Zwischenruf: Opfer

Das Christentum wird oft geschmäht, weil Gott hier «seinen Sohn geopfert» habe. Dabei ist das Christentum der denkbar grösste Gegensatz zur heutigen Opfer-Kultur. Das wird deutlich gerade in der Passionszeit mit ihrer Aufforderung, Christus «nachzufolgen» und «das Kreuz auf sich» zu nehmen. Hier wird die Verantwortung für das eigene Leben auf die Spitze getrieben und umfasst auch Momente der Fremdbestimmung, die aber doch in die eigene Verantwortung übernommen werden.

Dagegen steht ein kultureller Trend dieser Zeit, immer mehr Opfer von gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten auszumachen und Entschädigung oder Kompensation zu verlangen, wobei das oft auch vorgeschoben wird von einer Betreuungs-Industrie, die hier ihr Geld verdient.

Das Opfer und die Rettung
Im Christentum ist Jesus Christus nicht nur Opfer – am Kreuz gestorben -, sondern auch Erlöser. In seiner Auferstehung geschieht neue Schöpfung und Rettung der Welt. Die neuzeitliche Philosophie hat das Christentum zurückgewiesen, aber viele von ihren Aussagen übernommen und auf irdische Träger übertragen. Für Hegel manifestiert sich der Weltgeist nicht nur in einer einzigen historischen Gestalt, in Jesus Christus, sondern in der ganzen Geschichte und ihren Formationen.

Marx identifiziert das «Proletariat» als Opfer und damit als Heilsträger, welcher in der «Revolution» die ganze Gesellschaft erlösen und die Geschichte in ein glückliches Endstadium überführen wird. Nach der De-Industrialisierung verschwand die Arbeiterschaft weitgehend aus Europa, China wurde zur Werkstätte der ganzen Welt. Opfer der Unterdrückung und Subjekt der rettenden Revolution wurden jetzt verschiedene Benachteiligte der Geschichte.

Die Pointe in all diesen Erzählungen, die sich im Echoraum der christlichen Heilserzählung bewegen, war immer die Erwartung, dass die Opfer der Geschichte auch die Träger der Verheissung und der rettenden Tat seien. Der ganze Heilsüberhang der Geschichts-Erzählung und der davon abgeleiteten politischen Programme stammt aus dem Christentum, das offen kritisiert, insgeheim aber beerbt wurde.

Gerechtigkeit
Die sog. Säkularisierung hat die Religion verweltlicht und die Welt mit religiöser Bedeutung aufgeladen. Das war die Voraussetzung für die totalitäre Entgleisung von Staaten und Parteien im 20. Jahrhundert. Die Not wird auch in Zukunft neue Heilsbringer hervorbringen, neue Erwartungen an Staat und Gesellschaft auftürmen. Es ist Zeit, die grossen Hoffnungen der Religion zurückzugeben und die Politik als Handwerk für die Lösung praktischer Fragen zu begreifen.

Dabei bleibt die Orientierung an Gerechtigkeit zentral, ohne dass diese in der Geschichte absolut einlösbar wäre. In der Geschichte gilt ein Urteil als gerecht, wenn die letzte Instanz gesprochen hat. Vor Gott gibt es eine absolute Gerechtigkeit, weil er die Verlorenen sucht und das Verbrochene heilt. Selbst der Tod ist hier keine Schranke, weil er eine neue Welt ins Leben ruft. Das ist das Bild der End-Versöhnung in der Religion. Solange wir auf dem Weg sind, empfiehlt sie, sein «Kreuz auf sich zu nehmen». Die religiöse Hoffnung bedeutet individualethisch also, sein Leben in seinen Begrenzungen anzunehmen und als Aufgabe zu begreifen, statt Benachteiligung und Verletzung in einem Opfer-Bild zu perpetuieren, was die Motivation lähmt und das Selbstbild schädigt.

 

Foto von Yaroslav Shuraev, Pexels

Zum «Opfer» vgl. den Beitrag «Opfer – Sinn und Missbrauch der Opfer-Frömmigkeit».

Zur «Nachfolge» vgl. den Beitrag «Die Versöhnung mit dem, was ich nicht ausgesucht habe». (Suchfunktion auf der Menüleiste)

Zur Geschichtsphilosophie vgl. Emil Angehrn, Geschichtsphilosophie, Berlin, Köln 1991.