da wird die Frage nach Gelingen oder Scheitern schon auf den ersten Seiten der Bibel gestellt. [11]

 

 

Die Reihenfolge

 

  1. Mai 2012

Ich denke nach über „Freiheit“ und Verstrickung, über Schuld und Unzufriedenheit mit dem Leben. Gut, dass ich das nach einem „Absturz“ tue. So bin ich geschützt gegen Überheblichkeit. Ich betrachte die biblische Erzählung von Kain und Abel.

 

Vertrieben aus dem Paradies

Nach geraumer Zeit aber brachte Kain dem Herrn von den Früchten des Ackers ein Opfer dar. Und auch Abel brachte ein Opfer dar von den Erstlingen seiner Schafe und von ihrem Fett. Und der Herr sah auf Abel und sein Opfer, aber auf Kain und sein Opfer sah er nicht. Da wurde Kain sehr zornig, und sein Blick senkte sich.

Der Herr aber sprach zu Kain: Warum bist du zornig, und warum ist dein Blick gesenkt? Ist es nicht so: Wenn du gut handelst, kannst du frei aufblicken. Wenn du aber nicht gut handelst, lauert die Sünde an der Tür, und nach dir steht ihre Begier, du aber sollst Herr werden über sie.

Darauf redete Kain mit seinem Bruder Abel. Und als sie auf dem Feld waren, erhob sich Kain gegen seinen Bruder Abel und schlug ihn tot.

(Der ganze Text in Gen 4, 1-16)

 

Die Bibel erzählt es in dieser Reihenfolge: Gott sieht nicht auf Kain und sein Opfer. Kain wird zornig und senkt den Blick. Er wird belehrt: Wenn du «gut handelst» [12], kannst du aufblicken, wenn nicht, steht die Sünde vor der Tür. Nach ihr steht die Begier, du sollst Herr werden über sie. Kain bringt Abel um. Er wird rastlos und heimatlos, jeder kann ihn erschlagen. Nur das Kainszeichen schützt ihn, welches siebenfache Rache androht.

 

 

Wenn aber Kain von seinem Schicksal erzählte, kam wohl erst das Leiden an der Ruhelosigkeit. Er findet keinen Boden unter den Füssen, er lebt ihn dauernder Furcht. Nach den Gründen gefragt, wird er wohl sagen:

„Schon der Vater hat meinen Bruder vorgezogen. Ich habe in mir selber keinen Wert und keine Ruhe, darum muss ich herumziehen, immer auf der Suche, nie am Ziel. Darum immer in Angst. Darum ist auch der Zorn in mir. Ich darf nie sagen, was ich brauche, ich darf mich nicht wehren. So halte ich es immer zurück, bis es sich staut, bis ich es nicht mehr zurückhalten kann. Dann bricht es durch, mit zerstörerischer Gewalt. Ich bin selber entsetzt, ich kann es nicht verhindern. Aber es entlastet mich auch, weil so endlich Gerechtigkeit geschieht. – Es geschieht ihnen recht.“

Ist das denn Gerechtigkeit, kann man ihm entgegenhalten, wenn einer totgeschlagen wird, und sei es im Affekt? Dein Zorn hat das ganze angefacht, bis das ganze Haus brannte und die ganze Familie ihr Dasein verlor. [13]

„Ich bin unschuldig“, wird er sagen, „mein Vater ist schuld, die Eltern sind es. Schon in frühster Kindheit musste ich die Ungerechtigkeit ertragen. Ich habe mich nur gewehrt.“

Hier fügt die biblische Geschichte etwas Neues ein: „Aufblicken“ [14]: „Wenn du gut handelst, kannst du frei aufblicken.“ Wenn du dich freust / fröhlich bist und gut handelst (yatab), kannst du aufblicken / dann stellt sich Ansehen ein, Erfolg, dann wirst du erhoben werden (seeth).

Dann wird dich Gott erheben, wie Christus den Gedemütigten aufrichtet. Dann wirst du aus dem Aschenhaufen aufgerichtet wie der trauernde Hiob, der alles verlor. Dann wirst du erhoben und hast Teil an der Auffahrt Christi, der zur Rechten sitzt, wie die Fürsten des Volkes (Ps 113).

