Lichter der Grossstadt

Gestern haben wir wieder mal den Film „Lichter der Grossstadt“ gesehen von Charlie Chaplin («City Lights»). Es ist ein Märchen und passt zur Weihnachtszeit. Der arme Tramp und das schöne Mädchen – sie kommen doch noch zusammen, obwohl eine ganze Welt sie trennt.

Sehen…
Es gibt einen eigenartigen Höhepunkt, der die ganze Geschichte ins Positive kehrt. Das von seiner Blindheit geheilte Mädchen trifft den Landstreicher, der in abgerissenen Kleidern vor ihr steht. In dem Moment, als sie ihn berührt, erkennt sie den Wohltäter in ihm, der ihr in ihrer Blindheit beigestanden hat. Und sie sieht den Landstreicher nicht mehr: die abgerissenen Kleider, den am Rand stehenden Menschen. Sie erkennt, wer er ist. Die Bibel erzählt eine ähnliche Geschichte. Es ist ein Lehrstück zu Sehen und Erkennen, ein Spiel auch mit dem Wort «Licht».

Die «Lichter der Grossstadt» (City Lights) beleuchten die Welt, wie sie dahinhastet. Die einen sonnen sich im Licht, die andern stehen im Schatten. Ein Millionär wird auftauchen in der Geschichte aber auch ein armes Mädchen, eine blinde Bettlerin (sie wird aus der Wohnung gewiesen, da sie die Miete nicht bezahlen kann). Chaplin, tritt wieder als Tramp auf. Er hat die Rolle im Ersten Weltkrieg geschaffen und nimmt sie jetzt in der Weltwirtschaftskrise wieder auf, als Abbild für die Not der Menschen in seiner Zeit.

Der Millionär zeigt eine zweite Stufe der Wahrnehmung. Wenn er betrunken ist, sieht er seine verzweifelte Lage, er will sich umbringen, wird vom Tramp aber gerettet. Als er wieder nüchtern ist, erinnert er sich nicht daran und lässt ihn aus dem Haus werfen. Kaum betrunken, kommt die Erinnerung zurück. Er erkennt in ihm seinen Lebensretter und gibt ihm Geld. Damit hilft der Tramp dem Mädchen, er bezahlt die Miete und finanziert die Augenoperation. Der wieder nüchtern gewordene Millionär erinnert sich aber nicht daran und lässt ihn als Dieb ins Gefängnis werfen.

Nach seiner Entlassung irrt der Tramp durch die Stadt. Die Gassenjungen lachen höhnisch hinter ihm her und beschiessen ihn mit ihren Katapulten. Er kommt an einem Blumengeschäft vorbei. Es gehört dem Mädchen. Sie kann jetzt sehen. Sie sieht einen Tramp, der sie anhimmelt. „Da habe ich offenbar eine Eroberung gemacht“, sagt das schöne Mädchen lachend zu ihrer Grossmutter. Sie gehört jetzt zur Society und wird nach ihrer Schönheit gewürdigt.

Er ist scheu, getraut sich nicht, die Blume anzunehmen, die sie ihm reicht. Da will sie diese an sein Revers heften. Erst jetzt, als sie tastet, als sie seine Hand fühlt, erkennt sie ihn.

„Du?!“
„Ja! – Kannst Du jetzt sehen?“

So endet der Film und die Zuschauer diskutieren, ob sie wohl zusammenkommen werden.

Das Mädchen, als es sehen konnte, sah zuerst den Tramp in ihm, der von den Gassenjungen verlacht wird. Dann erkennt sie ihren Wohltäter in ihm, in den sie sich verliebt hatte. Auch der Millionär hat verschiedene Bilder und Wahrnehmungen. Er kann sich nicht entscheiden, welcher Welt er folgen soll. Wenn sein Verstand benebelt ist, mit dem er seine Geschäfte tätigt, kommt er in Kontakt mit seinen Gefühlen. Er erlaubt sich solche Ausschweifungen aber nur am Abend, wenn aus dem Dunkeln Erinnerungen aufsteigen, Sehnsüchte, die Ahnung, dass auch er einmal etwas anderes wollte.

