Fantasy als Rückkehr des Mythos in populärer Form

Die Kräuterhexe

Weil das mythologische Erzählen in der Kirche lange verpönt war, hat diese den Schatz ihrer Traditionen beschnitten und nur weitererzählt, was historisch oder durch die Erfahrung zu beglaubigen war. Die Verkündigung büsste so an Leben ein und die Menschen sahen sich nach andern Quellen um, die die Phantasie mehr ansprachen und die die Intuition eines gelingenden Lebens besser aufnehmen konnten. Die „Kräuterhexe“ ist das Beispiel eines selbsterfundenen „Mythos“, der Geborgenheit vermitteln soll.

Eine Mutter begleitet ihr sterbendes Kind. Sie will es behütet wissen auf dem Weg und geborgen. Sie erzählt dem Kind von einer „Kräuterhexe“. Diese kommt zum Kind, auch wenn die Mutter nicht da ist. Es braucht keine Angst zu haben, denn es ist eine liebevolle Hexe. Sie nimmt es bei der Hand und begleitet es auf dem Weg. Sie hat wunderbare Kräfte und kann alle Gefahren meistern auf dem Weg…

Die Zeitung berichtet von dieser Mutter und der schöpferischen Art, wie sie das Kind begleitet. Sie erfindet aus der Not eine Mythologie. Die „Kräuterhexe“ kommt und begleitet das Kind in die andere Welt. Sie übernimmt die Rolle des antiken „Seelenführers“, welche die frühe Kirche Jesus Christus zugeschrieben hat.

Die religionspychologischen Wurzeln liegen bei den notwendigen Intuitionen, die wir Menschen haben müssen, wenn wir leben wollen: die Intuition, dass die Welt Bestand hat unabhängig vom Tun der Menschen; die Intuition, dass es für das eigene Leben ein „Ankommen“ gibt, trotz der Brüche, Fehler und Leerstellen in der Biographie; die Intuition, dass die Geschichte der Menschheit nicht im Dunkeln endet, obwohl sie ihre Existenzgrundlagen zerstört.

Dazu gehört die Tendenz zur „Selbstergänzung“. Anders ist das Leben nicht zu leben, als in der Zusage eines heilvollen Daseins, notfalls „kontrafaktisch“ wie am Karfreitag, gegen allen Anschein der empirischen Erfahrung. Die überschiessenden Gehalte der Intuitionen „ergänzen“ das Fehlende.

Das ist kein „Trick, um das Leid weg zu lügen“, wie die Religionskritik anmerkt. Auch beim allerglücklichsten Menschen stammt der Anfang nicht aus ihm, er liegt ausserhalb der empirischen Erfahrung. Die Menschen schaffen sich nicht selbst, sie finden sich auf dieser Welt vor, wenn das Bewusstsein erwacht, und sie müssen und dürfen sich in Beziehung setzen, zu dem, was vor ihnen da war und was ihnen Leben schenkt und ermöglicht. So ist es auch am Lebensende. Das empirische Ende wird symbolisch ergänzt durch die Erzählung der „Vollendung“, wenn das Angefangene am Ziel ist. „Und siehe, es ist sehr gut“, sagt die biblische Schöpfungsgeschichte.

Ein Mythos
Das Christentum hat das alles aufgenommen im „Christus-Mythos“: Der Gottes-Sohn „kommt vom Himmel“. Er verbindet uns mit dem „Ursprung“, aus dem alles kommt. Er ist die „Quelle des Lebens“, wo immer wieder neue Kraft zu finden ist. Und die Erzählung geht weiter:
Er ist zur Erde gekommen, er wurde Mensch wie wir (so dass wir uns in seinem Weg finden können; so dass wir unsern Weg nach seinem Vorbild ergänzen können).
Er ist gestorben und „hinabgestiegen“ (und wir sehen, wie unser Weg weitergeht, wenn das empirische Sehen aufgehört hat.)
Seine Reise führt ihn bis zu Adam und Eva, den ersten Menschen (als Zeichen, dass alle Menschen gemeint sind, dass der Heilswille Gottes für alle gilt, vom Anfang der Zeiten bis zum Ende).
Er wird auferweckt / er aufersteht und fährt in den Himmel hinauf, er wird zu Gott erhoben. Auf diesem Weg besiegt er „alle Mächte und Gewalten“, die sich entgegenstellen, bis „Gott alles in allem ist“.

