Die Rückkehr des mythologischen Erzählens

Es gibt Anzeichen für eine Rückkehr des mythologischen Erzählens in Kirche und Theologie. „Wer hat Angst vor dem Mythos?“, fragen Benjamin Hasselhorn und Mirko Gutjahr in „Zeitzeichen“ (2019, Nr. 3, S. 12 ff). Zuerst reibt man sich die Augen. War der Mythos nicht jahrzehntelang ein Pfui-Begriff in Kirche und Theologie?

Doch es war wohl nur eine Frage der Zeit. Die Argumente für die Verbannung des mythologischen Erzählens fehlten zusehends angesichts der Rehabilitierung in vielen Kulturwissenschaften.

Der Schlachtruf der Aufklärung „gegen Mythen und Tabus“ stand schon lange nicht mehr im Dienst der Emanzipation gegen finstere Traditionsmächte. Damit wurden kommerzielle Werbefeldzüge angeführt gegen angebliche Feinde des Fortschritts. Der Gestus der aufklärerischen Emanzipationsbewegung wurde in Dienst genommen und kommerzialisiert, so wie alles heute von der Werbung vereinnahmt wird, auch die Religion, auch Werte der Tradition, gegen die mit dem Tabu-Bruch angeblich angekämpft wird.

In der Antike hat sich die entstehende Philosophie an die Mythen angelehnt. Der Philosoph Parmenides erzählt den mythologischen Aufstieg der Seele in den Himmel und an der Stelle, wo die Göttin sich offenbart, trägt er seine These ein, wodurch diese den Schein göttlicher Offenbarung erhält. Auch Platon nimmt zur mythologischen Erzählform Zuflucht, wenn eine philosophische Letztbegründung für seine Thesen nicht möglich ist.

Der Mythos war aber keine „primitive Vorstufe“ der Philosophie, weil er das gar nicht leisten wollte: eine naturphilosophische Welterklärung zu geben. Die gebräuchliche Formel „vom Mythos zum Logos“ ist daher missverständlich und mitverantwortlich für die Geringschätzung des Mythos. Das zieht sich bis in die heutige Verachtung der Religion, wenn sie wegen ihrer falsch verstandenen Schöpfungsgeschichte als schlechte Wissenschaft verlacht wird.

In der Neuzeit wurde der Mythos nicht nur von der politischen Linken abgelehnt, die den Emanzipationskampf der Aufklärung fortsetzte. Auch für bibeltreue Gläubige war der Mythos verdächtig. Die religionsgeschichtliche Schule in der Theologie hatte in vielen christlichen Traditionen „alte Mythen“ entdeckt, die der Kritik anheimfielen. Die Gläubigen sahen in der Bibel aber nicht irgendwelche heidnische Überlieferungen, sondern die entscheidende Offenbarungs-Wahrheit. Sie wehrten sich, Christus als einen der vielen göttlichen Gestalten zu sehen, von denen die heidnischen Mythen berichten, welche vom Himmel auf die Erde steigen, die den Tod erleiden und auferstehen als Zeichen der wiedererwachten Fruchtbarkeit.

Die Bibel hat wohl manche mythologischen Erzählzüge aufgenommen, ihren Inhalt aber insgesamt auf einen solchen Mythos zu reduzieren, würde von einer sehr oberflächlichen Lektüre zeugen. Wenn aber ein Text, der von Gott und Menschen handelt, als „Mythos“ bezeichnet wird, dann enthält die Bibel auch Mythen. Das ist dann nichts anderes als die Bezeichnung für eine Erzählform, die Menschliches mit Göttlichem verbindet, wo die relative Welt der Menschen Platz findet aber auch die absoluten Werte, die im Glauben verhandelt werden. Wer überhaupt von Gott reden will und von seinem Wirken in der Welt, der muss dann definitionsgemäss solche Aussageformen in Dienst nehmen.

Trotzdem genierte man sich in Kirche und Theologe zusehends dieser mythologischen Reste, wo doch die ganze Welt ohne sie auszukommen schien. Nach dem Zweiten Weltkrieg, als es mit der Wirtschaft aufwärts ging, als wieder Optimismus sich breit machte, gab es in der Kultur eine „empirische Wende“. Glauben und Denken wurden auf die Basis der Erfahrung gestellt. Alles musste sich ausweisen vor dem Richtsuhl der sinnlichen Erfahrung. Was sich so nicht rechtfertigen liess, wurde als „sinnlos“ ausgeschieden.

