Von Vergebung und Heilung

Er hatte sich von allen Verpflichtungen frei gemacht. Er war um die halbe Welt gereist. Nun lag er in einem Hotelzimmer und konnte nicht aufstehen. Er hatte sich von allem frei gemacht und war doch wie gelähmt. Er nahm das Notizbuch, das ihn auf seiner Reise begleitete und schrieb:

Gebunden
„Ich lag im Bett und wollte aufstehen und konnte es kaum. Da war ein Konflikt, der ungelöst war und den ich irgendwie, wenigstens ansatzweise, lösen musste, bevor ich aufstehen konnte. Im Halbschlaf waren mir vergangene Peinlichkeiten eingefallen. Bevor ich aufstehen konnte, suchte ich nach irgendeinem Weg, um damit fertigzuwerden, ohne es einfach wegzuschieben, womit es ja nicht gelöst wäre. Ich suchte also nach einem Weg, mich mit der Vergangenheit zu versöhnen.

Frei
Der Glaube könnte das leisten; er könnte mir das Gefühl von Vergebung vermitteln und mir einen Neu-Anfang erlauben, so dass ich die tonnenschwere Last der Vergangenheit, der Fehler, Verletzungen und Peinlichkeiten abschütteln könnte.

Ich wäre wirklich frei, so dass ich jedem, der mir die Fehler der Vergangenheit vorwerfen würde, entgegentreten könnte. “Na und?“ würde ich fragen und würde völlig ruhig dabei bleiben. Da ich diesen Glauben nicht habe ist mir dieser Weg verschlossen. Ich sehe den Weg, spüre ihn aber noch nicht. Es machte noch nicht „klick“, als ich im Bett lag, so dass ich erlöst aus dem Bett hätte springen können.

Versöhnung
Die Versöhnung mit meiner Vergangenheit verlangt eine Versöhnung mit mir selbst. Ich denke, wenn ich meine schwachen Seiten besser annehmen könnte, könnte ich auch meine Fehler und meine Vergangenheit besser integrieren, statt sie verdrängen zu müssen, so dass sie immer auftauchen, wenn es mir schlecht geht, wenn die Verdrängung zusammenbricht.

Die Antwort
Den Glauben hatte ich nicht. Ich dachte, ich fände die Antwort in fortschreitender Integration. Aber eine Integration ohne Glaubensvertrauen gelang mir nicht.

Erst wenn ich mich mit allem, was mich ausmacht, mit jeder Faser und mit jedem Motiv, das zu widerstreben scheint, von Gott angenommen weiss, kann ich mich selber integrieren. Ich kann mich und was mich ausmacht annehmen, mich mit meiner Vergangenheit aussöhnen und neu und unverstellt auf Menschen zugehen. Die innere Integration führt zur äusseren Integration in die Gesellschaft.

Das Evangelium der Vergebung wirkt innerlich, aber es kommt von aussen. Darum ist es wichtig, an seiner Verkündigung festzuhalten. Das ist der grosse Beitrag des Christentums zum Frieden in der Gesellschaft.“

 

Aus Notizen 1984
Foto von julie aagaard, pexels