Den sichtbaren Tempel bauen

In der Nacht hörte ich einen Text aus der Bibel. Das Buch Nehemia steht etwas am Rand der Bibel. Aber es hat mich immer wieder angesprochen. Es ist eine existentielle Situation: das Volk kommt aus der Verbannung in die Heimat zurück. Es wird angefeindet, sucht sich eine neue Existenz, baut Tempel und Stadt wieder auf.

Ich habe es immer gelesen vor dem Hintergrund der Frage, wer die Ruinen des Christentums wieder aufbaut, diesen Tempel des Glaubens, diese Stadt Jerusalem, die in die Kultur hinauswirkt. Heute Morgen gab es einen dieser vielen Geschlechter-Kataloge, die sich im Ersten Testament oft finden, gerade in später Zeit. Eine lange Liste von Namen, die aus Babylon nach Juda zurückgekehrt sind. Eine lange Liste von Personen, die beim Wiederaufbau der Stadtmauern geholfen haben. Darin, ganz vereinzelt, ein Satz, darum ist er besonders herausgestochen: „Die Vornehmen beugten ihren Nacken nicht um Gott zu dienen.“

Grössenwahn
Kann ein Gläubiger heute so ehrgeizig sein, von Gott erzählen zu wollen? Kann einer dem Trend zur Vergleichgültigung widerstehen, sich selbst stilisieren, als ob er da eine Rolle spielen könnte? Wenn ich so ehrgeizig sein dürfte, würde ich sagen, dass es mich freut, wenn etwas in Gang kommt, wenn Menschen sich finden, die von Gott und Christus erzählen wollen. So, dass es gehört werden kann, so, dass andere Menschen neugierig werden. So, dass sie sich in den Schilderungen wiedererkennen. So dass auch sie diesen Weg gehen wollen.

Da passt diese Anekdote hinein: Als das alte Volk Israel nach Babylon verschleppt war. Als Stadt und Tempel dem Erdboden gleichgemacht waren. Da lebte unter den Verschleppten am Hof in Persien auch ein Mundschenk, Nehemia.

Der Mundschenk
Dem liess es keine Ruhe, dass seine Heimat am Boden zerstört sein sollte, dass das Allerheiligste, an das er glaubte, der Verachtung preisgegeben sein sollte, dass alle Vorbeigehenden darauf spuckten und die dort Zurückgebliebenen verhöhnten. Als der König ihn fragte, warum er so bedrückt sei, erzählte er davon und erbat sich die Erlaubnis, nach Juda zurückkehren und die Stadt wieder aufbauen zu dürfen.

Uns ist er bekannt als Statthalter, als Fürst, als Person der Geschichte. Damals war er einfach Mundschenk. Das erinnert an den Mundschenken und den Bäcker im Verlies in Ägypten, an Joseph, der als Sklave dorthin verkauft worden war und der doch zum Wesir aufgestiegen ist. Wieso soll ein Mundschenk oder Bäcker nicht auch so denken können? Haben sie nicht auch ihr Allerheiligstes? Schmerzt es sie etwa nicht, wenn darauf gespuckt wird?

Rückkehr an den Ort der Niederlage
So kehrt er nach Juda zurück und lässt sich vom König noch ein Schreiben mitgeben für den Förster, dass der ihm das nötige Holz für die Tore und für sein eigenes Haus geben wird. So geht er mit der Unterstützung des Königs, weil Gott ihm gnädig war, wie das Buch Nehemia diese beiden Hilfen unterscheidet: Gott und König. Und dieser Segen hat all die Personen zusammengeführt. Es war ein grosses gemeinsames Werk, aber Nehemia hat daran geglaubt und einen Anstoss gegeben, nachdem der Wiederaufbau nach Esra eingeschlafen war.

Das ist die Geschichte von Nehemia, einem Mundschenken in Persien, der sich Sorgen macht, weil Jerusalem in Schutt und Asche liegt. Und er geht hin. Er findet die Hilfe der Zurückgebliebenen, auch wenn die Anrainer das mit Misstrauen verfolgen. Sie wollen nicht, dass in ihrer Mitte einer gross wird. Sie wollen nicht, dass das alte Jerusalem aufersteht. Sie wollen ihre Position behaupten und keinen andern neben sich aufkommen lassen.

Helfer stellen sich ein
Aber Nehemia findet die Hilfe der Zurückgebliebenen. Alle helfen. Und mitten in der langen Litanei von Namen, die man beim Lesen oft überspringt, die man beim Hören aber über sich ergehen lassen muss (und es hat etwas Feierliches und Rituelles, wie die langen Register verlesen werden, als ob ihre Namen auf eine Säule gemeisselt würden, zum Dank für ihre Hilfe). Und mitten drin taucht der Satz auf: „Die Vornehmen beugten ihren Nacken nicht um Gott zu dienen.“

Ja, jeder kann sich verhalten wie er will. Da sind viele, die helfen wollen. Die nicht helfen, die stossen die Gelegenheit von sich, für Gott etwas zu tun. Für ihren Glauben etwas zu tun. Für das, was ihnen wert und heilig ist, etwas zu tun. Für sich selbst und das, was ihre Identität im Innersten ausmacht, etwas zu tun.

Ankunft
Einige Tage später träumte ich: Christus kommt zurück. Die einen zweifeln. Kann man das denn erkennen? (Die erste Ankunft geschah im Verborgenen und in Armut.) Die andern freuen sich und bereiten sich vor. Sie stellen die Häuser instand und ziehen schöne Kleider an.

 

Aus Notizen 2016