Der Tramp hat sich verliebt. Das gibt ihm einen eigenen Blickwinkel. So kann er alles hingeben, auch den letzten Notgroschen. Aber kann er dem blinden Mädchen seine Liebe gestehen? Sie stellt sich unter ihrem Wohltäter wohl einen reichen Herrn vor. Als ihre Augen geheilt sind, sieht sie einen Landstreicher vor sich, was er für die Gesellschaft ja auch ist. Und sie stimmt zuerst in das Lachen ein.

… und erkennen
Er kann nicht hoffen, dass sie etwas anderes in ihm sieht, als was er darstellt. Dass er etwas anderes für sie werden kann, als was die Gesellschaft nach ihren sozialen Codes ihm zubilligt. Es ist ein Geschenk für ihn, auf das er keinen Anspruch erhebt – als sie sich erinnert: Er ist ihr Wohltäter. Sie muss nicht erst ihren Realitätssinn benebeln wie der Millionär, bis sie das erkennt. Sie hat es an seinen Händen ertastet. Gerade weil sie rauh sind und nicht die Hände eines Gentlemans, hat sie den Tramp ihn ihm erkannt und durch den Tramp hindurch den, der ihr geholfen hat.

Und es nicht nur durch das Geld, das er ihr gegeben hat. Sondern vorher und viel wesentlicher: weil auch er in ihr mehr gesehen hat als ein Bettler-Mädchen aus der Gosse. Weil er den Hut vor ihr gezogen hat, weil er sie geachtet und wie einen liebenswerten Menschen behandelt hat. So wird auch er jetzt nach diesem Massstab gemessen. „Denn nach welchem Urteil ihr messt, werdet auch ihr bemessen werden.“

Realität?
Welche „Realität“ ist jetzt „wirklich“? Und wenn es verschiedene Realitäten gibt – welche Wirklichkeit zählt? Wenn beide irgendwie zählen, wann zählt die eine, wann die andere? Das Ganze ist offenbar vielschichtig. Wenn nicht, hätte die Liebe keine Sprache, die über die Nützlichkeit hinausginge, nichts, was man nicht in den Paragraphen von Ehe-Verträgen einfangen könnte. Dann würde die Liebe nicht singen und Gedichte schreiben.

Darum hat auch die Religion eine Sprache, die zwar das Offensichtliche aussprechen kann, sie lebt ja in dieser Welt, die aber auch von jenem anderen etwas weiss. Denn ihr Thema kommt erst wirklich zur Sprache, wo es um das Ganze geht. Dort werden Sehnsüchte ausgesprochen. Intuitionen werden laut, die wir notwendig zum Leben brauchen.

Gerechtigkeit ist so ein Ding, das Recht jedes Wesens auf Leben und Entfaltung. Dass Menschen in Frieden zusammenleben. Dass das Leben des einzelnen am Ziel „ankommt“, weil es nicht gleichgültig ist in dieser Welt, sondern gemeint und gewollt von jenem ersten Ursprung an, aus dem das Leben und das Dasein ausgegangen sind.

«Da sahen sie ihn nicht mehr»
Die Geschichte hat ein Vorbild in der Bibel. In dem Moment, als das von seiner Blindheit geheilte Mädchen ihn erkennt, sieht sie den Tramp nicht mehr in ihm. Es ist eine säkularisierte Variante des wahren Erkennens, von dem die Bibel in der Geschichte von Emmaus erzählt. In dem Moment, als die Jünger in dem brotbrechenden Mann Jesus Christus erkennen, sehen sie ihn nicht mehr.

„Und sie kamen nahe an das Dorf, wo sie hingingen. Und er stellte sich, als wollte er weitergehen. Und sie nötigten ihn und sprachen: Bleibe bei uns; denn es will Abend werden und der Tag hat sich geneigt. Und er ging hinein, bei ihnen zu bleiben. Und es geschah, als er mit ihnen zu Tisch sass, nahm er das Brot, dankte, brach’s und gab’s ihnen. Da wurden ihre Augen geöffnet und sie erkannten ihn. Und er verschwand vor ihnen. Und sie sprachen untereinander: Brannte nicht unser Herz in uns, als er mit uns redete auf dem Wege?“ (Lk 24, 28ff)

 

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Aus Notizen 2016