Simon, schläfst du?

Heute Morgen hab ich mir den Text zur Markuspassion angehört. In Erinnerung geblieben ist mir die Frage Jesu: «Simon, schläfst du?» (Mk 14,37). Ich will sie mit mir in den Tag nehmen. Ich fühlte mich ertappt. Die Frage trifft vieles, das mich ausmacht und mein Leben. Christus schwitzt Blut und ich schlafe. Die Menschen leiden bis ins Extrem und ich schlafe. Ich will schlafen. Ich schlafe nicht den Schlaf des Gerechten, ich stopfe mir die Augen und Ohren zu. Ich fühle mich überfordert von dem, was zu tun wäre, wenn ich wach wäre, wen ich hören würde, wenn ich sehen würde, wenn ich empfinden würde. So aber kann ich sagen, ich hätte geschlafen. Ich habe es nicht gewusst.

Das haben die Menschen immer vorgebracht, wenn die Nachgeborenen gefragt haben: Wie war das möglich? Habt ihr nicht eure Stimme erhoben? Habt ihr nicht protestiert, etwas getan?  – «Wir haben es nicht gewusst.» Selbst Pilatus wird in diese Trickkiste greifen: «Ich wasche meine Hände in Unschuld.» Er gibt die Schuld ab: Ihr verlangt seinen Tod, das müsst ihr verantworten. Er verkleinert seinen Anteil. Natürlich, sie haben ihm gedroht, eine Klage beim Kaiser einzureichen, wenn er nicht einwilligt. Aber so klein war der Spielraum wohl nicht, dass es nicht einen Unterschied gemacht hätte.

Die Simon-Frage
Das ist die Simon-Frage im Sinn von Ethik, Schuld und Zerknirschung, das ist das Blosslegen von Angst und Versagen, so wird später über mich der Prozess gemacht, wenn eine andere Generation kommt, im sicheren Abstand zur Situation in Gethsemane. Sie unterstellen selbstverständlich, dass sie das Richtige tun würden, dass sie keine Angst haben würden, sie sind ja sicher, sind gut aufgestanden, fühlen sich wohl in ihrer Haut. «Habt ihr nichts getan?» Und sie machen mir den Prozess.

So wie sie mir heute schon – anonymerweise – den Prozess machen, weil ich ein alter weisser Mann bin. Ich stehe für Kolonialismus, für Ausbeutung, für so viele Uebel, die aus der Vergangenheit herüberwirken. Denn ich bin einer der alten Generation, ich war dabei und habe es nicht verhindert. Ich habe davon profitiert, von all den Ungerechtigkeiten. So ist es nur gerecht, wenn man mir für meinen Anteil auch den Prozess macht. Und ich kann mein Nichtwissen nicht als Unschuld verkaufen, auch wenn ich mir keiner Schuld bewusst bin. Ich habe ja nichts getan. Aber die Preise waren für mich doch niedriger, weil ich in der ersten Welt lebe. Das Einkommen höher, die Chancen besser. Habe ich das alles selber verdient, was ich im Leben erreicht habe? Ist das meiste mir nicht einfach zugefallen, weil ich das Glück hatte, zur rechten Zeit auf dem richtigen Kontinent geboren worden zu sein?

Die Frage wird jetzt gestellt
Das ist auch das Einzige, was mich von Petrus in Gethsemane unterscheidet: Zeit und Ort. Ich bin 2000 Jahre später geboren, lebe an einem anderen Ort. Es sind nur zwei Eigenschaften, wenn ich sie negiere, stehe ich dort, wo Petrus stand. Und Christus liegt am Boden, ist verzweifelt und fragt Gott, ob er den Becher nicht an ihm vorbeigehen lassen könne. Und mit Christus leiden viele Menschen, heute und in der ganzen Welt. Man darf Zeit und Ort nicht überschätzen, es sind nur zwei Differenzen, nimm sie weg und wir alle stehen vor Christus. Und er fragt uns: Simon, schläfts du?

