Ein Rabbi sieht, wie einer auf der Strasse eilig unterwegs ist. „Warum rennst du so?“ fragt er ihn. “Ich gehe meinem Erwerb nach“, sagt der andere. „Und woher weisst du“, fragt der Rabbi weiter, „dass dein Erwerb vor dir hergeht und du ihm nachjagen musst? Vielleicht ist er dir im Rücken und du brauchst nur einmal anzuhalten, um ihm zu begegnen, aber du fliehst vor ihm.“

Vielleicht ist es wirklich so und wir müssen dem nicht nachrennen, was unsere Berufung und Bestimmung ist im Leben!? Vielleicht ist sie schon lange da? Vielleicht ist es umgekehrt, und sie ist es, die uns sucht und wartet, dass wir endlich ja sagen? Vielleicht laufen wir vor dem davon, was wir als unsere Bestimmung ahnen. –

Solche Gedanken mache ich mir, wenn ich lese, dass Jesus Menschen berufen habe, dass sie ihm nachfolgen. Ist das etwas, was vor 2000 Jahren stattgefunden hat? Oder hat es auch etwas mit uns zu tun? Was ist denn das: Berufung?

Gibt es das im Leben: dass wir nicht selber einen Beruf wählen, sondern dass wir berufen werden? Dass wir nicht selber ein Ziel aussuchen, dem wir uns widmen wollen, sondern dass ein Ziel uns sucht, und will, dass es in unserem Leben verwirklicht wird?

Wenn ein Lehrling früher seine Prüfung machte, erhielt er vom Meister eine Ohrfeige. Und jetzt war er Geselle, eine Stufe höher und berufen, sein Können in die Welt zu tragen. Die englische Königin, wenn sie einen verdienten Bürger in den Adelsstand erhebt, gibt ihm mit dem Schwert den Ritter-Schlag. Berufung hat es auch mit Schlagen zu tun, mit Ohrfeigen und Ritterschlag.

Es gibt Menschen, die sind mit einem Geschick geschlagen. Es wird ihnen schwer, das anzunehmen. Wir kennen aber auch Menschen, die ihr Leben mit einer Behinderung begonnen haben oder die ein schweres Schicksal tragen. Und sie sind daran gewachsen. Sie haben ein seltenes Talent daraus entwickelt, etwas, was nur sie auf diese Weise haben.

Vielleicht, denke ich, hat Gott uns alle schon berufen: durch das Leben das er uns gab, durch die Verantwortung, in die er uns gestellt hat, durch die Menschen, die er uns an die Seite gestellt hat. Unser Leben ist die Aufgabe. Oft ist es ein Geschenk, das wir geniessen, manchmal eine Herausforderung, wofür wir alles aufbieten müssen.

Eine Berufung wird es dann, wenn wir es als Gabe von Jesus Christus begreifen. Dass er uns an unsern Ort gestellt hat. Dass er an unserem Ort jemanden haben will, der von seinem Evangelium erzählen kann. Damit an jedem Ort dieser Erde und zu jeder Zeit jemand ist, der etwas weiss von Gott: dass er uns sucht und entgegen kommt in Jesus Christus. Dass er uns hilft, wenn wir die Herausforderung annehmen, die unser Leben ist.

Wenn das so ist, dann sind wir schon berufen: durch das Leben das wir haben. Wir können aufhören zu suchen. Wir können ja sagen im Vertrauen auf Gottes Hilfe. Während wir noch suchen, hat er uns schon gefunden.

 

Aus Notizen 2014, nach einem Gottesdienst zum «Sonntag Septuagesimae». (Die Feier «70 Tage vor Ostern» entfällt 2021, da Ostern auf einen frühen Termin fällt.)

Foto von Ono Kosuki von Pexels