Sie trug die Mitte in sich selbst

Es gibt Menschen, die sind anders als andere Menschen. Es ist, als ob sie eine Mitte in sich trügen. Sie leben irgendwie selbstverständlicher, mit mehr Erlaubnis. Sie rennen nicht irgendeinem Ziel nach, das ausserhalb von ihnen wäre. Und so lange sie es nicht erreicht haben, sind sie unruhig.

Nein, sie leben so, als ob sie schon am Ziel wären, oder als ob sie sich angenommen wüssten ohne Bedingung. Und sie strahlen Ruhe und Frieden aus. Es ist, als ob eine Kraft von ihnen ausginge, aber es ist ohne Anstrengung. Menschen, die ihnen begegnen, werden gefangen genommen von dieser Kraft. Sie sind gern bei ihnen und finden so auch für sich selbst ein Stück Ruhe und Frieden.

Eine Lücke im Leben
Oft sammelt sich ein ganzer Kreis um sie, viele fühlen sich angezogen und finden dort ein Stück Ruhe und Bestätigung. Darum wird eine grosse Lücke aufgerissen, wenn solch ein Mensch stirbt. Man fühlt sich wie aus der Welt herausgeschleudert. Jetzt, wo man am meisten darauf angewiesen wäre, sich gehalten und geborgen zu fühlen, ist der Mensch weg, der uns Halt gegeben hat.

Jetzt Ruhe zu finden, das hiesse: sich verbunden fühlen mit einer festen Kraft. Ruhe finden, das wäre verbunden mit einem Gefühl von Wertschätzung. Dass da jemand ist, der nach uns fragt und der uns gerne hat, ganz unabhängig von allem, was wir tun. Ruhe finden, das ist wohl nicht ohne Liebe möglich. Wenn wir wissen, dass man uns gern hat, können wir uns wieder aufrichten, und wir finden wieder Halt und Boden unter den Füssen. Wir können in unserem Leben weitergehen. Die einen Menschen tragen ein solches Vertrauen seit der Kindheit in sich, es ist ein Geschenk. Andere haben es nicht. Und mit aller Kraft lässt es sich nicht herbeizaubern. Aber wir alle können in dieses Vertrauen hineinwachsen.

Eine Mitte im Leben
Dabei hilft es, wenn wir uns aufmachen für das, was wie eine Mitte in allem ruht – auch in uns. Es hilft, wenn wir uns täglich einfinden an dem Ort, wo diese Mitte zu spüren ist. So wie wir früher zu dem geliebten Menschen gingen, und erlebten, wie wir ruhig wurden in seiner Gegenwart.

Dieser geliebte Mensch kann uns eine Hilfe werden, um uns selber zu verankern, so wie sie verankert war. Sie und wir alle, wir sind wie Blüten auf einem Baum. Das sagt das Gleichnis von vom Rebstock, das Christus erzählt. Der Stamm, der ihr Halt gab, der ist noch da. Er trägt und er ist stark genug, um auch uns zu tragen. Die Wurzel, die ihr Kraft gab, auch sie ist da und sie gibt uns Kraft, Tag für Tag. Wir dürfen uns aufmachen und das spüren.

Es scheint Blüten zu geben, die sich leichter tragen lassen. Wir sind bezaubert von ihrer Leichtigkeit, und lassen uns anstecken. Wenn sie uns zeigen, wie das geht, können wir das auch, und wir geniessen in ihrer Gegenwart, wie leicht es sein kann: nur da zu sein. Und es tut weh, wenn sie nicht mehr da sind.

Aber sie haben uns eine Botschaft hinterlassen von diesem wahren Leben: Durch die Art, wie sie durchs Leben gingen, machen sie uns die Augen auf. Sie zeigen uns, wie das Leben gemeint ist und wie es auch in jedem von uns aufblühen soll. Alle sind wir getragen vom selben Stock. Alle sind wir in Verbindung mit derselben Wurzel. Der Ursprung wirkt auch in uns.

Das ist vielleicht eine Aufgabe für uns, wenn uns ein lieber Mensch stirbt: Dass wir seine Melodie aufnehmen – auf unsere eigene Weise. Dass wir uns von seiner Kraft anstecken lassen, aber auf unserem eigenen Weg. „Ich bin der Rebstock“, sagt Christus. „Ihr seid die Schösslinge. Bleibt in mir und ich bleibe in euch.“ „Und siehe, ich bin bei euch alle Tage, bis ans Ende der Welt.“

 

Aus einer Abschiedsfeier 2002
Foto von Michael, Pexels