So macht er einen Weg frei, weit jenseits der biographischen Wege, ein Weg der von der Erde über den Tod in den Himmel führt, in Stationen, die nur „mythologisch“ zu beschreiben sind: als Geschichten von Gott und Menschen, weil die empirisch kontrollierbaren Bereiche überschritten werden, weil Ganzheitsaussagen gemacht werden, weil absolute Gehalte in Anspruch genommen werden, auf die eine Beschreibung des Menschen nicht verzichten kann: Recht, Gerechtigkeit, Liebe, Zugehörigkeit, Identität und Wert unabhängig von dem selbst Erzeugten…

Märchensprache für eine Wirklichkeit
Wenn eine materialistische das-Leben-ist-nur-Staub-und-Lehm-Erzählung vom Menschen und von der Welt vermieden werden soll, dann müssen symbolische Aussagen vom Menschen einbezogen werden. Mit Staub und Lehm kann man schon das Singen eines Vogels nicht beschreiben. Man kann zwar etwas sagen („sie grenzen ihr Revier ab“ etc.), aber das befriedigt das Empfinden nicht, das man beim Hören hat. Es gibt so etwas wie Schönheit in der Welt, Dankbarkeit, Zugehörigkeit.

Und darum wird man auch seine Liebsten, wenn sie sterben, nicht einfach verscharren. Man wird sie „Gott ans Herz legen“. Damit sind sie auch uns ans Herz gelegt. Wir können leben mit dem Verlust, auch wenn uns das anfangs kaum möglich scheint. Wir finden wieder einen Weg, nachdem wir durch die „Unterwelt“ der Trauer gegangen sind – und so der Verzweiflung und der Selbst-Aufgabe widerstanden haben.

Was der Mythos leistet
Diese „Mythologeme“ sind nicht nur Überbleibsel einer vergangenen, vor-aufgeklärten Kultur. Sie sind die sprachlich-geistige Spur für tiefer in uns liegende Ablauf-Wege des psychischen Erlebens und Verarbeitens. In ihnen ist die Erfahrung vieler Generationen aufbewahrt. Und diese Erfahrungen gehen bis in vorgeschichtliche Zeit, bis in eine Zeit der Menschwerdung, darum haben sie sich der Konstitution des Menschen eingeprägt. Sie sind „archetypisch“ geworden, wie C. G. Jung formuliert.

Und wo sie fehlen, fehlt den Menschen auch der Zugang zu diesen heilvollen Wegen der Selbst-Heilung und Selbst-Ergänzung. Die therapeutische Kraft dieser Erzählungen ist verloren und die Menschen tappen im Dunkeln herum und suchen Hilfe bei Mitteln, die nicht helfen.

Die Kräuterhexe und die Kirche
Diese Mutter hat selber einen Mythos ersonnen. Sie hat eine Kräuterhexe erfunden, die im Wesentlichen das leistet, was Christus nach dem biblischen Zeugnis tut. Aber sie wusste nichts von ihm oder wollte nichts (mehr) von ihm wissen.
Hat die Kirche ihre Aufgabe da erfüllt? – Die Theologie hat die mythologischen Aussagen ausgeschieden, weil die Menschen der Moderne, nach Bultmanns Diktum, nicht gleichzeitig Radio hören und an einen Auferstandenen glauben könnten.
Später haben die Kulturwissenschaften sich mit der mythologischen Redeweise beschäftigt und sie gegen den Einspruch einer platten, empiristischen Aufklärung „rehabilitiert“: Es hat einen Sinn, so zu reden. Es gibt Gehalte, die nicht anders zur Sprache gebracht werden können. Aber in die Kirche wurden sie nicht zurückgeholt.
Sie irren seither herum, wie Ströme, die sich von einer nicht genügend isolierten Leitung gelöst haben. Unterirdisch fliessen sie herum und sammeln sich vielleicht mal in einem Gegenstand, laden diesen elektrisch auf, bis ein Bauer einen tödlichen Schlag erhält, weil er seine Melkmaschine berührt, oder eine Hausfrau ihren Kühlschrank.

Unglückliche Entmythologisierung
Die Entmythologisierung ist unglücklich gelaufen. Die absoluten Gehalte, die Hoffnung auf Glück, Heil und Gerechtigkeit, wurden von den religiösen Aussagen gelöst und mit empirischen Grössen verbunden: dem Staat, der Partei, der neuen Epoche, die dank dieser Partei anbrechen solle, mit dem Ziel der Geschichte – dieses aber nicht in einem Jenseits, sondern hier auf Erden.