 

 

Die Ungerechtigkeit des Herkommens

Die Geschichte mutet dem Kain in mir zu, dass er die Ungerechtigkeit des Herkommens erträgt. Dass, bevor noch der Zorn aufsteigt über die Ungleichbehandlung, ein heiteres Zutrauen zu Gott Platz greifen soll: Er wird mich ebenso behandeln.

Ich schaue auf zu ihm. Ich senke den Blick nicht unter seinen Augen, die Er voll Gnade auf mich richtet. Ich traue ihm zu, dass er gerecht handelt. Ich traue ihm zu, dass er in Liebe auf mich blickt. Ich traue ihm zu – Ihm, der Sterne schafft und selbst kleinste Sträucher mit Myriaden von Blüten übersät – dass er reich genug ist, um auch mich, auch dich und jeden Menschen zu beschenken. Alles hat er geschaffen, auf allem ruht sein Blick. Alles blüht auf unter seinem Blick.

Wenn ich nur das Kunststück fertigbringe, ihm zu vertrauen, wenn nur mein Vertrauen grösser ist als meine Angst, wenn nur die Unschuld in mir stärker ist als die Erinnerung an vielfaches Versagen, wenn nur das Zutrauen grösser ist als die Erwartung, Strafe verdient zu haben, Ablehnung verdient zu haben, Vertreibung verdient zu haben, so dass ich ruhelos bleiben muss und unter den Menschen keinen Platz finde.

Vom Weg abgewichen

Jetzt aber ist das Falsche schon eingetreten. Ich bin vom Weg abgewichen. Und ich finde Ersatz für das Verlorene, es verleiht grosse Gefühle. Die Befriedigung des rechten Weges hat sich angeheftet an Ersatz-Wege. So entsteht eine Begierde, die immer wieder auf falsche Wege lockt:

Es lauert die Sünde an der Tür, nach ihr steht die Begier, du sollst Herr über sie werden.

Sehr viel schwerer ist das, als aus einer ersten Unschuld heraus zu Gott zu kommen. Sehr viel schwerer ist das, als aus unverletztem Erleben Zutrauen zu haben. Sehr viel schwerer ist das, als den Blick frei zu heben, wenn noch kein äusserer Feind da war. Sehr viel schwerer ist das, wenn im eigenen Innern ein Feind sich erhoben hat.

 

 

Du sollst Herr werden über sie.

Offenbar ist es das, was ich lernen soll. Offenbar ist es das, was mir aufgetragen ist, nicht auf dem äusseren Weg, aber auf dem inneren. Offenbar stehen sie bereit und schauen auf mich und begleiten mich (die Helfer, die Gott mir sendet, im Innen und im Aussen).

Aber sie führen mich immer wieder in solche Situationen, dass ich üben kann. Sie führen mich immer wieder in solche Situationen und sehen, wie ich versage. Sie führen mich immer wieder hinein und stehen mir bei, damit auch ich es lerne. Wie die Eltern mit den Kindern, wie die Lehrer mit den Kleinen. „Jetzt ist auch der Kleinste darüber hinweg, jetzt können wir weiter gehen.“

 

Die Scham wird aufgehoben

Gott mutet es mir zu und weiss, dass ich es lernen kann: Ich darf den Blick frei zu ihm heben und so allen Menschen begegnen, ohne Furcht.

Weil ich in mir vertraue, dass Gott mich ansieht. Weil ich dem Blick begegnen kann. Weil mein Zutrauen zu seiner Gnade stärker ist als das Bewusstsein meiner Verfehlung.

Mein Gewissen erwartet Strafe, ersehnt Strafe, kennt nur die Strafe als Ausgleich, um wieder zurück zu kommen, ins Paradies, diesseits von Eden. Ich darf – gegen das helle Blenden des Gewissens, gegen die Last, die meinen Blick niedersenkt, gegen die ungeheure Gewalt, die alles in mir zurückhält – ich darf seinen Blick suchen.

Alles blüht auf unter seinem Blick. Wenn ich nur den Blick nicht senke. Wenn ich nur seiner Liebe mehr traue als seinem Zorn. Wenn … Alles blüht auf unter Deinem Blick!

 

Das steht in meinen Texten zu Innen und Aussen. Es ist eine Suche nach dem richtigen Leben. Es handelt vom Abenteuer des Glaubens.

