Seht her den Menschen!

Was ist das Wichtigste in der Bibel? – So gefragt, antwortet der eine vielleicht: die Bergpredigt, weil sie das Neue und Umstürzende der Botschaft Jesu zusammenfasst. Ein anderer denkt an das Unser Vater oder den Psalm 23. Diese Gebete leihen dem Menschen eine Sprache. Mit ihrer Hilfe können sie ihr ganzes Dasein vor Gott bringen und finden Ruhe und Zuversicht.

Das Wichtigste in der Bibel? Manche werden an die „Goldene Regel“ denken, die in allen Religionen vorkommt und die bei Matthäus so lautet „Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun, das sollt auch ihr ihnen tun.“ (Mt 7,12). Es ist eine Basis für die Verständigung der Religionen, ein Massstab für das Verhalten der Menschen, ein Beitrag zum Frieden auf der ganzen Welt.

Die ältesten Teile der Evangelien sind aber die Passionsberichte. Das Geschehen um Leid und Tod Jesu Christi wurde zuerst auch isoliert erzählt. Es kann für sich selber bestehen. Es erzählt die Erlösung der Menschen. Es ist das grosse Drama von Schuld und Befreiung, die Geschichte von Schöpfung und Fall, das Wunder, wie Gott die gefallene Welt mit sich versöhnt. Da ist alles enthalten, und es entfällt die Nötigung, es nach Wichtigkeit sortieren zu müssen. Das Evangelium ist überall „ganz“. Auch in diesem Bericht vom Leiden und Sterben Jesu.

Hört man sich heute um, so macht man eher einen Bogen um Passionsberichte, ausser es betrifft die eigene Passion, das eigene Leiden. Das geht jeden Menschen ganz direkt an: was er im Leben erfährt, was sein Glück ist und sein Leiden. Wo er Heilung erfährt, neues Glück. Wo Hoffnung ihn trägt, wo er Gemeinschaft findet mit anderen Menschen. Wo er sich als getragen erlebt mit seinem individuellen Dasein. Wo er sich als Teil erleben darf von etwas Grossem und Wunderbarem.

Genau das wird verhandelt im Bericht von der Passion Jesu. Es geht nicht um das Schicksal einer zufälligen Person, die vor 2000 Jahren gelebt hat. Es geht um das Heil der Menschen, um das Wohl der Welt, wie sie hier und heute leben.

Ecce homo
Die Menschen haben sich immer wieder selber erkannt in diesem Bericht. „Tua res agitur“, da geht es um deine Sache! So stellt ihn Pilatus vor das Volk: „Seht her, den Menschen!“ Das Volk schaut ihn an und blickt wie in einen Spiegel. Nicht nur das Leiden sieht es da, auch die Hoffnung, das nur Geahnte, durch das man sich verbunden weiss mit der Quelle des Lebens. „Da geht es um mein Leben“, erkennen sie.

Das drückt sich aus in Erzähl-Zügen wie dem „wunderbaren Tausch“: „Was Du, Herr, hast erduldet, ist alles meine Last, ich hab es selbst verschuldet, was du getragen hast“, wie es heisst in dem Passionslied „Oh Haupt voll Blut und Wunden“. Hier geht es nicht nur um die stellvertretende Sühneleistung, die modernen Menschen vielleicht fremd geworden ist. In der Geschichte Jesu wird das Wohl und Wehe des menschlichen Geschlechts selber verhandelt.

Das ist die Faszination der Passionsgeschichte. Das macht ihre Wirkung aus. Sie erzählt nicht nur von Heil, sie entfaltet heilende Kraft, sie hilft versöhnen, annehmen, zu sich stehen. Sie stärkt das Recht aber auch das Erbarmen. Sie gibt allem Leben einen Platz. Darum begeht die Kirche jedes Jahr von neuem das Leiden und Sterben Jesu in einer feierlichen Erinnerung. Das ist der Inhalt der Gottesdienst der Passionszeit, wie sie auch jetzt gefeiert wird.