So entstanden die totalitären Gebilde des 20. Jahrhunderts, der Nazistaat, der Stalinismus. Das Gute stand dem Bestehenden nicht mehr in Spannung gegenüber wie im „Reich Gottes“, es wurde schon jetzt versprochen.
Das Absolute, wenn es mit dem Endlichen verbunden wird, wird totalitär. Jetzt wird das Versprochene eingefordert, jetzt wird kontrolliert und bestraft. Die Lücken, die von endlichen Wesen gar nicht geschlossen werden können, werden durch Lüge und Propaganda überkleistert. Die Fehlerhaften werden ausgesperrt oder vernichtet, damit sie das gute „Menschenmaterial“ nicht beschädigen. Schliesslich, wenn das Ziel immer noch ausbleibt, muss der Mensch selber repariert werden (entgegen der Ideologie, die nur die Verhältnisse umstürzen wollte). Und da Bildung eine solche Lücke nie überbrücken kann, muss eine „Menschenbildung“ per Rassenhygiene und Völkermord aufgebaut werden…

Die Kluft zwischen Himmel und Erde kann mit dem höchsten Turm nicht überbrückt werden. Es ist zu komplex, dieser Weg ist für Menschen nicht begehbar. Das erzählt die Antike in hundert Geschichten. (Ikarus stürzt ab auf seinem Flug, Phaëton bringt die Welt an den Abgrund, als er den Sonnenwagen lenkt, Achill wird ins göttliche Feuer gehalten, bleibt aber doch sterblich, weil seine Mutter ihn an der Ferse hält, wo das Feuer nicht hinkommt…). Der babylonische Turm bricht ein und die mit Gewalt zusammen geschweisste Gesellschaft zerbricht in ihre Einzelteile, und jeder spricht seine Sprache. Das Einheitsprojekt zerfällt in eine babylonische Sprachverwirrung – in einen Pluralismus, der jetzt unüberwindlich scheint.

Gegen Religion geimpft
Die Menschheit ist nach dieser Erfahrung gegen jede Gemeinschafts-Ideologie geimpft. Das Nicht-Verstehen wird prinzipiell. Man schreibt es in die Verfassung. Und jeder, der etwas anders behauptet, wird jetzt totalitarismusverdächtig. So ist die Zeit für Gemeinschaftsprojekte vorbei.
Dass jeder nur seinen eigenen Interessen folgt und folgen soll, das gilt als Naturzustand. Bis die Welt wieder fast in den Abgrund gefahren wird, diesmal wegen dieses Partikularismus. Er ist der Schatten der Einheitsideologie. Und beides sind Folgen einer unglücklichen Entmythologisierung.

Unglückliche Remythologisierung
Die Entmythologisierung war unglücklich und hat die Welt in millionenfaches Unglück gestürzt (weil die Menschen nicht mehr unterscheiden konnten zwischen Gott und Mensch). Die Remythologisierung war ebenfalls unglücklich. Denn die Menschen können nicht leben ohne Orientierung an absoluten Gehalten, ohne die Hoffnung auf Heil und Gerechtigkeit.
Die Entmythologisierung hat den Menschen die Traditionen weggenommen. Aber die Phantasie suchte und fand Ersatz. Notfalls erschafft sie sich „ex nihilo“ eine Welt der Bedeutung. Die Kirche darf nicht klagen, sie hat die Leerstelle geschaffen oder nicht geschlossen. Während ihre Pfarrer sich noch tapfer „enthalten“ und einen Glauben ohne Gott predigen, während Christus kaum noch zur Sprache kommt oder nur in einer Reduktion auf Liebe und Ethik (denn was bleibt, wenn man vom Evangelium den Gottessohn abzieht?), hat das phantastische Genre in Literatur, Film und Comic die Leerstelle schon längst gefüllt.

Fantasy
Und die Kinder, wenn sie zum ersten Mal etwas von der christlichen Verkündigung hören, haben schon hundert andere Erlösergestalten kennengelernt, die aus einer andern Welt, von andern Sternen, aus der Zukunft etc. zu uns kommen und die Welt retten. Jesus Christus drängt sich da auf einen Markt, der schon lange besetzt ist.
Er ist nicht mehr nötig. Die Eltern können die Kinder in dieser Frage auch nicht unterstützen, sie haben nichts anderes kennengelernt als ein ethisch verkürztes Christentum und die Reduktion der Verkündigung auf die Liebe.

(29.11.13, zu einem Artikel im „Tages-Anzeiger“ vom 25. 11. 2013)