Es war eine weitere Runde von „Entmythologisierung“ und Metaphysik-Kritik, die sich einreihte in so viele andere seit der Antike, seit dem Rationalismus, Idealismus, Materialismus und wie die Strömungen und Ideologien alle hiessen, die sich anheischig machten, die Religion in Wissen „aufzuheben“. (Was die Völker dunkel ahnten, hier wurde es ins klare Licht der Wissenschaft gerückt. So der Jargon. Was die Dunkelmänner dem Volk als Lügen vorgaukelten, hier wurde es entlarvt, um dem Volk die Freiheit zurückzugeben, die ihm im Namen von Thron und Altar vorenthalten worden war. So der emanzipatorische Duktus.)

Der Theologe Rudolf Bultmann, mit dem das Entmythologisierungs-Programm verbunden wird, wollte nicht einfach die mythologische Sprache der Bibel aufheben. Die Sprache von Wissenschaft und Kultur schien ihm auch nicht geeignet, die heimatlos gewordenen Gehalte von Bibel und Glauben aufzunehmen. Er wollte auch diese Kultur-Sprache aufheben in einer neuen Sprache existenzieller Welterschliessung. Das ist im Einzelnen eindrücklich. Es ist eine anspruchsvolle Rekonstruktion der Glaubenssprache im modernen Umfeld, konnte aber wohl darum keine Breitenwirkung entfalten. Viele hörten bei dem Wort „Entmythologisierung“ wohl nur die Aussage, dass der Glaube „mythologisch“ sei und dass der moderne Mensch daraus herausgewachsen sei wie ein Erwachsener aus seinen Kindermärchen.

Der Optimismus der 60er Jahre hielt nicht lange an. Die Globalisierung hängte nicht nur die Randlagen ab, sie richtete auch im Zentrum Schaden an. Der einzelne erlebte sich zunehmend isoliert vor dem Markt. Die vermittelnden Instanzen von Volk, Nation, Familie, Sprache, Kultur verloren ihre Bedeutung. Sie sind jedoch identitätsprägend und wurden zunehmend vermisst. Eine neue Hochschätzung von Tradition zeichnete sich ab. Was blosse Erfahrung vermitteln kann, reicht nicht, um eine Gemeinschaft am Leben zu erhalten und ein Individuum bei psychischer Gesundheit. Die „grossen Erzählungen“ wurden wieder entdeckt und ihr identitätsstiftender Charakter.

In dem grossen Suchen der Zeit wurden auch Bibel und Glauben neu befragt. So kam es in verschiedenen Kulturwissenschaften zu einem neuen Interesse an mythologischen Erzählungen. Das „Dekonstruieren“ verlor seinen Glanz als kaum noch etwas da war an Traditionsbeständen, die zerlegt werden konnten im Namen einer Befreiung von alten Zwängen. „Rekonstruieren“ und Neubegründen war jetzt gefragt, so wie in der Geschichte des ersten Testamentes auf die Untergangs-Propheten wieder priesterliche Gestalten folgten, die dem Glauben und Hoffen und Lieben wieder eine Grundlage gaben.

Jetzt also scheint das mythologische Erzählen auch in Kirche und Theologie wieder Interesse zu finden. Der Blog „Von Gott erzählen“ trägt seinen Namen auch von dieser Frage her: Wie wir heute wieder von Gott erzählen können. Das Buch „Heulen, Zähneklappern und Himmelfahrt – Für eine Rückgewinnung des mythologischen Erzählens in der reformierten Kirche“ trägt Erlebnisse und Argumente zu dieser Frage zusammen. Wählen Sie das Menu Download und klicken Sie auf  „Suchwege„. Im Kapitel „Wie reden von solchen Erfahrungen?“ findet sich eine Kurzfassung des Buches.

 

Bild: Duccio di Buoninsegna. Christus zerbricht die Tore der Unterwelt und befreit die Toten bis zurück zu Adam und Eva.