 

 

 

 

Ausführliches Inhaltsverzeichnis

Afrika oder der Weg nach innen. 4

Ich kann nicht stillhalten. 6

Sieht aus wie Autonomie. 6

Dumm und leer werden. 9

Aus der Deckung kommen. 13

Im Innern gespalten. 15

Innen und aussen begegnen sich. 17

Der Traum.. 19

Auf Leben und Tod. 19

Der Weg ins Innere. 20

Gegenwärtig sein. 21

In die Mitte fliehen. 24

Aus der Mitte fallen. 25

Ich finde den Weg. 27

In Blaubarts Zimmer 28

Teufel und Dämonen. 28

Sie trug die Mitte in sich selbst 29

Aus der Mitte leben. 30

Vom Unterscheiden der Sprachen. 31

Das eine ruft dem andern. 32

In Blaubarts Zimmer 33

«Suchweg der Seele». 34

Der Einschlags-Krater 35

Vom Glauben erzählen. 37

Arbeit am Innersten. 39

Ist das Leben mit 55 vorbei?. 43

Einen Altar errichten. 44

Im Labyrinth. 45

Bevor ich gehen kann. 45

Der richtige Beruf 46

„Tritt her in die Mitte“ 46

Der richtige Ton. 49

Der Tisch am Ende des Weges. 50

Dieses Ineinander von Tun und Getragen-Sein. 50

Der Innere Altar 52

Petrus geht über Wasser 52

Das Ja von aussen. 54

Ein Garten ist nicht genug. 55

Das schwarze Schaf der Familie. 58

Innen und Aussen. 63

Ich kann nicht mehr, ich will nicht mehr 63

Die Möglichkeit des Scheiterns. 64

Ein Kompass findet sich. 65

Das Leben selbst 65

Vom Auftauchen goldener Gefässe. 68

Endlich darf die Wahrheit stattfinden. 71

Das innere Ziel 72

Der Berg vor mir 73

Es wird, was ich glaube. 73

Die Halbheit im Leben. 75

Die Räuber vom Liang Schan Moor 76

Vom Umrunden des Berges. 78

Was wissen innere Bilder von äusseren Ereignissen?. 78

Der Weg. 80

Der Berg. 82

Das Haus. 83

Das Verborgene. 85

Wahrhaftig. 86

Auch das nicht gelebte Leben geht vorbei 87

Verschlossen. 88

Kündigung. 88

Ende und Neubeginn. 89

Die Deckung verlassen. 90

„Einnisten“ in die Welt 90

Neue Infragestellung. 92

Mein Teil 93

East of Eden. 96

Handlungsfähig werden. 97

Wie innen und aussen sich verbinden. 98

Der Künstler 100

Das Schöne. 101

Entscheidung. 102

Weltinnenraum.. 103

Untergangs-Gerede. 103

Der kosmische Innenraum.. 103

Die Pforte. 106

Im Weltinnenraum.. 108

Die Antwort 109

Kein Ort. Überall 111

Das Schrecklichste und das Schönste. 112

Die Himmelsleiter 114

Trauma und Weltinnenraum.. 117

Das Äusserste und das Innerste. 119

Das Leben besichtigen. 121

Nachwort 123

Innen und aussen – worum geht es also?. 132

 

 

Titelbild Kirche Sonogno

Anmerkungen

[1] (all das Leid der Welt hat da seinen Platz, aber alles Leid der Welt kann nicht aus dem Weg schaffen, dass es ein Ziel gibt, einen guten Willen, der über allem steht und der das Neue schafft)

[2] Und doch bin ich überzeugt, dass auch Ihr es in Euch tragt.

[3] Aus einer Beerdigung

[4] Aus einem Gottesdienst

[5] Die Geschichte der Räuber vom Liang Shan Po spielt im 12. Jh. und wurde mündlich überliefert, bevor sie im 14. Jh. schriftlich festgehalten wurde. Es ist eine Erzählung vom «Rand: Aber eigentlich ist etwas «im Zentrum» nicht in Ordnung, es wird an den Rand gedrängt. Es sucht Schutz in der Wüste, in den unzugänglichen Gegenden eines Moors oder eines Gebirges.

 

Es ist ein Kommentar zum Zustand in der Mitte, zum Staat, zum Königreich. Die Integration dieser Menschen gelingt erst, wenn das Reich sich wieder integriert, wenn es wieder zum Recht findet. Dann können auch die Menschen als Individuen sich wieder integrieren: Sie können die soziale Isolation überwinden, den Status als „Outcast“, aber auch die Zerspaltenheit in sich selbst.

