Überwintern

„Sie hat sich ganz eingekapselt, ich komme nicht mehr an sie ran“, sagt die Frau im Zug. Sie erzählt mir von einer Bekannten. Sie lebt seit einiger Zeit allein und hat jeden Kontakt zu ihren Verwandten und Bekannten eingestellt.

Wie soll man mit damit umgehen? Wie kann man das verstehen?

Die Natur hat Überlebens-Techniken entwickelt. Wenn die Umwelt lebensfeindlich wird, kapseln sich die Pflanzen ein. Andere ziehen sich in die Wurzel zurück. Andere überwintern. Wenn die Bedingungen dann wieder besser werden, springen die Kapseln auf. Die Wurzeln treiben Triebe empor. Tiere erwachen aus ihrem Winterschlaf. Etwas Ähnliches ist der Totstell-Reflex. Wenn die Gefahr keinen Kampf zulässt, wenn Flucht nicht möglich ist, fallen gewisse Tiere in Schreckstarre. Sie stellen sich tot.

„Abtauchen“
Überlebens-Techniken gibt es auch beim Menschen. Manche kommen mit der Umwelt nicht zurecht, mit der Situation, in die sie geraten sind, mit den Mitteln, die ihnen zur Verfügung stehen. So „tauchen sie ab“. Sie überwintern, bis die Umwelt signalisiert, dass neues Leben möglich ist.

Überbrücken
Eine schwierige Zeit kann man überbrücken. Das kennt auch die Wirtschaft. Saison-Betriebe in Tourismus-Regionen überbrücken die nachfrageschwache Zeit durch eine zeitliche Einstellung der Aktivitäten. In der Corona-Krise werden Betriebe stillgelegt und die Betreiber hoffen, sie nach einem Abklingen der Pandemie wieder eröffnen zu können.

Rückzug und Verfolgung
Schwierige Zeiten kennen also nicht nur einzelne Menschen, auch Gemeinschaften erleben harte Zeiten, etwa wenn sie verfolgt werden. So gibt es aus der Zeit der Christenverfolgung die Sage der Siebenschläfer. Und es erstaunt nicht, dass sie auch im Islam bekannt ist und im Koran zitiert wird.

Verbergen und Aufwachen
Die Rettung der Siebenschläfer hat offenbar zwei Teile. Das eine besteht im Verbergen, im Rückzug in die Höhle, was ein Überdauern einer lebensfeindlichen Umwelt ermöglicht. Das andere ich das Aufwachen, das Hervorkommen, die Wiederaufnahme des Lebens, was einer zweiten Geburt gleicht.

Menschen, die mit Infragestellungen konfrontiert werden, denen sie nicht begegnen können, wo alles ungenügend ist, was sie aufbieten können aufgrund von Erziehung und Erfahrung, tauchen wohl manchmal ab. Sie ziehen sich auf elementare Lebensfunktionen zurück und lassen die grossen Fragen nach Glück und Entfaltung pausieren. Sie finden Trost in solchen Legenden. Und diese werden immer wieder erzählt, weil es immer wieder Menschen gibt, die an den Rand des gestaltbaren Verhaltens geraten oder gar hinüberfallen in ein reaktives Muster, das ohne Überlegung abläuft.

„Der Winter ist vergangen“
Auch die Tradition in verschiedenen Religionen kennt solche Sagen, weil Verfolgung und Verbergen Erfahrungen sind, die viele religiöse Gemeinschaften teilen. Das Verbergen ist der erste Teil der Rettung, die Höhle ist wie ein zweiter Mutterleib. Und der zweite Teil ist die Geburt, das neue Leben. In der Bibel gibt es eindrückliche Verse dazu in einem Liebeslied:

Steh auf, meine Freundin, meine Schöne, komm her!
Denn siehe, der Winter ist vergangen,
der Regen ist vorbei und dahin.
Die Blumen sind aufgegangen im Lande,
der Lenz ist herbeigekommen,
und die Turteltaube lässt sich hören in unserm Lande.
Der Feigenbaum hat Knoten gewonnen,
und die Reben duften mit ihren Blüten.

Die Bibel moralisiert nicht, sagt nicht, dass es nicht statthaft sei, so „abzutauchen“. Im Gegenteil, sie nimmt die Erfahrung eines Lebens auf, das bis auf seine Wurzeln verunsichert ist, und findet poetische Bilder dafür. Im Islam und im Christentum gibt es die Sage der Siebenschläfer, die eine Zeit traumatischer Verletzung in einem Ruhezustand verlebt haben. Aber Gott vergisst sie nicht, sagt die Sage, er erweckt sie aus ihrem Schlaf zu neuem Leben.

Die Lebensfreude kehrt zurück
Die Lebensfreude kehrt zurück, die Freude am Gestalten des Lebens. Die Menschen finden ihre Autonomie wieder, die Selbstwirksamkeit, sie trauen sich wieder zu, das Leben gestalten zu können. Ja, der Rest ist Ethik, Verantwortung, Politik und Wirtschaft. Aber am Anfang standen die Prozesse, wo Verletzungen verheilen, wo neues Vertrauen entsteht, wo eine Seele im innersten Kern einen neuen Anfang findet. Die Religion kleidet sie in eine Sage, der Glaube kennt es als Auferstehung.

Das Hohelied sagt es so:

Steh auf, meine Freundin, meine Schöne, komm her!
Denn siehe, der Winter ist vergangen,
der Regen ist vorbei und dahin.
Die Blumen sind aufgegangen im Lande.

Gern stelle ich mir vor, dass Christus so zu Lazarus gesprochen hat, bevor er aufgestanden ist in seinem Grab. So sind die Geschichten, die vom Winter handeln, auch Ostergeschichten. Ihr Thema ist das Leben, das neue Leben.

 

Bild: Ikone, die Sieben Schläfer, gemeinfrei

Der katholische Kalender kennt einen Gedenktag für die Sieben Schläfer, er wird am 27. Juni gefeiert. Laut Wikipedia gibt zwei Kirchen, die den Sieben Märtyrern von Ephesus geweiht sind. Die eine steht in Rotthof, in Niederbayern. Die zweite Kirche ist Sept-Saints bei Vieux-Marché in der Bretagne. Der Islamwissenschaftler Louis Massignon initiierte eine gemeinsame Wallfahrt von Christen und Muslimen nach Sept-Saints.