Das uneigentliche Leben

Was braucht ein Pfarrer zu wissen? So fragte ich mich. Was muss ich lernen? Mit dieser Ausbildung wird man für viele Tätigkeiten angestellt. Darum brauche ich mich gar nicht zu kümmern. Was wichtig ist für mich, und was es für die Seelsorge braucht, das ist eines: dass ich die elementaren Gefühle kennen und akzeptieren lerne, und so die Angst davor verliere.

Nur so kann ich vorwärts gehen, wenn die Angst mich nicht mehr lähmt.
Nur so kann ich mein eigenes Leben ergreifen, wenn der Weg nicht mehr verstellt ist.
Nur so finde ich Zugang zu anderen Menschen, wenn ich kenne, was sie beschäftigt.
Nur so ist der Kontakt fruchtbar, wenn ich nicht selbst gelähmt bin in der Falle.
Nur dann meiden sie mich nicht, wenn sie bei mir nicht ihre eigene Angst gespiegelt finden. Nur so halten sie es aus bei mir, wenn ihre Unruhe zur Ruhe kommt. Nicht weil ich es gelöst hätte, nur aushalten muss ich lernen.

Zu den Gefühlen, die Abgründe öffnen und Mauern aufrichten, gehören Angst, Scham und Ekel.

Angst
Zuerst ist da die Angst vor dem eigenen Leben, das Zurückhalten, das uneigentliche Leben. Als wir hierher kamen getraute ich mich nicht, mich zu wehren, aus diesen und jenen Gründen. Ich habe mich selber verraten, so wurde alles schief. Was hilft, ist die Nachfolge, und zwar bis an den Punkt dieser Lebensangst, bis zur Bereitschaft, notfalls das Leben hinzugeben, und dabei doch das Richtige zu tun. „Wer sein Leben retten will, der wird es verlieren, wer aber sein Leben verliert um meinetwillen, der wird es finden.“ (Mt 16,24).

Das ist nicht einer jener Aussprüche Christi, die „zu hoch“ sind für uns, die wir herabmindern und temperieren müssen, damit sie den Menschen zumutbar werden. Nein, es ist eine Erfahrung auf dem Weg. Und zwar nicht auf einem speziellen religiösen Weg, der nur solche angeht, die sich dafür interessieren, sondern auf dem Weg, der jedem Menschen als Mensch aufgegeben ist. Religion ist nicht eine kulturelle Sonderveranstaltung, die jene nicht zu kümmern braucht, die sich nicht für Kirche und Papst, für Bach und Barock interessieren. Es ist ein Weg für das Leben. Hier sind die Erfahrungen aufbewahrt, die helfen.

Scham
Scham ist verbunden mit Rang und Demütigung. Das ist elementar im Zusammenleben, daher ein Schlüssel zu den Menschen, gerade in einer Welt, die von dieser Erfahrung nicht spricht. Es ist zu peinlich. Es gibt kaum noch Tabus, aber da ist noch eines, an das niemand rührt, weil er nicht gern in diesen Spiegel blickt. Hier ist Einsamkeit. Die Seelsorge löst sie, wenn da einer ist, der es kennt und der es angenommen hat.

Die Scham hat Wurzeln, die weit zurückreichen, in die ersten Phasen der individuellen Entwicklung. Das soziale Rollenspiel knüpft daran an. Es ist eine Ressource im Spiel um Einfluss und Abschreckung. Man kann Angst machen damit, mit der Drohung, jemanden bloss zu stellen. Man kann jemanden ausschalten, indem man ihn „vorführt“ und nackt auszieht.

Ich muss nicht mitspielen dabei (es gibt immer einen eigenen Anteil an jeder Geschichte, an jeder Passion, und somit gibt es auch einen Zugang zu jeder Passion im eigenen Inneren). Aber ich muss bereit sein, die Folgen zu tragen. Ich muss das letzte loslassen können, und das kann ich nur, wenn ich es übergeben kann und aufgehoben weiss. „Wenn jemand mit mir gehen will, verleugne er sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach.“

Ekel
Was mir dazu einfällt: die Abscheu vor der Politik, seitdem eine Partei den Bodensatz aufrührt. Das ist wohl vermischt mit Angst. Die Angst vor der Einsamkeit, dass niemand für mich einstehen wird, wenn ich öffentlich dagegen auftrete, dass alle einen Bogen um mich machen und ich allein im Regen stehen werde. Es ist letztlich die Angst vor der Wiederholung eines Traumas. Wieder gilt: „Wenn jemand mit mir gehen will, der nehme sein Kreuz auf sich.“

Darum ist es wichtig für mich, dass ich die elementaren Gefühle kennen und akzeptieren lerne, und so die Angst davor verliere. Nur so kann ich vorwärts gehen, wenn die Angst mich nicht mehr lähmt. Nur so kann ich mein eigenes Leben ergreifen, wenn der Weg nicht mehr verstellt ist. Nur so finde ich Zugang zu anderen Menschen, wenn ich kenne, was sie beschäftigt.

 

Aus Notizen 2005

Foto von Tobias Bjørkli, Pexels

Für den Sonntag Estomihi: Jesus kündigt das Leiden an: «Will mir jemand nachfolgen, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach. Denn wer sein Leben behalten will, der wird’s verlieren; und wer sein Leben verliert um meinetwillen und um des Evangeliums willen, der wird’s behalten.» (Mk 8,34f)