Gefühl von Unwirklichkeit

Durch den Abschied bin ich aus der alten Welt herausgelöst, die neue ist noch nicht vorhanden. So bin ich empfänglich für alle möglichen Gefühle von Unwirklichkeit und Absurdität, wie es ein Blick in die Zeitungen ohnehin nahelegt mit ihren Bildern von Krieg und absichtsvoller Zerstörung. Dazu gehören Klimawandel und Artensterben, was nicht erledigt, aber von anderen, teils gegenläufigen Bestrebungen abgelöst worden ist.

Jeden Abend sieht man die Politiker, die auftreten und Lösungen versprechen. Es wirkt irreal, wie Puppen vor dem Vorhang, die für das Theater etwas aufführen und dann wieder hinter dem Vorhang verschwinden. Dabei werden ganz andere Wirklichkeiten vorgeführt und eingeschworen, je nach der Richtung, der jemand angehört oder der Partei, der der Fernsehsender nahesteht.

Was ist richtig? Was ist überhaupt nur real? Beim Frühstück sah ich ein Bild: ein Park, ein Kinderspielplatz, ein riesiger Bombentrichter irgendwo in der Ukraine, zehn Meter daneben sitzt eine Mutter mit ihrem Kleinkind auf einem Kinder-Karussell. Es ist absurd.

Gefühl von Unwirklichkeit
Das Irrealitäts-Gefühl kommt vielleicht nicht nur vom modischen Weltbild her, das immer mehr Dinge als blosse Konvention erklärt, was bisher als Faktum galt. Es kommt vielleicht auch von der Absurdität dieser Wirklichkeiten selbst, die das Leben in dieser Zeit nebeneinanderstellt. Vom einen zum andern führt kein Weg, keine Logik. Es ist der Zufall der Geburt. Daran haben wir uns schon lange gewöhnt, schon lange haben wir zugeschaut, wie die Menschen in Syrien bombardiert und die Flüchtlinge verfolgt wurden. Fassbomben, chemische Kampfstoffe … Assad konnte sein ganzes Arsenal ausprobieren. Die UNO war gelähmt durch die Veto-Mächte Russland und China. Der Rest der Menschheit hat zugeschaut. So auch in vielen andern Konfliktgebieten der Welt.

Seit Jahrzenten wird der Regenwald abgeholzt, seit Jahrzehnten weiss die Menschheit, dass sich das katastrophal auswirkt, seit Jahrzehnten schaut die Menschheit zu, weil die UNO hier offenbar keinen Entschluss fassen kann, weil sich niemand berufen fühlt, Verantwortung zu übernehmen, Brücken zu bauen, Anfänge zu setzen. Seit Jahrzehnten haben wir uns daran gewöhnt, immer nur Zuschauer zu sein. Wir selber waren ja nicht betroffen. So dürfen wir uns nicht wundern über das Irrealitäts-Gefühl, wenn hier Bomben niedergehen und zehn Meter daneben Kinder spielen.

Zuschauen
Das Problem ist nicht das Weltbild, das alles infrage stellt, im Gegenteil, das Gewissen ist intakt. Dass uns das irreal vorkommt, das beweist gerade, dass wir ein Wissen hätten, wie es sein müsste, aber es ist nicht so. Und wir sind einbezogen. Wenn wir entschieden genug handeln würden, würde uns das vor Zynismus und Irrealitätsgefühl bewahren. Wenn wir, und sei es auch nur in einer Symbolhandlung, unser Missfallen ausdrücken würden, dann würden wir unsern Glauben stärken und die Bindung an die Welt, wie sei sein müsste, nicht verlieren. Dann würden wir selber weniger in der Luft schweben. – Ja, da muss die Welt einem irreal vorkommen, wenn man den Boden nicht mehr unter den Füssen spürt.

Ist Solidarität nutzlos, wenn sie nichts nützt?
Was tun beim Flüchtlings-Problem? Früher dachte ich, Solidaritäts-Zeichen bei Grossproblemen nützten nichts, das sei nur gut gemeinte Ohnmacht. Das beschwichtige nur die „Helfer“ und nützen den Betroffenen nichts. Nachts begreife ich, als ich mich erinnere, wie es mir ging in meinen tiefsten «Löchern», in die ich gefallen war: Es ändert zunächst nicht viel, macht aber einen gewaltigen Unterschied.

Das Gesicht zeigen
Es ist für Menschen, die in den Abgrund schauen: dass sie wenigstens das Gesicht Christi sehen. Das macht den Unterschied aus von Verzweifeln oder Hoffen, von Untergang oder neuem Anfang. Es ist der erste Schritt für alles, was noch kommen kann. Ohne dass die Menschen für sich selber noch Hoffnung sehen, kann nichts wachsen.

 

Foto Ron Lach, Pexels