Ja ich schlafe. Ich meine, dass ich Christus nachfolge, aber von Vertrauen habe ich wenig gelernt. Da ist nur Heulen und Zähneklappern. Ich will nichts hören, ich halte mir die Ohren zu, die Augen, den Mund. Die drei Affen, das ist das Motiv meines Glaubens, nicht die Nachfolge Christi, die das ins Auge fasst, was vor ihr liegt.

Der arme Reiche
Heute Vormittag war ich mit dem Fahrrad draussen. Jetzt öffnen sich die Knospen, der Frühling kommt mit Macht. Dann war ich einkaufen, ging an grünen Wegrändern vorbei. Und bei uns, auf dem Rasen vor dem Haus leuchten Nester von Vergissmeinnicht. Es ist zauberhaft. Einen Moment lang denke ich, es sei bescheiden, sich über diese kleinen Blumen zu freuen. Dann begreife ich, ich bin nicht bescheiden, ich brauche die ganze Welt.

Wenn ich mich über diese kleinen blauen Blümchen freue, wie sie leuchten im Sonnenlicht, dann ist das eine ganze Welt. Ich brauche die Sonne dazu, die Erde, einen Kontinent und ein Klima in den gemässigten Breiten. Die Bedingungen sind gar nicht alle anzugeben und aufzuzählen, die es braucht, bis hier vor mir ein Nest mit Vergissmeinnicht blüht. Ich bin ein Angeber und Lügner, wenn ich mich da noch für bescheiden halte. Ja, ich fliege nicht auf andere Kontinente, ich mache keine Reisen in andere Klimazonen, wo noch ganz andere Pflanzen wachsen. Aber das ist dasselbe, ob tropische Riesenblumen oder kleine Vergissmeinnicht. Es braucht eine ganze Welt dazu. Und ich bin nicht bescheiden. Ich bin reich und reich beschenkt.

Jesus blickte ihn an
Das gilt vielleicht auch für das Verständnis der Frage: Simon, schläfst du? Vielleicht will Christus mich gar nicht demaskieren. Das kommt später noch, wenn ich ihn beim Prozess verleugne und der Hahn zweimal kräht. Vielleicht will das Evangelium nicht zweimal dasselbe sagen (dass ich ein Verräter bin), vielleicht hat diese Stelle eine eigene Aussage? Vielleicht darf ich mich an den Blick erinnern, den Jesus jenem Jüngling zuwarf: «Und er blickte ihn an und liebte ihn» (Mk 10,21). Zwar kommt nachher wieder die Aufforderung, das Kreuz auf sich zu nehmen. Aber vielleicht darf ich diesen Satz ernst nehmen, den besonderen Inhalt, bevor dieser vom Folgenden wieder eingeschränkt wird: Jesus blickte ihn an und liebte ihn.

Das war es wohl, was ich ahnte, als ich das Vergissmeinnicht ansah und begriff, dass ich reich bin, unendlich beschenkt. Auch ich lebe in seiner Blickrichtung, auch mich trifft sein Blick, auch von mir könnte man vielleicht sagen, dass Jesus mich liebt. Es ist nur mein eigener Widerstand, der es nicht zulassen will. Wieder spüre ich, was das bedeuten würde, mich von Gott geliebt zu halten. Es ist dasselbe wie vorher bei Petrus, der aus Angst nicht sehen wollte und sich schlafend stellte. Jetzt will ich mich nicht für geliebt halten, weil das ein Ritterschlag wäre, dem ich mich nicht gewachsen fühle. Ist es jenem Jüngling nicht auch so gegangen?