[6] Aus dem Vorwort zum Buch «36 Ansichten vom Berg Fuji.» Es versammelt Notizen aus dem Jahr 2009.

[7] Das war der allgemeine Trend jener Zeit. Diese Debatte der 80er Jahre ist zusammengefasst in dem Buch „Moralität und Sittlichkeit. Das Problem Hegels und die Diskursethik“. Hg von Wolfgang Kuhlmann, Ffm 1986. Anlass des Buches war eine Tagung zu diesem Thema, zu der Karl-Otto Apel und Jürgen Habermas eingeladen hatten (im März 1985).

[8] Das «Reich Gottes» ist der Inbegriff einer Ordnung, in der Sein und Sollen übereinstimmen. Dieses Reich liegt protologisch und eschatologisch der natürlichen Ordnung als «Paradies» voraus. Es begleitet den Gläubigen als Hoffnung und Verheissung. Die Sakramente lassen ihn «jetzt schon» kosten vom Zustand der Versöhnung, so dass seine Motivation gestärkt wird. Das Sollen ist nicht nur eine abstrakte Forderung wie in der Ethik, es ist im Heilsgeschehen eingelöst, die Versöhnung ist «jetzt schon» erfahrbar und entfaltet Kraft auf dem Weg zur Einlösung. Die Frage der Verwirklichung wird gestellt und gelöst: sei es durch die symbolische Vermittlung im Glauben, sei es in der realen Vermittlung durch Sakrament und Tat.

 

[9] Diese nimmt Einsichten auf, die ein jahrhundertelanges Nachdenken über den Menschen im Alten und Neuen Testament zutage gebracht haben. Der Bereich planer Ethik wird verlassen, der Mensch kann nicht wie er soll. Aber damit kann er sich nie begnügen. Das richtige Leben muss möglich sein! Im späteren Alten Testament geben die Propheten eine Antwort. Da beklagt sich Gott über die Menschen. Sie seien wie ein verzogener Pfeilbogen, man könne noch so genau damit zielen, man treffe nichts ins Schwarze.

Die Propheten blicken auf den Anfang und das Ende. Die empirische Ebene wird aufgestockt um eine Wirklichkeitsebene, die nur theologisch zu beschreiben ist. Will man davon erzählen, muss man zur Figur eines Mythos greifen: am Anfang war…, am Ende wird sein… Da werden die Menschen das Gesetz nicht nur auf der Stirn tragen, wie es fromme Juden tun, wenn sie beten. Da wird Gott den Menschen das Gesetz ins Herz schreiben und es wird keinen Gegensatz mehr geben zwischen Sein und Sollen. Der Mensch tut, was er soll, nicht aus Pflicht, sondern aus Neigung. Und Friede wird einziehen zwischen den Menschen.

Was die Religion als eschatologische Heilserzählung darbietet, rekonstruiert die Philosophie in metaphysischen Aussagen. Diese verleugnen die empirische Wirklichkeit nicht, sie leiten die Menschen an, sich in dieser Wirklichkeit zu bewegen, im Vertrauen: Ich kann, was ich soll, wenn ich auf Gott vertraue.

[10] Die Versöhnung in einem endzeitlichen Paradies ist Bedingung der Möglichkeit für eine Ethik. Schon jetzt brauchen wir das Vertrauen, dass Leidensbestände vermittelt werden. So erstirbt die Motivation nicht, Menschen können mit Freude und Hoffnung ihre Aufgaben angehen. Paulus formuliert: «Gott selbst ist ja in euch am Werk und macht euch nicht nur bereit, sondern auch fähig, das zu tun, was ihm gefällt.» (Phil 2,13)

 

[11] Ich schliesse damit an die Notiz an vom 5. Februar 2011 an, East of Eden.

[12] Hebräisch «yatab» – das Wort heisst auch: sich freuen, fröhlich sein

[13] Es ist eine umgekehrte Reihenfolge! Dein Zorn hat es angefacht. Wer vergilt hier wem? Wo ist die erste Schuld? Wer darf sich «gerecht» fühlen, weil er „nur zurückschlägt“ und es „den andern zeigt“? Und soll das ganze Leben in dieser Haltung gelebt werden: «Ich gebe ihnen nur zurück, was sie mir angetan haben»?

 

[14] Hebräisch «seeth» – Erhebung, Würde, Hervorragen