«Und Jesus sah ihn an und liebte ihn und sprach zu ihm: Eines fehlt dir. Gehe hin, verkaufe alles, was du hast, und gib’s den Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben, und komm, folge mir nach und nimm das Kreuz auf dich. Er aber ward unmutig über die Rede und ging traurig davon; denn er hatte viele Güter.» (Mk 10, 21f)

Gott macht den ersten Schritt
Der Widerstand kommt von seiner Seite. Gott ist bereit, Gott liebt ihn, Gott macht den ersten Schritt, er hat ihn schon gesehen, er hat ihn schon ins Auge gefasst, er hat ihm schon seine Liebe geschenkt. Wovor sollte er sich fürchten? Ist es das Geld, ist es der Reichtum? So denkt man, weil darauf der Spruch folgt vom Reichen, der nicht ins Reich Gottes kommt. Aber ich bin auch reich, ich bin beschenkt, von Gott beschenkt, und doch traue ich mich nicht, aufzustehen, den Schritt zu machen, ein Mensch zu werden, den man sieht, den man beurteilen kann, der ins Licht tritt, der sich beurteilen lässt, der aber auch den richtigen Weg sucht. Ich traue mich nicht, überhaupt mal erwachsen zu werden, ich ziehe mich zurück in Höhlen und Deckungen. Wenn ich mich nur ungeboren machen könnte!

Und er liebte ihn
Ich möchte es hören, was das Evangelium sagt. «Jesus sah ihn an und liebte ihn.» Ich möchte das Wort mit mir tragen, es vor mich halte am Morgen beim Aufstehen, am Abend beim Niederlegen und auch den ganzen Tag, wenn ich Gefahr laufe, mich zu verlieren. «Jesus sah ihn an und liebte ihn.»

Ich werde wieder Fehler machen, ich werde wieder zurückweichen, ich werde wieder in Heulen und Zähneklappern verfallen. Bin ich denn stärker als Gott, ist mein Widerstand grösser als seine Liebe? Ist meine Verzweiflung grösser als seine Barmherzigkeit, mit der er mich erlöst aus all diesen Fesseln und Gefängnissen?
Wie geht die Geschichte aus?

«Und Jesus sah um sich und sprach zu seinen Jüngern: Wie schwer werden die Reichen in das Reich Gottes kommen! Die Jünger aber entsetzten sich über seine Worte. Aber Jesus antwortete wiederum und sprach zu ihnen: Liebe Kinder, wie schwer ist’s, ins Reich Gottes zu kommen! Es ist leichter, dass ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, als dass ein Reicher ins Reich Gottes komme. Sie entsetzten sich aber noch viel mehr und sprachen untereinander: Wer kann dann selig werden? Jesus sah sie an und sprach: Bei den Menschen ist’s unmöglich, aber nicht bei Gott; denn alle Dinge sind möglich bei Gott.»

Simon, wach auf!
Ich möchte ihm nachfolgen, ich möchte seine Liebe glauben, ich will nicht schlafen, die Augen nicht zumachen, ich will hinsehen. Und wenn alles nichts nützt, wenn ich wieder versage und die Nachgeborenen über mich zu Gericht sitzen, dann will ich mich an Jesus klammern und mit ihm hineingehen. Denn «bei den Menschen ist’s unmöglich, aber nicht bei Gott; denn alle Dinge sind möglich bei Gott.»

Bei mir ist es vielleicht unmöglich, Jesus deutet diese Möglichkeit an, diese mögliche Unmöglichkeit, unmögliche Möglichkeit, dass ich am Leben vorbei lebe, dass ich das Ziel verpasse, dass ich alles in den Sand setze, dass mein ganzes Leben, auf das ich so viel Mühe und Sorge verwendet habe, im Nichts endet. «Bei den Menschen ist’s unmöglich.» Das entlastet mich, ich bin nicht der einzige Versager im Menschengeschlecht, der selbst Gott noch eine Abfuhr erteilt, wenn er kommt, wenn er sich erbarmt, wenn er die Hand ausstreckt und sich zu mir niederbückt. «Nein, ich kann nicht!» sage ich. «Bei den Menschen ist’s unmöglich», sagt Jesus, «aber nicht bei Gott; denn alle Dinge sind möglich bei Gott.»

So will ich vertrauen. Ich will es geschehen lassen, ich will den Mund zumachen. «Ich glaube, hilf meinem Unglauben!» «Bei den Menschen ist’s unmöglich, aber nicht bei Gott; denn alle Dinge sind möglich bei Gott.»

 

Bild: Duccio, Im Garten Gethsemane